Hans Küng schreibt gern und gut. Was er sagen will, kann er verständlich, wenn er meint, dass es sein muss, auch höchst dramatisch formulieren. Er schreibt gern dicke Bücher, die beiden wichtigsten sind jedoch einstweilen zwei handliche und vergleichsweise dünne Bände: "Unfehlbar? Eine Anfrage" (1970) und "Projekt Weltethos" (1990). Das neue dicke Buch gehört sicher auch zu seinen interessantesten, aber vielleicht nicht für jede und jeden. Küng beschreibt seine Erfahrungen in den Jahren 1968 bis 1980, vor allem Kontroversen dieser Zeit oder – so kann man das auch sehen – die eine ganz große Kontroverse, die sein Leben entscheidend veränderte.
Leserinnen und Leser, die Josef Ratzingers "Erinnerungen aus meinem Leben" (München 1997) gelesen haben, dürfen hilfreiche und wichtige Ergänzungen und neue Aspekte erwarten. Wer von alledem noch nie etwas gehört hat, muss selber herausfinden, wie und ob er/sie interessiert sein könnte. Dazu liefert der Autor eine gute Anleitung. Es gehört nämlich zu Küngs Art Bücher zu schreiben, dass er sehr sorgfältige und übersichtliche Gliederungen präsentiert. Das Inhaltsverzeichnis auf 8 1/2 Seiten ist allein schon – im wahrsten Sinne des Wortes – ein aufschlussreicher Text. Es gibt kaum jeweils einzeln inhaltlich überschriebene Abschnitte mit mehr als höchstens drei Seiten. Deshalb kann man das Buch nicht nur von Anfang bis zum Ende lesen, sondern auch ausgehend von interessanten Stichworten und Fragestellungen irgendwo anfangen.
Zum Beispiel mit der Beschreibung der Zuspitzung der Vorgänge, die 1979 zum Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis geführt haben. Küng hatte zuverlässige Gründe für die Annahme, dass die außer ihm elf weiteren Mitglieder der katholisch-theologischen Fakultät in Tübingen auf seiner Seite waren, weil sie das selbst erklärt hatten. Ein paar Wochen später aber haben sieben - also die Mehrheit – die Seiten gewechselt. Küng empfand das als Verrat, der ihn tief erschütterte. Das kann man ohne Einschränkung nachvollziehen. Aber wenn er später darüber ein Buch schreibt, – muss dann die Überschrift des Absatzes "Der Verrat der Sieben" heißen? Und müssen die sieben Namen genannt werden? Obwohl jeder, der es wirklich genau wissen will oder wissen muss – etwa für eine Dissertation – in bei Küng genannten Quellen genaueres nachlesen kann. Verrat ist ein sehr schlimmes Wort und unterstellt gezielt böse Absichten. Tatsächlich aber ging es vor allem um ein Nachgeben gegenüber bischöflichem Druck, was Küng selbst auch andeutet.
Das Verhältnis von Schrift und Tradition spielt bei Küng ebenso wie bei Ratzinger eine große Rolle. Küng sieht Ratzinger so: "Keine Frage: Ratzinger hat sich für eine Schriftauslegung entschieden, bei der ,die Tradition‘ und konkret das kirchliche Amt ,das entscheidende Wort‘ hat... Nicht die Kirche des Neuen Testaments interessiert ihn, sondern die Kirche der Väter (natürlich ohne Mütter)." Seine eigene Position fasst Küng hingegen zusammen als einen Versuch, seine "Theologie auf der Basis des Konsenses der Fachexegeten aufzubauen... Dass die nachbiblische Tradition und das Lehramt eine Stelle anders auslegt, kann zum kritischen Nachdenken anregen, rechtfertigt aber nicht ein Abweichen vom modernen historisch-kritischen Forschungsstand. So viel zu unseren unterschiedlichen Positionen.
Für den Rezensenten stellt sich die Sache so dar: Bei den beiden Vordenkern Küng und Ratzinger gibt es im Zusammenhang mit dem theologischen Superthema "Schrift und Tradition" einerseits Positionen, die als Entweder-Oder erscheinen sowie andererseits Positionen, die als Sowohl-als-auch zu verstehen sind. Aber nicht immer oder fast nie im gleichen Kontext. Das alles können für Küng keine neuen Gedanken sein. Aber könnte er dann nicht vielleicht ein bisschen mehr Verständnis für die durch Theologie nicht hinweg zu arbeitende Dialektik von Schrift und Tradition zeigen und das Gespräch – wenn es sein muss, auch den Konflikt – mit Ratzinger über genau diese grundsätzliche und nicht auflösbar scheinende Widersprüchlichkeit suchen? Küng weiß doch sehr gut, dass die Fülle der christlichen Glaubenswahrheiten nicht als ein stimmiger und vollständiger Kanon von Dogmen präsentiert werden kann und dass die ökumenische Differenz zwischen der Kirche von Rom und den Kirchen der Reformation nicht durch immer wieder neue Konsensformeln zu beheben ist. Gerade darin müssen doch wir in den reformatorischen Kirchen die ökumenische Bedeutung des "evangelisch gesinnten katholischen Christen und Theologen (wie er sich selber nennt) Hans Küng verstehen, dass er als weltweit geachteter Theologe von Rang Zugang zum Papst hat und dass es eine wechselseitig bezeugte Zuneigung der beiden wichtigen Spitzenleute aus dem gleichen Sprachraum gibt. Eine solche Konstellation hat es in der Theologie- und Kirchengeschichte seit der Reformation noch nie gegeben. Wünschen wir also den beiden alten Männern, dass ihnen noch viele gute Jahre und verständnisvoller Gedankenaustausch über zum Teil widersprüchliche Positionen geschenkt werden.
von Eberhard le Coutre
aus: der überblick 04/2007, Seite 124