Wo man in Gräbern lebt
Die Straße ist nur einspurig. "Wir fahren jetzt in die Totenstadt. Diesen Friedhof gibt es schon lange, solange wir denken können." Gamal kennt hier jeden Weg. Er ist in der Totenstadt im Osten Kairos am Fuße des markanten Mokattamgebirges geboren und aufgewachsen.
von Christoph Burgmer
Zusammengedrängt sitzen wir in dem kleinen gelb lackierten Fiat. Die Fenster sind heruntergelassen, um etwas Fahrtwind in den überhitzten Innenraum des Taxis hereinzulassen. Schon im Mai glüht in Kairo an manchen Tagen zur Mittagszeit die Erde. Lässig lässt der bärtige Taxifahrer die Hand aus dem Fenster baumeln, ab und zu nimmt er einen Zug aus seiner Zigarette, während er gekonnt die metertiefen Schlaglöcher umfährt. Gamal gibt ihm Anweisungen, wie er zu fahren hat. Ich bin mit dem 35-Jährigen auf dem Weg zu dem Haus seiner Eltern. Alleine würde man sich in dem Gewirr von Straßen und Gassen schnell verirren, denn auch in der Totenstadt gibt es kaum Straßenschilder.
"Dies ist das Mausoleum des Sultans Tuman Bey. Diese Straße hier führt zum Wazir Tor und zur Zitadelle, das hier ist die Sultan Ahmad Straße." Gamal gibt mir eine kostenlose Führung. Auf für einen Westler ungewohnte Weise verbindet er in seiner Schilderung die sozialen Probleme mit dem islamischen Totenkult. Für ihn besteht darin kein Widerspruch. "Die Straßen sind nicht asphaltiert und die Abwasserrohre liegen über der Erde, weil die Regierung erst jetzt damit begonnen hat Leitungen zu verlegen. Denn die Leute brauchen immer dringender eine Kanalisation. Manche wohnen schon seit 60, 70 Jahren hier, andere sind erst vor einem Jahr gekommen. Jedes dieser Gebäude wird noch als Grab genutzt, auch wenn darin Leute wohnen. Wenn ein Begräbnis stattfindet, versammeln sich alle Einwohner des Hauses in dem Raum, der am weitesten von der Grabkammer entfernt liegt. Sie empfangen die Besitzer des Grabes danach im Hof, dann wird, während der Beerdigungszeremonie, aus dem Koran gelesen. Danach gehen die Besitzer des Grabes wieder nach Hause. Sie haben ein Interesse daran, dass die Leute dort wohnen bleiben, damit nichts gestohlen wird."
Grabbesitzer und Bewohner verbindet dieses gemeinsame Interesse. Denn immer wieder bekommt man Geschichten über Grabräubereien erzählt. Die medizinischen Fakultäten der Universitäten, so ein hartnäckiges Gerücht in der Totenstadt, sollen auch heute noch auf diese Art und Weise an Leichen zu Studienzwecken kommen. Beweisen lässt sich das nicht. Vielleicht wird in diesem Gerücht aber auch nur die Erfahrung weitergegeben, die die ersten Bewohner dieses Viertels vor einigen Jahrzehnten machten. Damals lag die Totenstadt am Stadtrand. "Dieser Teil hier heißt El Mugawarin, der Teil dort oben heißt El Ghafir und ein anderer Teil heißt Shuhadaa, dort sind die Märtyrer bestattet. Früher wurden dort die Gefallenen aus den Kriegen begraben, sie haben die gefallenen Soldaten zusammengesammelt und verscharrt. Heimlich haben sie dort im Krieg die Soldaten hingebracht. Es gibt in den Grabanlagen große Gärten." Damals galt die Totenstadt als gefährliche Wohngegend, Straßenüberfälle und Plünderungen waren an der Tagesordnung. Das hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten verändert.
