Am 11. März in diesem Jahr hätte Helmuth James von Moltke möglicherweise seinen 100. Geburtstag feiern können. Seine Witwe, Dr. jur. Freya von Moltke, geborene Deichmann, inzwischen 96 Jahre alt, war zur Feier des Gedenkens an den hundertsten Geburtstag ihres Mannes im März wieder einmal aus ihrem Wohnsitz in Vermont, USA, wo sie seit mehr als 40 Jahren lebt, nach Berlin gekommen. In der "Süddeutschen Zeitung" vom 12. März 2007 wird über ein vitales, sehr eindruckvolles Gespräch mit der alten Dame, die über ein bemerkenswert gutes Gedächtnis verfügt, berichtet. Es nachzulesen lohnt sich und ergänzt das vorliegende Buch, dessen interessanteste Kapitel die ersten drei und die letzten beiden sind.
Wenn heute die Rede ist von deutschem Widerstand gegen das Naziregime wird vornehmlich an die Namen Bonhoeffer und Stauffenberg erinnert. Mit beiden Namen sind seit 1945 differenzierte Wirkungsgeschichten verbunden. Das hat bei Dietrich Bonhoeffer vor allem damit etwas zu tun, dass er ein Mann der Kirche war; – einer Kirche, in der es allerdings nach 1945 zunächst bei einer Reihe von führenden Leuten heute kaum noch verständliche Hemmungen dagegen gab, ihn als christlichen Märtyrer zu ehren und zu würdigen. Was Stauffenberg und seine Mitstreiter betrifft, so war die anfängliche Weigerung im quasi dafür "zuständigen" Milieu, also der 1956 entstandenen Bundeswehr, den militärischen Widerstand im Nazireich zu den ehrenwerten Traditionen des deutschen Militärs zu rechnen, sogar nahezu die Regel. Es dauerte einige Jahrzehnte, ehe sich das geändert hatte.
Anders als bei Bonhoeffer, bei Stauffenberg und deren jeweiligen Weggefährten gab es für Moltke und den Kreisauer Kreis nach 1945 keine gleichsam selbstverständliche Zielgruppe für das Entstehen einer bemerkenswerten Wirkungsgeschichte. Das soll jedoch nicht bedauert werden. Im Gegenteil, wer sich die Mühe macht, das nicht in allen Teilen leicht zugänglich geschriebene neue Buch von Günter Brakelmann von vorne bis hinten aufmerksam zu lesen, wird begreifen können, dass es gerade bei Helmuth von Moltke als großer Vorteil angesehen werden muss, dass es für ihn keine Deutungshoheit beanspruchende und ergreifende Verinnerlichungsinstitution gibt. Etwas pathetisch gesagt: Er gehört allen und zu allen und kann Leitbild werden für die verschiedensten Gruppierungen, Persönlichkeiten und – wovon man heute so gern redet – Vermittler von Werten.
Genau genommen kann nicht einmal "Widerstand" als Schlüsselbegriff gelten für das, was Moltke seit seiner Studentenzeit bewegt hat. Was er eigentlich wollte, waren ein neuer Politikstil und neue Ziele für Politik. Es ging ihm schon sehr früh um ein neues Verständnis von Europa, um liberale und demokratische Strukturen, um Dialog und Zusammenarbeit, um "ein humanes Europa ohne imperialistische Ansprüche und ideologischen Zwang". Das deutsch-nationale Milieu seiner adligen Herkunft war nichts, was ihn motivieren konnte und begegnete ihm auch nicht bei seinen Eltern. Moltke entwickelte ihm schon früh attestierte Fähigkeiten, neue Ziele und Aufgaben zu erkennen und Lösungswege zu entwerfen sowie die dafür geeigneten Weggefährten zu finden und zu motivieren. Die erste Bewährungsprobe für den Jurastudenten in dieser Hinsicht waren die Schlesischen Arbeitslager. Es waren die katastrophalen Verhältnisse in der Region, in der er lebte, die ihn zu einem wesentlichen Beweger werden ließen für drei Arbeitslager in den Jahren 1928 bis 1930. Der entscheidende Mentor wurde Eugen Rosenstock, damals Professor in Breslau (Mehr dazu in der 2006 neu erschienenen Sammlung von Schriften von E. Rosenstock-Huessy, Unterwegs zur planetarischen Solidarität im agenda-Verlag Münster; vergl. die Rezension in "der überblick" 3/2007).
