Die Kritik von Friedrich Wilhelm Graf wird der Grundsatzerklärung von "Brot für die Welt" nicht gerecht.
In seiner Grundsatzerklärung "Den Armen Gerechtigkeit 2000" erhebt "Brot für die Welt" gar nicht den Anspruch, Globalisierung wissenschaftlich zu deuten. Das Werk hilft – ganz praktisch und im Dialog mit seinen Partnern – den Armen und Ausgegrenzten dabei, selbst an der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu arbeiten. Vom Staat erwartet "Brot für die Welt" aber, dass er Freiräume für Entwicklung schafft, statt sie zu be- und verhindern.
von Cornelia Füllkrug-Weitzel
Kritik ist "Brot für die Welt" stets willkommen, denn sie hilft uns, die eigene Arbeit zu verbessern. Der vorstehende Artikel von Professor Friedrich Wilhelm Graf ist dagegen weder dialog- noch erkenntnisfördernd. Eine Debatte steht noch aus.
Ausgehend von einer "polemischen Fundamentalkritik" Daniel Deckers, in der dieser dem deutschen Protestantismus autoritäre Staatsnähe unterstellt, konstatiert Friedrich Wilhelm Graf, dass "selbstkritische Reflexion" angesagt sei, weil man bei einer Bilanz der sozialpolitischen Verlautbarungen aus fünfzig Jahren EKD "erstaunliche Kontinuitätslinien zum alten staatsnahen Sozialpaternalismus entdecken (kann)... Die Eigenverantwortung der Individuen und die Selbstorganisationskräfte der Gesellschaft treten demgegenüber zurück."
Wer nun allerdings die selbstkritische Reflexion dieser These erwartet, sieht sich getäuscht. Der ganze Anlauf dient leider nur der – in Frageform gekleideten – Suggestion, dass die konservative Staatsgläubigkeit des Protestantismus "bloß nach links hin, zugunsten der Sozialdemokraten umgepolt worden" ist. Und damit meint der Autor, für sich den geeigneten Rahmen gefunden zu haben für eine willfährige Kritik an "Brot für die Welt".
Dazu hat er sich freilich den falschen theoretischen Bezugsrahmen ausgesucht. Denn Ansatz und Praxis von "Brot für die Welt" sind gerade nicht von Staatshörigkeit und der Erwartung, dass Staaten die Probleme lösen, geprägt, sondern umgekehrt davon, die Eigenverantwortung der Individuen und die Selbstorganisationskräfte der Gesellschaften im Süden zu stärken. Die Auseinandersetzung von "Brot für die Welt" mit den Regierungen im Süden zielte bisher und zielt weiterhin darauf ab, den Staat davon abzuhalten, diese gesellschaftlichen Kräfte zu behindern, zu entmündigen und zu verfolgen. Auf der anderen Seite fordern wir seit Jahrzehnten von den Regierungen des Südens und von der Entwicklungszusammenarbeit der eigenen Regierung, dass sie die Zivilgesellschaft als entscheidende Kraft im Entwicklungsprozess anerkennen und fördern. Das beinhaltet die Erwartung an den Staat, dass er der Zivilgesellschaft einen Spielraum gewährleistet, diesen verteidigt und vor gewaltsamen Eingriffen schützt. Der Staat soll die Rahmenbedingungen setzen und sie entschieden verteidigen, in denen Entwicklung durch Selbsthilfebemühungen der Bevölkerung möglich ist.
Eigentlich müsste zwischen zwischen F. W. Graf und "Brot für die Welt" über die Frage diskutiert werden, welchen gesellschaftlichen Kräften und Individuen vom Staat vorrangig "freie Bahn" und Entfaltungsmöglichkeiten einzuräumen sind, um Armut wirkungsvoll zu bekämpfen: den transnationalen Konzernen oder den Organisationen der armen Bevölkerung. "Brot für die Welt" ist Advokat der "Ärmsten der Armen" und sieht in völlig entfesselten Marktkräften keine Lösung, weil wir eben keinen Beleg dafür finden, dass weltweit dereguliertes, sozial nicht gebändigtes Profitstreben zur Armutsbekämpfung geeignet sein könnte. Die Erwartung eines trickling down- Effekts, dass Wohlstand von oben nach unten durchsickert, musste schon vor über 20 Jahren verworfen werden.