Heute liegt das Viertel zentrumsnah, denn schon längst hat sich Kairo durch illegalen Wohnungsbau bis weit in die Wüste hinein ausgedehnt. Aber auch das Gesicht der Totenstadt hat sich dramatisch verändert. "Diese Moschee", sagt Gamal, "wurde über einem Grab gebaut. Sie haben erst ein Stockwerk darauf gesetzt, dann ein zweites und ein Gemeinschaftszentrum sowie eine Klinik eingerichtet. Dies da vorne ist eine kleine Schule, aber ursprünglich war es der Hof eines Grabes. Vertreter der Azhar Universität haben sich mit den Besitzern des Grabes in Verbindung gesetzt, die ihnen dann die ganze Fläche überlassen haben. Der Bau der Schule wurde mit Spenden finanziert, zum größten Teil aus Saudi-Arabien." Die Totenstadt ist sicherlich das ungewöhnlichste Wohnviertel Kairos. Die Besiedlung des mittelalterlichen Friedhofes begann während des Ersten Weltkriegs, als Kairo zum Versorgungszentrum britischer Truppen wurde und einen Wirtschaftsboom erlebte. Am Ostrand der Stadt entstanden zunächst zahlreiche Kleinbetriebe. Heute leben in der Totenstadt etwa 150.000 Menschen. Aber niemand weiß genau, wie viele es tatsächlich sind.
Die Totenstadt ist nicht nur deshalb ein besonderes Stadtviertel, weil Lebende und Tote so eng beieinander wohnen, wie sonst nirgendwo in der islamischen Welt. Sondern auch deshalb, weil der Staat und die Grabeigentümer das Eigentumsrecht vieler zugezogener Bewohner inzwischen anerkannt haben. Eine sonst unübliche Praxis für die zahlreichen so genannten "informellen" Viertel.
Grundlage ist ein auch heute noch gültiges Gesetz, das nach dem Krieg gegen Israel 1973 erlassen wurde, als Zehntausende Menschen aus der umkämpften Region des Suez-Kanals nach Kairo und Alexandria flohen. Es besagt, dass man nach 15 Jahren Besetzung von einem Stück Land dessen Eigentümer werden kann. Bis zu dieser Zeit war die Totenstadt eine noch relativ ruhige Kairoer Stadtlandschaft, geprägt durch mittelalterliche architektonische Meisterwerke wie das weithin sichtbare Grabmahl des Imam Schafii, des Begründers einer der vier sunnitischen Rechtsschulen. Dann begann die Inbesitznahme der Gräber durch die Flüchtlinge. Umbauten, Anbauten und Aufbauten folgten, so dass die Totenstadt heute den Eindruck eines ganz normalen Stadtviertels vermittelt.
Ausländer sind in der Totenstadt nicht erwünscht. Die oberste nicht ausgesprochene ägyptische Regierungsdevise lautet, dass das "Gesicht Ägyptens" im Ausland positiv darzustellen ist. Über die Armut, die alltägliche, überlebensnotwendige Praxis der Kinderarbeit und die fehlende Infrastruktur soll nicht geredet werden. Ja, in der öffentlichen Wahrnehmung der Regierung existieren diese informellen Viertel bis heute gar nicht. Obwohl viele Gräber religiösen Stiftungen gehören und dem Awqaf-Ministerium (Stiftungsministerium) unterstehen.
Mir ist klar, dass nur der etwas über die Geschichte der Totenstadt und das Leben ihrer Bewohner erfährt, der über persönliche Kontakte verfügt, die über Jahre gewachsen sein müssen. Denn das Vertrauen zu dem Besucher ist die einzige Sicherheit der Gastgeber. Jeder Besuch von Ausländern zieht unangenehme Fragen der Nachbarn und sonstiger Personen nach sich. Gamals Familie jedoch ist selbstbewusst. Sie gehört zu den ersten, die hier siedelten.
Gamal ist stolz darauf, Eigentümer eines umgebauten Grabhauses zu sein. In sein Elternhaus gelangen wir über eine, direkt hinter der Eingangstür gelegene kurze, mehrstufige Treppe. Unvermittelt befinden wir uns in einer Art Empfangshalle, etwa zwei Meter unter der Straße. Während der freundlichen Begrüßung bemerke ich die angenehm- erfrischende Kühle der Halle. Sie steigt deutlich spürbar von dem später betonierten Boden auf. Trotzdem ist die Luft frisch, was daran liegen mag, dass die Decke des großen Raumes fast zehn Meter hoch ist. Von außen war dies nicht zu erkennen, auch nicht, dass es drei weitere Räume gibt, deren Decken jedoch niedriger sind. Die Wohnungseinrichtung ist karg. Einige wenige grobe gearbeitete hölzerne Kommoden, Stühle und Tische, von der Decke baumelt an einem langen Stromkabel eine nackte Glühbirne. Tageslicht dringt nur wenig durch die weit oben gelegenen fensterartigen Öffnungen in den Raum. Fatima, Gamals Mutter, wohnt hier zusammen mit ihrer 80-jährigen, pflegebedürftigen Mutter, zwei Schwestern Gamals und seinem Bruder. Sie fordert mich auf, auf einem Feldbett, das eilig aus einem weiteren Raum herbeigeschafft wurde, Platz zu nehmen und bietet mir Coca Cola, Plätzchen und Tee an.