Als nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, die Moltke von Anfang verabscheute und denen er misstraute, sein bereits eingeübtes und an konkreten Zielen orientiertes politisches Handeln sich dann in eine Richtung entwickelte, die man später "Widerstand" zu nennen begonnen hatte, da war das für Moltke – im Gegensatz zu vielen anderen – prinzipiell keine neue Orientierung sondern Festhalten an dem, was er immer schon gewollt und getan hatte. "Der junge Moltke formulierte bereits 1929 in Ansätzen ein politisches Konzept, das die Parteiendemokratie der Weimarer Republik aufbrechen sollte, um der praktischen Mitverantwortung des Bürgers in Selbstverwaltungsorganen vor Ort und in der Region Raum zu geben und damit ein Gegengewicht zur Übermacht der zentralistischen Staatsorgane zu schaffen. Das von Moltke vertretene Prinzip von Selbstregierung und Selbstverwaltung durch eine aktive Bürgerschaft ist nicht erst im Widerstand zum nationalsozialistischen System entwickelt worden, sondern wurde schon in der Republikzeit formuliert."
Damit ist eigentlich auch bereits die Methode der Wirkungen und des Zusammenhalts des Kreisauer Kreises skizziert. Brakelmann beschreibt sehr ausführlich, mit welcher Sorgfalt – nächtelange Gespräche, unbequeme Reisen, konkrete Entwürfe und immer wieder Briefe – Moltke darum bemüht war, die "richtigen" Leute zusammenzubringen, ihnen Aufgaben zuzuweisen und neue Anregungen und Informationen in die unbedingt auf Vertrauen, Geheimhaltung und Verschlüsselungen angewiesene Personengruppe einzubringen und für deren Ziele zu nutzen. Das ging zwar nicht ohne Kontroversen, andauernde Richtungskämpfe und schmerzhafte Trennungen. Aber nie gab es Verrat, das heißt, dem verhassten System gelang es nicht, Kontaktleute einzuschleusen.
In einem seiner letzten Briefe an seine Frau aus den Tagen des Prozesses (das ist einer der Briefe, die für die Erarbeitung dieser Biografie erstmals von Freya v. Moltke zur Verfügung gestellt worden sind), fasst Moltke zusammen, was die entscheidenden Männer des Kreisauer Kreises bewegte. Dabei gelingt es ihm, seinem grimmigen Hohn über Freisler sarkastischen Ausdruck zu verleihen: "Wir haben nur gedacht,...Und...vor den bloßen Gedanken hat der NS eine solche Angst, dass er alles, was damit infiziert ist, ausrotten will. Wenn das nicht ein Kompliment ist...Vivat Freisler."
Aus der neuen Biografie wird auch an vielen Beispielen deutlich, wie Widerstand bei Moltke und anderen funktionierte. Sie alle hatten ja für damalige Verhältnisse normale Berufe und Aufgabenbereiche. Moltke war seit September 1939 im Amt Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) dienstverpflichteter Sachverständiger für Völkerrecht, internationales Recht und Kriegsrecht. Dass das Deutsche Reich damals kein Rechtsstaat war, wusste er natürlich schon lange, trotzdem musste immer wieder versucht werden, Elemente von Rechtmäßigkeit und Menschenrechten zu retten. "Aber mit Zähigkeit und einer gewissen Raffinesse gelang selbst jetzt noch das eine oder andere Vorhaben." Wilhelm Wengler, einer der Hauptgesprächspartner Moltkes im OKW schreibt in seinem zweibändigen Werk "Völkerrecht", Berlin 1964: "Nur wenige wissen noch, wie der meist nur im Zusammenhang mit dem Kreisauer Kreis genannte Graf Moltke während des Zweiten Weltkrieges im OKW bemüht war, die deutsche Wehrmacht auch unter dem Nationalsozialismus zur Einhaltung des Kriegsvölkerrechts und zur Unterlassung unnötiger, wenn auch legaler Härten zu veranlassen... Die Atmosphäre, in der sich jene Tätigkeit Moltkes in den verschiedenen Phasen des Krieges abspielte, ist dem, der sie nicht miterlebt hat, heute kaum noch verständlich zu machen..."
