Die Grenzen von Staat, Wirtschaftsraum und Gemeinschaftsbewusstsein sind nicht mehr deckungsgleich
Spielen staatliche Grenzen in der heutigen Weltordnung noch eine bedeutende Rolle? Auf der einen Seite wird erbittert um Grenzen gekämpft, werden bestehende Grenzen ausgebaut und befestigt sowie neue gezogen. Auf der anderen Seite werden Grenzen immer durchlässiger und vielfach auch illegal überschritten. Der Menschenschmuggel ist zu einem globalen Geschäft geworden. Sind das Anzeichen für den Zerfall oder eher für die Beständigkeit der staatlich-territorialen Ordnung - trotz globaler Verflechtung und Kommunikation?
von Lothar Brock
Karl Otto Hondrich hat im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg geschrieben, die Bewegung der modernen Welt hin zu einem System nationaler Staaten sei alles andere als abgeschlossen. Es gehe in der Moderne darum, "die Grenzen der Staaten mit denen der jeweiligen Kultur" zur Deckung zu bringen. Folglich befinde sich keinesfalls der Westen mit seinem Eintreten für die Einheit Restjugoslawiens im Einklang mit der Geschichte. Das treffe vielmehr für "die verfeindeten Völker und Diktatoren des Balkans" zu. Die Politik des Westens sei deshalb zum Scheitern verurteilt: "Gegen die Mächte, die zur kleinsten Nationsbildung drängen, ist die größte Militärmacht machtlos". Aber auch weil das Zusammenleben von sechs Milliarden Menschen unterschiedlicher Interessen, Herkunft, Sprache und Religion nicht durch die "Aufhebung und Verwischung von Grenzen" möglich sei, sollte, so Hondrich, der Westen sich dieser Bewegung nicht entgegenstellen.
Eine ganze Reihe von Indizien scheint dafür zu sprechen, dass heute tatsächlich eher die Vollendung der nationalstaatlichen Ordnung als ihre Überwindung auf der Tagesordnung der Weltpolitik steht. Was zu Beginn des Jahrhunderts mit dem Zerfall der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn begann, hat sich mit der Auflösung der Kolonialreiche in Afrika und Asien fortgesetzt und durch den Zusammenbruch des Realsozialismus neue Dimensionen erreicht: Der Nationalstaat ist zum allgemeinen Ordnungsmodell geworden. Aus dieser Perspektive erscheint es nur logisch, dass auch das politische Kunstgebilde Jugoslawien dem Druck der Veränderungen nicht standgehalten hat, ebenso wenig wie die ebenfalls im Gefolge des ersten Weltkrieges geschaffene Tschechoslowakei. In gleicher Weise scheint es ins Bild zu passen, dass der Separatismus im indonesischen Inselreich zunimmt und selbst in westlichen Industrieländern wie Spanien, Kanada und Großbritannien teils sehr militant um neue Grenzen gestritten wird.
Hinzu kommt, dass die Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen (UNCLOS) in den achtziger Jahren bis dahin frei zugängliche Gewässer für die Aufteilung als 200-Meilen Wirtschaftszone unter die Meeres-anrainer-Staaten freigegeben hat; dass die letzten bisher nicht territorial aufgeteilten Räume wie das Amazonas-Gebiet nunmehr genau vermessen und demarkiert werden, also die gesamte Erde Territorialstaaten zugeordnet wird; und schließlich, dass gerade die am weitesten fortgeschrittenen Länder ihre Grenzen befestigen, Kontrollen in Grenzgebieten verstärken und neue hart umkämpfte Grenzräume entstanden sind. Mit den neuen Grenzen sind hier die Einreise- und Transitbereiche der internationalen Flughäfen gemeint, die eine Verlängerung der Außengrenze nach innen darstellen. Diese Außengrenzen im Inneren von Staaten haben es in sich: Merham Karimi Nasseri, ein politischer Flüchtling aus dem Iran, lebte elf Jahre lang im Transitbereich des Charles de Gaulle-Flughafens von Paris, weil seine Papiere, die ihm eine Weiterreise nach Belgien ermöglicht hätten, verloren gegangen waren.