In der Tat sehen wir – auch durch die Veränderungen nach dem Ende des Kalten Krieges und in Zeiten der Globalisierung – keinerlei Anlass, von unserer Option und unserem Eintreten für die Rechte und Partizipationsmöglichkeiten der Armen und Marginalisierten Abstand zu nehmen, denn dies ist und bleibt unser Auftrag. Wenn der Autor dieses Festhalten an unserem vorrangigen Ziel Selbstzufriedenheit und Lernunfähigkeit nennt und die biblische Option für die Armen als einen unmodernen, moralisch-ethischen Fundamentalismus empfindet, so mag dies mehr über ihn aussagen, als dass es "Brot für die Welt" zum Nachteil gereichte. Wenn er die Positionen des Konziliaren Prozesses, auf die wir uns – neben der Bibel – als Grundlage berufen, überholt findet, dann ist dies eine Auseinandersetzung, die innerhalb der Christenheit – der Gemeinden und kirchenleitenden Gremien in Deutschland – zu führen und nicht an "Brot für die Welt" polemisch abzuhandeln ist.
Uns von unserem Mandat und seinen ethischen Grundlagen zu verabschieden, sehen wir weder eine Veranlassung, noch haben wir das Recht dazu. Unsere Positionen entwickelten wir auf der Erfahrungsbasis, über die eine Organisation wie "Brot für die Welt" verfügt, die Arbeitsbeziehungen zu Partnern in derzeit über 60 armen Ländern unterhält. Die wirtschaftliche Globalisierung und ihre Wirkungen geben bisher keinen Anlass, uns künftig vom Fokus unseres Handelns abzubringen: Armut, Not, Elend und soziale Ausgrenzung prägen noch immer das Leben vieler Menschen im Süden. In dem Positionspapier "Den Armen Gerechtigkeit 2000" geht es nicht um analytische Deutungskompetenz dessen, was Globalisierung bewirkt, oder gar um eine Würdigung der wissenschaftlichen Diskussion. Es geht vielmehr erklärtermaßen um die Reflexion der praktischen Erfahrungen und die Ausgestaltung der Aufgaben von "Brot für die Welt" durch die Praktiker, nämlich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von "Brot für die Welt". Sie tun dies im Kontakt und Dialog mit den Partnern. Ein Anspruch auf wissenschaftliche Analyse der Globalisierung wird gar nicht erhoben. Darum ist der Teil der Situationsbeschreibung notwendig kurz und darin wohl auch verkürzt. Was bringt F. W. Graf dazu, den Charakter eines Positionspapiers so zu verkennen?
"Brot für die Welt" geht bei der Wahrnehmung der Realität von der Situation, den Problemen und Interessen der Zielgruppen der Arbeit aus, das heißt, von der Situation der marginalisierten und schwächsten Bevölkerungsgruppen. Wir stehen an der Seite der ländlichen Armen und der städtischen Armutsbevölkerung, die von den Globalisierungsgewinnen nicht profitieren. Die Probleme der durch die ökonomische Globalisierung (vielleicht) begünstigten neuen mittelständischen Sozialgruppen sind von anderer Art. Wir polemisieren freilich auch nicht gegen diese mittelständischen Gruppen, es wird auch nirgends bestritten, dass es einigen Ländern im Zeitalter der Globalisierung besser geht als früher: Es gibt einige wenige Staaten, in denen "Brot für die Welt" nicht mehr aktiv ist, weil dank allgemeiner Anhebung des Wohlstandes die einheimischen kirchlichen, gesellschaftlichen und staatlichen Programme für die Armutsbekämpfung so wirksam sind, dass "Brot für die Welt" nicht mehr benötigt wird. Dies betrifft indes nur wenige Länder. Unsere Aufgabe ist es aber, darauf hinzuweisen, dass sich gerade die Lage der Armen in zahlreichen Regionen der Welt noch verschlechtert (dass dazu mittlerweile auch Mittel- und Osteuropa gehört, wird nicht bestritten, freilich auch nicht besonders gewürdigt, da Europa bedauerlicherweise außerhalb des Mandates von "Brot für die Welt" liegt). Die Ärmsten der Armen, mit denen und für die wir arbeiten, beispielsweise die Minderheiten der Dalits oder der Adivasis in Indien, sind auch heute noch kaum in der Lage, Greencards zu beantragen. Wir sind froh, in zahlreichen Fällen in Indien die Lebenslage der Armen verbessert zu haben. Diese haben allerdings kaum etwas mit den zehn Prozent zu tun, die für Greencards infrage kommen.