Genug zitiert. Es ist ein notwendig gewordenes Buch. Es ist ein gutes Buch. Es ist ein Buch über die Härte und Brutalität der Verfolgung von gläubigen Christen und eigenständigen Denkern im Dritten Reich. Ein Buch, hilfreich auch zur seriösen Erstbeschäftigung mit Nazidiktatur und Zweitem Weltkrieg. Und es ist ein Buch mit einer Fülle von weiterführenden Anmerkungen zu den Themen Widerstand und neuere deutsche Geschichte.
Wie bereits angedeutet, das Buch ist stellenweise etwas mühsam zu lesen, manche Zusammenhänge werden nicht richtig deutlich. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass der Verfasser – seit Jahren ein ausgewiesener Kenner des deutschen Widerstandes und seiner führenden Leute – mehr über Moltke weiß, als er auf 430 Seiten unterbringen konnte. In seiner Einleitung weist Brakelmann darauf hin, dass er sich für Kürzungsvorschläge zu bedanken hat. Deshalb die Empfehlung an den Verlag, bei – hoffentlich nötig werdenden Neuauflagen – ein bisschen großzügiger zu sein. Dazu konkret die folgenden Vorschläge:
- Während der Haft hat Moltke mindestens zwei Briefe an seine Söhne geschrieben. Der eine über seine Kindheit vom Jan./Febr. 1944 ist im wesentlichen vollständig abgedruckt worden. Das sind die anrührendsten Seiten des ganzen Buches überhaupt; mindestens die sollte jeder lesen, der den Band in die Hände bekommt, – und sei es nur beim Durchblättern in der Buchhandlung. Aus einem zweiten Brief vom Oktober 1944 an seine Söhne wird kurz zitiert. Auch diesen Brief sollte man vollständiger lesen können.
- Es wird bei Brakelmann sehr deutlich, wie konkret und zentral der christliche Glaube für Moltke besonders in der Haftzeit geworden und bis zum Ende geblieben ist. Eine Reihe von dafür wichtigen Bibelstellen werden benannt. Das könnte auch sonst ungeübte Bibelleser dazu motivieren, genauer wissen zu wollen, was für den Gefangenen aus Kreisau so wichtig wurde, dass er es auswendig gelernt hatte. Nun leben wir aber in einer Zeit, in der allein die Angabe von Schriftzitaten kaum ausreicht für eigenständige weitere Bemühungen (wer weiß schon noch, was beispielsweise die Abkürzung "Spr." bedeutet?). Deshalb die dringende Bitte, die vergleichsweise wenigen Bibelstellen (insgesamt wahrscheinlich kaum mehr als zwei Seiten) voll auszudrucken.
Erschwerend hinzu kommt noch Folgendes: Zwei Textangaben sind falsch. Auf S. 320 unten muss es heißen: 1. Korinther 15, 56 (nicht: 1. Kor. 15,5 b). Und das so genannte "Lob auf die tüchtige Hausfrau" ( S. 333) steht nicht Spr. 30, 10-31, sondern Sprüche 31, 10-31.