Als Beispiel für die Befestigung und den Ausbau bestehender Grenzen seien hier die Grenzen der USA gegenüber Mexiko und Kanada genannt. Paradoxerweise steht der Ausbau dieser Grenze im Zeichen der wirtschaftlichen Integration im Rahmen der Nordamerikanischen Freihandelszone. So war es vor der Unterzeichnung des NAFTA-Vertrages beispielsweise für die Bewohner von Ciudad Juarez sehr viel leichter, in ihre am andern Ufer des Río Bravo del Norte (Rio Grande) gelegene Schwesterstadt El Paso zu gelangen, als heute. Inzwischen sind die Kontrollen an der gesamten Grenze unter dem Schlagwort Operation hold the line verstärkt worden und die Grenze selbst hat sich von einer Linie in einen fünfzig Meilen breiten Grenzraum verwandelt. Zwischen San Diego und Tijuana an der Westküste wurden mächtige Zäune und Stahlwände gebaut. Vor denjenigen, die dennoch die Grenze überwinden, wird an den grenznahen Straßen gewarnt wie bei uns vor nächtlich wechselndem Wild. Seit einiger Zeit wird nun auch die Kontrolle an der grünen Grenze nach Kanada verschärft, um die Einreise von Terroristen über Kanada zu unterbinden. Damit würden Grenzbefestigungen geschaffen, wie es sie in den USA noch nie gegeben hat.
Die Staaten der Europäischen Gemeinschaft (EU) stehen in dieser Hinsicht den USA nicht nach. Durch das Abkommen von Schengen sind die Kontrollen an den inneren Grenzen aufgehoben, dafür aber die an der gemeinsamen Außengrenze verschärft worden. Außerdem ist - wie in den USA - an den äußeren Grenzen eine Flächenfahndung eingeführt worden. So sind die Außengrenzen der EU heute "breiter" als je zuvor. Richard Wagner hätte es heute nicht so leicht wie im 19. Jahrhundert, seinen Gläubigern in Russland durch einen illegalen Grenzübertritt zu entkommen. Zumindest hätte er wesentlich mehr zahlen müssen - und zwar nicht an einen mürrischen Einzelgänger, sondern an eine rabiate Schlepperbande.
Kein Wunder, so könnte man sagen, dass Territorialgrenzen in den vergangenen Jahren zu einem interessanten Studienobjekt der Sozialwissenschaften geworden sind - von der politischen Geografie über die Ethnologie, Politologie und Soziologie bis zur Geschichtswissenschaft. Dabei geht es zum einen um die Frage nach der einschließenden und ausschließenden Wirkung von Grenzen. Diese Frage hat insbesondere in Verbindung mit dem Thema Flucht, Wanderarbeit und Einwanderung an Bedeutung gewonnen. Während Hannah Arendt in der Nachkriegszeit auf das Schicksal der Staatenlosen in der modernen Staatenwelt aufmerksam machte, geht es heute vor allem um Staatsbürger, die sich auf Dauer in einem anderen als ihrem Heimatland aufhalten. Hannah Arendt hat darauf verwiesen, dass der Einzelne nur in der Gestalt des Staatsbürgers rechtlich anerkannt wird und volle Rechte genießt. Heute stellt sich die Frage nach dem Recht und der Identität von Menschen mit "falscher" Staatsbürgerschaft. Im Schicksal beider Menschengruppen spiegelt sich die ungebrochene Kraft territorialer Zuordnung in der modernen Welt.