"Mein Großvater", sagt Fatima, "war der erste, der in diesen Teil der Totenstadt kam. Er verließ sein Dorf und hat dann, wie es alle machen, andere Verwandte nachgeholt. Mein Großvater war für das Grab verantwortlich. Und als er starb, übernahm mein Vater das Grab und jetzt wir. Aber wir begraben hier die Verstorbenen nicht, wir wohnen hier nur. Es kommen andere Männer, die das Grab öffnen, den Toten begraben und das Grab wieder verschließen. Wir sind nur dafür verantwortlich, den Hof zu öffnen, sauber zu machen, Stühle zu bringen und den Hof in der Sommerhitze mit Wasser zu besprengen. Vorher wohnte in dieser Gegend niemand. Dann kamen immer mehr Leute und es wurden Straßen gebaut, Strom und Wasser wurden gelegt. Als wir hier herzogen, gab es weder Licht noch Gas, und man hat sich gefürchtet, selbst während des Tages aus dem Haus zu gehen. Heute ist die Straße auch die ganze Nacht hindurch befahren."
Die Frauen sitzen unverschleiert um den niedrigen Tisch. Die füllige 60-jährige Fatima ist schon seit über zehn Jahren Jahre Witwe und heute in besonders guter Stimmung. Gestern Abend hat ihre zweite Tochter Naim einen Bademeister geheiratet, der eine Anstellung in einem Touristenhotel auf der Sinaihalbinsel gefunden hat. Bald wird Naim das Haus verlassen und zu ihrem Mann ziehen. Die geschickte Familienpolitik Fatimas hat der Tochter eine sichere Zukunft eingebracht. Darauf ist sie stolz. Trotzdem hat sie Angst vor den Veränderungen: "Es hat sich so viel geändert. Früher arbeiteten hier viele als Hariri - sie stellten die Seidengürtel her B, die man früher getragen hat. Andere verarbeiteten Baumwolle zu Stoffen, die für die Kleider der einfachen Leute verwendet wurden, manche arbeiteten als Fahrer, Maurer oder Mechaniker. Jeder hatte ein Handwerk, die Leute arbeiteten nicht nur im Friedhof. Heute lernen die Kinder dagegen etwas, finden eine Anstellung oder studieren sogar. Früher konnten nur wenige Leute lesen und schreiben. Das ist heute besser und deshalb schicken wir unsere Kinder alle auf die Schule. Aber wir mussten dafür sehr viel opfern. Meine Tochter hat auf der Azhar Universität Sprachen studiert. Sie ist Übersetzerin für Hebräisch. Alle meine Kinder sind auf die Azhar Universität gegangen, bis auf Gamal."
Als Fatima darauf besteht, dass sich weder kurze Röcke noch Lippenstift für ein Mädchen schicken, und das man früher niemals vor einer Hochzeit zum Friseur gegangen sei, beginnt eine laut geführte Diskussion über Ausbildung, Arbeit und die Einhaltung religiöser Vorschriften. Ein ständig wiederkehrendes Thema in vielen ägyptischen Familien, insbesondere in der Totenstadt. Es ist eine Art "private" Ursachenforschung für die Tatsache, dass das Realeinkommen der Ägypter in den letzten Jahren ständig zurückgegangen ist. Arbeitslosigkeit und eine fehlende Zukunftsperspektive verstehen viele Gläubige als Folge der Nichtbeachtung religiöser Vorschriften im Privatleben. Mit Kritik an der politischen Situation und der Verantwortung der Politiker an der Misere hält man sich zurück.