- Selbst Leute wie Julius Leber, Eugen Gerstenmeier, Adolf Reichwein sind kaum noch bekannt. Eine wesentliche Hilfe für die Lesbarkeit, besonders für Neueinsteiger in die Widerstandsliteratur, könnte es daher ferner werden, wenn die etwa 15 bis 20 wichtigsten Kontaktpartner für Moltke in einem Anhang mit Kurzbiografien (etwa acht bis zehn Zeilen wären schon viel) vorgestellt würden, so dass man auch während der Lektüre immer mal wieder nachschauen könnte.
Einige abschließende Anmerkungen. Wer Helmuth Moltke und seinen Kreisauer Kreis einmal sozusagen abstrakt betrachtet, also ohne die Situation der konkreten brutalen Gefährdung mit einzubeziehen – das muss ja erlaubt und möglich sein – dem legen sich einige weiterführenden Betrachtungen nahe.
Erstens: Für die Kreisauer war Telefonieren nicht nur höchst gefährlich, sondern auch sehr umständlich (nur vom Amt vermittelte Ferngespräche), die Medien waren unzureichend und kontrolliert. An Fax, Handy, Internet und Email war noch gar nicht zu denken. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – war effiziente Kommunikation über höchst diffizile und sensible Sachverhalte möglich. Allein das nötigt zu hohem Respekt.
Zweitens: Das System Kreisau funktionierte auf der Basis von einzelnen Individuen, die einander vertrauen konnten, auch wenn sie unterschiedlicher Meinungen waren. Sie entschieden in eigener Verantwortung und mit eigenem Gewissen, nicht nach Gruppenpalaver und veröffentlichten Abstimmungsverhältnissen in entsendenden Gremien.
Drittens: Was man gemeinsam besprechen und formulieren wollte, dazu musste man sich Zeit nehmen, unangenehme Reisebedingungen akzeptieren, und es gab keine Dienststelle für die Einreichung zur Abrechnung von Reisekosten.
Viertens: Ist das, was wir heute Medienkultur nennen, mit Talkshows, möglichst sofortigen Ergebnismeldungen und permanenten Umfragen über alle und alles wirklich ein Fortschritt für die politische Kultur gegenüber dem Modell Kreisau?
Fünftens: Ein bisschen Kreisau gibt es zum Glück noch überall. In den Kirchen, in den Parteien und Gewerkschaften, in der Wissenschaft, im Sport, in der Wirtschaft und im Kulturleben. Aber zu oft wird genau dieser kreative Rest an Misstrauen gegenüber kollektiv abgesicherten Entscheidungen als "Kungelei" diffamiert – und zuweilen sogar mit respektablen Gründen. Was können wir tun, um die Bereitschaft zu verstärkt ohne Medienbegleitung seriös wahrgenommener und gewissenhafter Eigenverantwortung und eigenem Denken zu stärken?
Sechstens: Es gibt eine Fülle von gewichtigen Problemen und offene Fragen, die von den etablierten politischen Institutionen zwar erkannt, aber nicht wirklich bewältigt werden können. Zum Beispiel: Verhältnis zwischen Kirchen und Islam in Europa. Legale Möglichkeiten zur hemmungslosen und keiner Öffentlichkeit verstehbaren Anhäufung von Kapital und wirtschaftlicher Macht bei Wenigen. Weltweite militärische Interventionen ohne erkennbare Wirkungen und überzeugende demokratische Legitimation. Terrorismusbedrohungen überall, aber keine überzeugenden Gegenstrategien. Die Liste ist verlängerbar.
Könnte es heute noch Leute aus ganz unterschiedlichen Herkünften geben, die ohne Medienbegleitung, ohne Fremdmittelbeantragung, ohne Rechtfertigungszwänge vor irgendeiner Basis vertrauliche Kontakte über die Grenzen von Ländern und Kulturen hinweg zu pflegen bereit und in der Lage sind mit dem Ziel der Erarbeitung von Vorschlägen für neue globale Konstellationen, die vielleicht noch gar nicht deutlich erkennbar sind, aber nach allen Erfahrungen plötzlich Realität werden können?
von Eberhard le Coutre
aus: der überblick 04/2007, Seite 124