Zum Zweiten werden neue Grenzziehungen heute zunehmend unter dem Gesichtspunkt der Konfliktlösung behandelt. Die internationale Gemeinschaft geht im Allgemeinen von der Vermutung aus, dass bestehende Grenzen legitim sind und - abgesehen von einvernehmlichen Grenzkorrekturen - nicht infrage gestellt werden sollten. Es gilt der Grundsatz uti possidetis ("wie ihr besitzt"; siehe den Artikel von Jörg Fisch in diesem Heft). Aber gerade dieser Grundsatz, der dazu dienen sollte, Territorialkonflikte bei der Entkolonisierung abzuwehren, indem er die Kolonialgrenzen festschrieb, wird heute wegen der Willkür kolonialer Grenzziehung vielfach als Quelle gewaltsamer Konflikte gesehen. Die Organisation der Afrikanischen Einheit ist deshalb dem Grundsatz des uti possidetis untreu geworden und hat die Trennung Eritreas von Äthiopien anerkannt. Mit um so größerem Nachdruck fordern die Bewohner der ehemals von Spanien kolonisierten Westsahara, dass ihnen endlich das Recht auf Selbstbestimmung gegenüber Marokko zugestanden wird. In beiden Fällen besteht der Anspruch, Territorialität und "nationale Identität" zur Deckung zu bringen. In der neueren Literatur zum Thema wird unter diesem Gesichtspunkt über ein Recht auf einen separaten Staat diskutiert.
Folgt aus all dem, dass die heute zur gleichen Zeit geführte Debatte über Globalisierung, Denationalisierung und Entgrenzung nur eine Chimäre ist? Keineswegs!
Grenzen haben in der Geschichte der Menschheit ganz verschiedene Formen und Funktionen gehabt. In den "Grenzenlosen Landschaften des Neolithikums", in der Jungsteinzeit also, waren Siedlungen durch unbesiedelte Landstriche von einander getrennt. Bei der Markierung von Flächen ging es deshalb kaum darum, sich nach außen abzugrenzen, sondern darum, Innenräume zu schaffen, die dem sozialen Zusammenhalt der Gruppe dienten. Andere Markierungen waren eine Art Tätowierung der Landschaft durch Großzeichnungen, Ringe und Wälle, deren Sinn bis heute nicht entschlüsselt ist. In der antiken Welt der Stadtstaaten erhielten die "Innenräume" der vorstaatlichen Zeit eine doppelte Außenseite: Zum einen grenzten sich die Städte untereinander ab, zum andern schufen sie eine Grenze zwischen sich und der Barbarei.
Ovid hat später aus römischer Sicht diese Grenze, die er im Exil erlebte, beschrieben: "Mich hält ein Land, das versengt wird von dem härtesten Frost, nordwärts bleiben noch Bosporus, Don und die skythischen Sümpfe, wenige Namen dann noch, Orte, die kaum noch bekannt. Darüber hinaus ist nichts als unbewohnbare Kälte: Wie nahe ist mir das Ende der Welt." Ovid freilich war an den Rand eines Reiches verbannt worden, dass sich nicht nur auf Orte erstreckte, sondern auf eine gewaltige, infrastrukturell erschlossene Fläche, die durch eine klare Markierung nach außen gegenüber der Barbarei abgegrenzt war. Als die Autorität des Zentrums über diese Fläche gegen Ende der Antike verfiel, entstand in Europa eine unordentliche Ordnung sich überschneidender Grenzregime. Zoll-, Rechts- und Territorialgrenzen überlappten sich im Mittelalter und waren einem raschen Wandel unterworfen - abhängig davon, wie sich die über das Lehenswesen vermittelten Loyalitäten und das Kriegsglück der Parteien entwickelten. Stadtstaaten existierten in der frühen Neuzeit neben Personenverbandsstaaten und Vorläufern der späteren Flächenstaaten wie Dänemark, England und Frankreich. Der späte Versuch Kaiser Karls V. (1500-1556), diese in einem neuen europäischen Großreich zusammenzufassen, scheiterte. Stattdessen bildete sich das moderne System der Territorialstaaten heraus.