Dass es dem Autor der Fundamentalkritik an "Brot für die Welt" nicht um ehrliches Aufzeigen von Fehlwahrnehmungen und Irrtümern geht – die auch bei Brot für die Welt möglich sind -, sondern um grotesk vereinfachende Polemik, zeigt die Unschärfe seiner eigenen Begrifflichkeiten. Er spielt mit Anspielungen, die sich aus dem Text nicht ergeben, und suggeriert, dass die Autorinnen und Autoren undifferenziert gearbeitet haben. So zum Beispiel am Ende des Absatzes mit dem Fundamentalismus: "Sind diesen Minderheiten fundamentalistische Identitäten erlaubt?" Damit werden Menschenrechte und Minderheitenrechte völlig undifferenziert mit fundamentalistischen Einstellungen gleichgesetzt.
Der Autor fragt ferner, "ob mögliche Spannungen zwischen den vielen einzelnen Forderungen zureichend bedacht worden seien. Oder hat man versucht, sie mit vagen Begriffen und diffusen Formulierungen zum Verschwinden zu bringen, weil... niemand – auch ›Brot für die Welt< nicht – gleichzeitig ein universalistisches Menschenrechtsverständnis, starke Rechte ethnischer beziehungsweise kultureller Minoritäten und eine Kritik der harten 'fundamentalistischen' Identitätskonstruktionen vertreten kann?" Der Autor bleibt den Nachweis schuldig, dass "Brot für die Welt" dies versucht hat. Hier konstruiert Friedrich Wilhelm Graf sich selbst sprachlich die Zusammenhänge, die er dann "Brot für die Welt" unterstellt, vermutlich, um Brot für die Welt Realitätsverlust oder wenigstens Widersprüchlichkeit vorwerfen zu können. Das von "Brot für die Welt" formulierte Leitbild sei im entscheidenden Punkt widersprüchlich: einerseits werde eine unbedingte globale Verbindlichkeit allgemeiner (klassisch westlich gedeuteter) Menschenrechte eingeklagt, und andererseits werde allen möglichen kollektiven Subjekten in Gesellschaften "des Südens" ein Grundrecht auf Wahrung partikularer Identität(en) zuerkannt.
Was will der Autor damit suggerieren? Einerseits wohl "westlichen Kultur- und Werte-Imperialismus" – aber dann hat sich Friedrich Wilhelm Graf noch nie ernsthaft mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen befasst und sich deren universalen Leiderfahrungen mit Unterdrückung, Verfolgung und Ausrottungspolitiken gestellt. "Brot für die Welt" arbeitet erklärtermaßen auf der Grundlage der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" und der weltweit anerkannten Menschenrechtsverträge und nimmt für sich in Anspruch, diese unter größten Opfern erkämpften Errungenschaften der Menschheit trotz all ihrer Widersprüche, die sie natürlich wie alle menschlichen Konstrukte zu eigen haben, zu verstehen und mitzutragen und sich für ihre Verwirklichung trotz aller Schwierigkeiten einzusetzen. Muss man den Autor wirklich erst daran erinnern, dass Menschenrechte und Minderheitenrechte die Antwort auf vielfachen Völkermord sind, damit er sich behutsamer und weniger polemisch mit diesem Thema befasst?