Die Diskussion wird durch ein Klopfen an der Holztüre unterbrochen. Ein 12-jähriger Junge mit verschwitztem, ölverschmiertem Gesicht fragt nach einem Glas Wasser. Es ist der Lehrling aus der gegenüberliegenden Autowerkstatt. Ich nutze die Gelegenheit und Frage Gamal, ob er mir das Grab zeigen kann. Wir folgen dem Lehrling auf die ungeteerte Straße nach draußen. Während Gamal mit einem riesigen, antiquarisch anmutenden Schlüssel die schwere Metalltüre zum hinter dem Wohnhaus liegenden Garten öffnet, wirbelt uns eine Windböe den heißen Straßensand ins Gesicht.
"Dies ist der Eingang zum Grab. Vom Haus aus gibt es keinen Zugang. Den Guavenbaum dort in der Mitte des Vorhofes hat mein Vater gepflanzt, dahinter steht eine Palme und hier vorne wächst eine Bitterorange. Hier in diesem Raum befinden sich die vier Grabmäler. Sie sind aus altem Marmor, wie man ihn auf dem Markt heute nicht mehr findet. Die Räume sind sehr hoch. Das schafft eine angenehme Atmosphäre für die Besucher der Toten, weil man vor der brennenden Sonne geschützt ist. Dieser Schrein hier ist aus altem Holz. Hier ist Karima begraben, die Tochter des Paschas Ali Youssef. Der Besitzer des Grabes wohnt natürlich woanders, vielleicht in Zamalek, Mohandessin oder in Garden City, ich weiß es nicht genau." Ahmad, der jüngere Bruder Gamals ist uns nach draußen gefolgt. Der 29-jährige Universitätsabsolvent wirkt deprimiert. In dem religiös-moralischen Umfeld der Totenstadt verspricht nur eine Heirat und Kinder Anerkennung in der Gesellschaft. Ohne Arbeit und eigene Wohnung ist die Gründung einer Familie aber fast aussichtslos. "Das ist die Schuld der Regierung, alle Versprechungen von Wirtschaftswachstum durch Privatisierung waren gelogen", flüstert er mir zu. Viele junge, gut ausgebildete Bewohner der Totenstadt müssen sich inzwischen als Gelegenheitsarbeiter verdingen oder verdienen ihr Geld als fliegende Händler auf dem nahe gelegenem Chan el Chalili, dem größten Bazar Afrikas. Dass sie weiter in der Totenstadt leben können, ist nicht sicher. Denn auch hier ist der Wohnraum inzwischen knapp geworden. "Ich werde dort nach einer Wohnung suchen, wo billige Wohnungen zu finden sind. Ich habe keine Wahl. Sonst würde ich nach Zamalek ziehen, eine gute und teure Gegend, aber dazu fehlt mir das Geld. Heute kann man in Vierteln wie Salam City oder Boulaq El Dakrour, in Marg oder Mokattam nach Wohnungen suchen. Billigere Wohnungen gibt es auch noch in Dar El Salam, denn dort gibt es viele neue Häuser oder in Waraq. Das ist jedoch weit weg. Mein Bruder hatte Glück. Er hat eine Wohnung in der Nähe gemietet. So bleibt die enge Bindung an die Familie erhalten. Ich werde jedoch, wie viele andere, keine Wahl haben und unser Viertel verlassen müssen."
Wir sind wieder auf die Straße getreten. Gamal hat den Grabhof ordnungsgemäß verschlossen, sein Bruder den Schlüssel der Mutter zurückgebracht. Da wirbelt ein abgedunkelter Wagen, gefolgt von einigen vollbesetzten Taxen den Staub der Straße auf. Die Pkw-Karawane sucht sich ihren Weg durch die engen Gassen des Viertels. Hin zu einem bewohnten Grab, wo dessen Bewohner schon alles für die anstehende Beerdigungszeremonie vorbereitet haben. Niemand achtet darauf. Es ist zu alltäglich. Ein fester Bestandteil des Lebens in der Kairoer Totenstadt.
aus: der überblick 02/2003, Seite 19
AUTOR(EN):
Christoph Burgmer :
Christoph Burgmer ist Islamwissenschaftler und Iranist; er arbeitet als Journalist und Autor für die ARD.