Worauf gründete deren Sieg gegenüber den anderen Ordnungsformen? Das oft angeführte Argument, der Territorialstaat habe mehr Ressourcen für den Krieg mobilisieren können als seine Rivalen, reicht für die Beantwortung dieser Frage nicht aus. Wichtiger war, dass sich die sozialen Kräfte der beginnenden Moderne im Territorialstaat besser entfalten konnten. So schreibt Hendrik Spruyt bezogen auf den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit: "In einer wenig konturierten Welt von sich überschneidenden Jurisdiktionen und Grenzen sahen sich die Kaufleute beständig mit neuen, unvorhersehbaren Hindernissen konfrontiert. Feste Grenzen und eine einheitliche Jurisdiktion waren dementsprechend der unordentlichen Ordnung des mittelalterlichen Feudalismus vorzuziehen. Der Raum musste geordnet werden." Die Kaufleute, so fährt er fort, hätten ein exaktes Zeitmaß gebraucht, sie seien an Rechtssicherheit und einer Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten interessiert gewesen. Und sie brauchten ein Umfeld, in dem Verträge in der Erwartung abgeschlossen werden konnten, dass sie auch eingehalten würden. Auf einen Punkt gebracht: Der moderne Territorialstaat mit seinem staatlichen Gewaltmonopol und einem einheitlichen Rechtssystem bot neue Entwicklungsmöglichkeiten, die von der Wirtschaft und der Politik genutzt werden konnten. Die Wirtschaft sparte Transaktionskosten für Tauschvorgänge, Beurkundungen und dergleichen, und der Staat erfreute sich wachsender Staatseinnahmen.
Im Absolutismus war dabei die Wirtschaft der Politik, also dem Staat, untergeordnet. Das hat anfangs ganz gut funktioniert, war aber auf die Dauer offensichtlich nicht durchzuhalten. Denn der Absolutismus mit seiner durch Staatseingriffe geprägten Wirtschaftspolitik des Merkantilismus wurde zu einer neuen politischen Schranke der wirtschaftlichen und der geistigen Entwicklung. Die geistigen Einengungen wurden in der Aufklärung und der französischen Revolution aufgebrochen. Gegen die Bevormundung der Wirtschaft durch den Absolutismus formierte sich der Widerstand von zwei Seiten her - dem britischen Liberalismus und der kontinentaleuropäischen Kritik an der Verschwendung von Wirtschaftsressourcen für die militärische Machtentfaltung des absolutistischen Staates. Adam Smith argumentierte, dass mit fortschreitender wirtschaftlicher Entwicklung und unter den Bedingungen der Industrialisierung jeder erdenkliche Kriegsgewinn geringer wäre als die möglichen Gewinne, die durch Krieg vereitelt würden. Immanuel Kant steuerte zur damaligen Debatte das Argument bei, dass sich die wirtschaftliche Vernunft des Friedens erst unter den Bedingungen der Demokratie Bahn brechen könne.
Die meisten Friedenspläne der Aufklärung appellierten an das wohlverstandene Eigeninteresse der Monarchen, von denen einige auch gar nicht abgeneigt waren, sich auf solche Überlegungen einzulassen. Im Gegensatz zur Einschätzung des Kant-Schülers Friedrich Gentz war das Entwicklungspotenzial feudalistischer Territorialstaatlichkeit aber begrenzt. Erst der bürgerliche Staat, der sozusagen in England gezeugt worden war, in den Revolutionen in den USA und Frankreich das Licht der Welt erblickt hatte und im Laufe des 19. Jahrhunderts an die Stelle des alten Feudalstaates trat, schöpfte das Entwicklungspotenzial des Territorialstaates voll aus. Er tat dies, indem er zwei Dinge miteinander verband, nämlich die Liberalisierung der Wirtschaft mit der Verwandlung der Bevölkerung eines Territoriums zur Nation. Die Erfindung der Nation schuf einen inneren Zusammenhalt der Bevölkerung, wie er bis dahin nicht bestanden hatte. Dieser Zusammenhalt half, Kosten bei der Ausübung der Staatsgewalt zu senken, und verstetigte die staatlichen Steuereinnahmen. Das wiederum kam der fortschreitenden Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur und damit der privaten Wirtschaftstätigkeit zugute, die überdies von der Liberalisierung profitierte.