Die Autorinnen und Autoren des Positionspapiers jedenfalls waren und sind sich des aufgezeigten Spannungsverhältnisses durchaus bewusst und haben sich – von ihrem Kritiker aber nicht wahrgenommen – auch dazu geäußert: In Ziffer 140 wird darauf hingewiesen, dass die Arbeit von "Brot für die Welt" selbst den Keim des Konflikts in sich trägt. "Die Arbeit für mehr Gerechtigkeit ... ist unumgänglich eine Aufgabe, die nicht immer konfliktfrei zu bewältigen ist. ..." Von daher die nachfolgende Warnung an die eigene Adresse, nicht konfliktverschärfend einzugreifen, sondern Kräfte zu stärken, die für eine gewaltvermeidende Konfliktlösung arbeiten.
Die Praxis konfrontiert uns immer wieder mit diesen Widersprüche, und in dieser Praxis ist der Versuch zu machen, die Widersprüchlichkeit aufzulösen. Das gibt auch Grund zur Bescheidenheit. Freilich gilt auch das: Begreift und interpretiert man die Dynamik des Kampfes um die Menschenrechte in ihrer historischen Dimension, so rächt es sich immer wieder, wenn die Staatengemeinschaft Minderheiten alleingelassen hat, die mitunter jahrzehntelang, in der Frühphase meist gewaltfrei, für ihre Identität und mehr noch für den Schutz ihrer Landrechte und ihre Entwicklungsmöglichkeiten im weiten Sinne gekämpft haben. Dies führt zu Verbitterung, Desillusionierung, Entwertung aller Werte und zum Heranwachsen von Generationen, die ihre Zuflucht in radikalen Ideen und Taten suchen. Das ist keine Entschuldigung für derartige Taten, sondern ein Ansatz, der sie verstehen und dadurch zu verantwortlichem Handeln führen soll. So kann man es nachlesen in der Thesenreihe zur Gewalt, veröffentlicht von der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD.
Es ist notwendig, mit allen möglichen und legitimen Mitteln dazu beizutragen, dass Menschen versuchen, Probleme politisch und nicht gewaltsam zu lösen. Der Autor wirft "Brot für die Welt" vor, sich mit der "Proklamation des Universalismus der Menschenrechte unter den gegebenen Bedingungen faktisch an der Verschärfung von Konflikten zu beteiligen". Die Universalität der Menschenrechte wurde von den Vereinten Nationen proklamiert und auf der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien von 173 Regierungen feierlich bestätigt. Und überall auf der Welt berufen sich Männer und Frauen auf ihre Menschenrechte.
F. W. Graf sollte hier besser unterscheiden. Altväterlich fügt er dann hinzu: "Guter Wille allein reicht nicht. Wir bedürfen auch der selbstkritischen Einsicht, dass die Komplexität und Widersprüchlichkeit der von der dritten kapitalistischen Revolution verwandelten Welt auch die Wohlmeinenden in Widersprüche treibt". Dem ist nicht zu widersprechen. Allerdings stellen sich die Autorinnen und Autoren von "Brot für die Welt" im Gegensatz zu ihrem Kritiker in ihrer Praxis und in ihrem Positionspapier durchaus dieser Komplexität und Widersprüchlichkeit. Das ist in der Grundsatzerklärung an vielen Stellen ausformuliert.
aus: der überblick 03/2000, Seite 93
AUTOR(EN):
Cornelia Füllkrug-Weitzel:
Cornelia Füllkrug-Weitzel ist seit dem 1. Januar 2000 Direktorin der Hauptabteilung Ökumenische Diakonie im Diakonischen Werk der EKD und damit auch für "Brot für die Welt" zuständig.