Goethe erkannte die französische Landesgrenze deshalb sehr weitsichtig als Epochengrenze. Aber gerade die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in Westeuropa und Nordamerika auf der einen Seite, in Deutschland und Italien auf der anderen, trug mit dazu bei, dass die - militärisch überzogene - Abgrenzung nach außen und der Wettlauf um die Aufteilung der Erde unter den europäischen Staaten die Neugestaltung des Innern der Gesellschaften überlagerte; denn die Französische Revolution trat in Deutschland ja nicht nur als geistig-politische Bewegung in Erscheinung, sondern auch als militärische Besatzungsmacht. Diese Ungleichzeitigkeit hat zwar nicht direkt zu den beiden Weltkriegen und zu Faschismus und Stalinismus geführt. Aber Faschismus und Stalinismus haben in erschreckender Weise verdeutlicht, auf welch' schwankendem Boden sich der Fortschrittsglaube und die Friedenshoffnungen der Aufklärung und dann wieder des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entwickelt hatten. Erst mit dem Sieg der Alliierten über den Faschismus und begünstigt durch den Ost-West-Konflikt wurde der westliche Nationalstaat zum vorherrschenden Modell kollektiver Selbstorganisation. Dieses Modell hat sich schließlich auch der realsozialistischen Reichsidee der Sowjetunion als überlegen erwiesen: Mit der Entkolonisierung und dem Zusammenbruch des Realsozialismus hat das westliche Modell auch im Süden und im Osten zumindest ansatzweise die Transformation geprägt.
Aber der zum Nationalstaat geläuterte Territorialstaat ist seinerseits keineswegs das Ende der Geschichte. Im Gegenteil: Das alte Spiel scheint sich zu wiederholen. Die nationalstaatliche Ordnung, die die Dynamik der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung in nie dagewesener Weise gesteigert hat, scheint gerade wegen ihres Erfolges zu einer neuen Schranke für die Fortführung eben dieser Entwicklung geworden zu sein. Zwar zeichnet sich eine Alternative zur nationalstaatlichen Ordnung noch nicht ab, aber die Risse und Brüche in dieser Ordnung sind kaum noch zu übersehen.
Noch bevor der Realsozialismus zusammenbrach, war auch der territorial "eingebettete Liberalismus" (so der Politikwissenschaftler John Ruggie) der Nachkriegszeit in die Krise geraten. Pauschal könnte man argumentieren, dass das Nachkriegsmodell an seinem eigenen Erfolg scheiterte. Es setzte eine Entwicklungsdynamik in Gang, die über die Regelungen, auf denen sie beruhte, hinausdrängte, hinaus unter anderem über die Kontrolle der Außenwirtschaftsbeziehungen, die der Maximierung von Wohlstand innerhalb des Territorialstaates dienen sollten. Die neue Entwicklungsdynamik zeigt sich darin, dass Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Nation - auf das Territorium bezogen - immer weniger als deckungsgleich erscheinen: Die Wirtschaft ist in erheblichem Umfang globalisiert, die Grenzen der Gesellschaften sind nicht mehr identisch mit der als Nation begriffenen politischen Gemeinschaft, und der Staat hat grenzübergreifende Bürokratien in Gestalt internationaler Organisationen geschaffen, um Verluste an territorialer Handlungskompetenz auszugleichen.
In gewissem Sinne ist diese Entwicklung eine Wiederholung der sich überlappenden Grenzen des Mittelalters. Zwar bestehen nach wie vor klare Territorialgrenzen. In diesen bündeln sich aber nicht mehr die anderen erwähnten Grenzen. Die Volkswirtschaft oder Nationalökonomie existiert nicht mehr in der Weise, wie sie noch im Bretton Woods-System am Ende des zweiten Weltkrieges konzipiert worden war (die Konferenz von Bretton Woods legte unter anderem durch Einführung des Systems fester Wechselkurse die Grundlage für den Wirtschaftsaufschwung nach dem Krieg; Anm. d. Red.). Und das Selbstverständnis der Nation ist in allen westlichen Ländern durch die Migration infrage gestellt worden. Mehr als in den großen Migrationsströmen des 19. Jahrhunderts bilden sich heute mit Hilfe der modernen Kommunikationsmittel transnationale Gemeinschaften zwischen Einwanderungs- und Herkunftsländern heraus. Darüber hinaus melden sich etwa in Spanien, England, Kanada und Frankreich "Nationen ohne Staat" zu Wort, die nicht unbedingt einen eigenen Staat anstreben, sondern sich selbst unabhängig von einem eigenen Staat als global player verstehen. Montserrat Guibernau, Politikwissenschaftlerin an der britischen Open University, sieht in diesem Sinne voraus, dass die westeuropäischen Nationalstaaten in absehbarer Zeit selbst zu Nationen ohne Staat in einem umfassenden, demokratischen Raum Europa werden.
Aus dieser Sicht geht es also nicht überall in der Welt, wo es zu "ethno-nationalistischen" Konflikten kommt, darum, Nationen und Staaten zur Deckung zu bringen und insofern die Moderne als allgemeine Kleinstaaterei zu vollenden. Abgesehen davon, dass der sogenannte Ethnonationalismus sich immer wieder als ideologische Verbrämung banaler Interessenpolitik erweist, haben wir es auch mit Ansätzen einer postmodernen Entwicklung zu tun, die über die territorialstaatliche Ordnung der Nationalstaaten hinausweist. Das "Europa der Regionen", die Aufwertung von Städten und Verwaltungseinheiten wie Départements oder Bundesländern zu globalen Akteuren und nicht zuletzt die transnationale Verflechtung von Gesellschaften über die eben erwähnten Migrationsgemeinschaften können allesamt als Träger einer solchen postmodernen Entwicklung verstanden werden. Gerade in den am weitesten fortgeschrittenen Ländern ist das seit Jahren zu beobachten.
Der oben erwähnte Ausbau von Grenzen bedeutet also nicht die Bekräftigung von Territorialstaatlichkeit, sondern ist ein Versuch, deren Auflösung in geordnete Bahnen zu lenken. So stehen die Erhöhung und Verbreiterung der Grenze zwischen den USA und Mexiko nicht im Widerspruch zur Einrichtung der nordamerikanischen Freihandelszone; sie stellen vielmehr begleitende Maßnahmen der wirtschaftlichen Integration dar. Dem entspricht, dass der am stärksten befestigte Grenzabschnitt, nämlich der zwischen San Diego und Tijuana, zugleich der Abschnitt mit der höchsten Zahl legaler und illegaler Grenzübertritte in der ganzen Welt ist.
Mit Blick auf die Migranten aus Mexiko wird zuweilen von einer Rückeroberung Kaliforniens gesprochen. Das ist jedoch irreführend. Obwohl ganze Landstriche - vor allem in und um San José - inzwischen "mexikanisch" sind, geht es keineswegs um einen Wiederanschluss an Mexiko. Es geht vielmehr um die Selbstbehauptung mexikanischer Migranten in einem sich entwickelnden amerikanischen Raum, der sich mit dem Begriff von Nation nicht mehr erfassen lässt. Dessen Grenzen werden durch die Reichweite und regional schwankende Dichte ethnisch definierter Netzwerke bestimmt, die gleichzeitig einerseits ein vom Ort losgelöstes Gemeinschaftsbewusstsein widerspiegeln, sich andererseits aber in gewissem Maße territorial einzelnen Wohnvierteln oder Städten zuordnen.
Hier ist auch anzumerken, dass es an der gegenwärtigen Entwicklung vorbeigeht, wenn man von Mexikanern in Kalifornien spricht. Es geht um Menschen mexikanischer Herkunft, deren Lebensgemeinschaften in Kalifornien eine eigene Identität herausbilden, nämlich die der sich selbst heute so bezeichnenden Chicanos. Ebenso bilden die Menschen türkischer Herkunft in Berlin-Kreuzberg ungeachtet ihrer Staatsbürgerschaft Lebensgemeinschaften mit eigener Identität, in der sich türkische Herkunft und die Lebenserfahrungen in Deutschland mischen. Ganz im Gegensatz zum territorialstaatlichen Separatismus, der starr auf Eigenstaatlichkeit einer sich wie auch immer definierenden Menschengruppe gerichtet ist, nutzen die neuen transnationalen Gemeinschaften die Lebensmöglichkeiten, die das Aufbrechen territorialstaatlicher Ordnungen bietet. Dass sich daraus auch ein erhebliches Konfliktpotenzial ergeben kann, liegt auf der Hand. Dieses kann jedoch nicht über eine weltweite Durchsetzung des Prinzips "eine Ethnie - ein Staat" abgebaut werden, sondern nur dadurch, dass die politische Sprengkraft kulturell begründeter Geltungsansprüche abgebaut wird. Diese Geltungsansprüche müssen sich deshalb selbst der Wertordnung unterwerfen, innerhalb derer sie erhoben werden. Und diese Wertordnung darf ebenfalls nicht starr sein, sondern muss sich ständig wandeln und neue kulturelle Einflüsse integrieren.
Der obige - zugegebenermaßen sehr schematische - Parforce-Ritt durch die Geschichte zeigt, dass der moderne Territorialstaat ein Produkt der Geschichte und damit dem historischem Wandel unterworfen ist. In der Wissenschaft spricht man in dieser Hinsicht von der (historischen) Kontingenz, also der offenen Entwicklungsmöglichkeit des modernen Staatensystems.
Zwar hat es schon immer Grenzen gegeben. Sie haben sich aber stark gewandelt. Wenn heute von Entgrenzung gesprochen wird, dann soll damit nicht gesagt werden, dass Grenzen verschwinden, sondern dass sich die Bündelung von Territorial-, Rechts-, Wirtschafts- und Gemeinschaftsgrenzen, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert im modernen Nationalstaat vollzogen hat, wieder aufzulösen beginnt. Zwar sind diese Grenzen nie ganz deckungsgleich gewesen. Die eben angesprochenen Entwicklungen deuten aber da-rauf hin, dass die Tendenz zur fortschreitenden Bündelung der Grenzen im Nationalstaat gerade in den am weitesten fortgeschrittenen Industrieländern ihren Höhepunkt überschritten hat, weil die Dynamik der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung, die im System der territorialen Nationalstaaten entstanden ist, dieses System selbst sprengt. Auf die Kraft und Wirksamkeit dieser Dynamik verweisen auch andere Entgrenzungsprozesse: Da wird etwa die Trennungslinie zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten teilweise aufgelöst, vor allem in der Unterhaltungsindustrie, aber zum Teil auch im Strafrecht; da verschwimmt die Trennung zwischen dem staatlichen und dem nicht-staatlichen Sektor, etwa bei public-private partnerships (Projekte, die vom Staat und privaten Organisationen gemeinsam getragen werden); da werden global operierende Anwaltskanzleien zur neuen Rechtsquelle; da gibt es fließende Übergänge von Gegenständlichem und Virtuellem (Cyberspace); da vereinen sich Mensch und Maschine - beispielsweise durch Ausweitung des Gebrauchs medizinischer Implantate - oder Natürliches mit Künstlichem in der Gentechnologie.
Dessen ungeachtet wird in der heutigen Welt gleichzeitig weiter um die Durchsetzung von moderner Territorialstaatlichkeit, um die Errichtung neuer Territorialgrenzen gekämpft. Diese fortbestehende Ungleichzeitigkeit des weltweiten Wandels unterstreicht dessen Konfliktpotenzial. Im Jahre 1623 schrieb der französische Mönch Emeric Crucé: "Was für eine Freude wärs, die Menschen allenthalben frei und ungehindert reisen und ohne ängstliche Rücksichtnahme auf Herkunft, Sitten und ähnliche Unterschiede miteinander verkehren zu sehen, so als wäre die Erde - was sie denn in Wahrheit auch ist - eine allen gemeinsame Stadt." Der gemeinsamen Stadt sind wir sehr viel näher gekommen. Nur ist sie nicht so idyllisch, wie Crucé sich das vorstellte.
aus: der überblick 04/2000, Seite 6
AUTOR(EN):
Lothar Brock :
Dr. Lothar Brock ist Professor am Institut für vergleichende Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt (Main) und Direktor der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Er ist ferner Vorsitzender der EKD Kammer für Entwicklung und
Umwelt.