Der befreiende Impuls ist nur eine Seite von Nationalbewegungen - die andere ist Volkstümelei
Der moderne Nationalismus geht auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Französische Revolution zurück. Seit den Kriegen gegen Napoleon verbindet sich jedoch mit Nationalbewegungen nicht nur der Ruf nach Freiheit, sondern auch die Wendung zu angeblichen Traditionen der Völker. Die Vorstellung vom Volk oder der Nation als einer religiös überhöhten Schicksalsgemeinschaft war eine Reaktion auf den raschen sozialen Wandel und die damit verbundene Verunsicherung. Beide Seiten des Nationalismus haben die Europäer in ihre Kolonien exportiert: Auch antikoloniale Befreiungsbewegungen haben ihre dunkle Seite, auch in ihnen sind emanzipatorische mit totalitären Elementen verwoben.
von Bruno Schoch
Der Triumph der Demokratie im Jahre 1989 hat, wie es scheint, auch die Pandorabüchse des Nationalismus geöffnet. Wie mächtig dieser erneut hervortrat, hat nicht nur die Politik, sondern auch die Sozialwissenschaften unvorbereitet getroffen. Dass inzwischen die Fachliteratur zu ethnischen Konflikten, Nation und Nationalismus Regale füllt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es darum vor 1989 ruhig geworden war. Allenfalls an der Peripherie, in der sogenannten Dritten Welt, schienen Reste des Nationalismus in Gestalt nationaler Befreiungsbewegungen noch zu wirken. Doch als eine mächtige politische Idee der modernen Geschichte oder als eine partikulare, quer zum Ost-West-Konflikt liegende Ursache von Gewalt und Krieg hielten ihn die Politik und die Hauptströmungen der Sozialwissenschaften gemeinhin für erledigt.
Mittlerweile sind wir eines Schlechteren belehrt. Es scheint, als kehre das Verdrängte wieder angesichts der beispiellosen Aufgabe, in den postsozialistischen Gesellschaften das politische System, die gesamte Ökonomie und die gesellschaftliche Organisation gleichzeitig umzuwandeln. Doch ist der Stellenwert von nationaler Zugehörigkeit generell im Wachsen begriffen. Nicht zuletzt hat die Wiederkehr des Nationalismus im Osten auch den Blick auf den Süden verändert. Mittlerweile nehmen Teile der veröffentlichten Meinung gesellschaftliche Gegensätze und politische Konflikte nur noch durch die Brille von Nationalität und Ethnizität wahr. Diese Ethnisierung des Sozialen ist eine Verengung auf einen einzigen Gesichtspunkt und geht mit einem für die Freiheit des Individuums unerträglichen Maß an kollektiver Fremdbestimmung einher.
Am Anfang des Siegeszugs der modernen Nation stand aber keine ethnische Zugehörigkeit, sondern die demokratische oder atlantische Revolution. Was immer Nation zuvor bedeutet hatte, 1776 und 1789 - also mit der Unabhängigkeitserklärung der USA und der Französischen Revolution - erhielt sie ihre prinzipiell neue, moderne Bedeutung. Erstmals brach sich hier das revolutionäre Prinzip der Volkssouveränität Bahn: Nun war das Volk als aus eigener Kraft Recht setzende Gewalt keine philosophische Spekulation mehr, sondern eine praktische Möglichkeit. Der Souveränität des Fürsten entgegengesetzt, versteht man unter Nation seither staatsrechtlich das politisch verfasste Staatsvolk freier und gleicher Bürger, von dem allein alle legitime Macht ausgeht.
Die Emanzipation aus hergebrachten Herrschaftsverhältnissen und die Konstitution einer souveränen Nation freier und gleicher Staatsbürger war ein unerhörter Vorgang und ein weithin leuchtendes Vorbild. In den meisten Ländern Kontinentaleuropas sind Nationalbewegungen erst aus der Berührung mit dem revolutionären Frankreich erwachsen. Doch trat dabei das Vorbild bald in einen eigentümlichen Widerspruch mit der Bildung der eigenen Nation: In der Nachahmung von 1789 und im Kampf gegen die Napoleonische Okkupation verschob sich der Akzent von der politischen Gleichheit und staatsbürgerlichen Emanzipation weg auf die ethnische Zugehörigkeit. Bald wurden auch Aufklärung, Rationalismus und Naturrecht als "welsch" verpönt und bildeten die Negativfolie für das eigene nationale Selbstbild. Dabei entstand ein alternativer Nationsbegriff, der mehr von der Volkszugehörigkeit als von demokratischer Selbstbestimmung geprägt war. Diese Ethnonation war als Nachahmung und zugleich als Gegenbild des französischen Vorbilds konzipiert und wurde ihrerseits weithin zum Vorbild.
Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts bildeten sich mithin zwei unterschiedliche, vielfach entgegengesetzte Traditionsstränge der Nation heraus, die bis heute nachwirken. Der Soziologe M. Rainer Lepsius hat sie prägnant zusammengefasst als Volksnation und Staatsbürgernation. Das erste Konzept betont die ethnische Gleichheit, die Staatsbürgernation bezieht sich auf Bürgerrechte, Volkssouveränität und Verfassung. Beide Idealtypen sind politisch vorgestellte, aus der Vorstellung entstandene Gemeinschaften. Und anders als ihre Selbstdeutung es will, liegt der Ursprung der Nation nicht in fernen Urzeiten. Vielmehr ist sie ein Kind der Moderne und begann ihren Siegeszug erst nach der demokratischen Revolution.
Die Wirkungsmacht des Nationalismus lässt sich nicht aus den Ideen ableiten, sondern verweist auf politische und gesellschaftliche Prozesse. Historisch waren das in Europa die demografische Revolution, die schnelle Urbanisierung, die Industrialisierung, die Einführung moderner Kommunikations- und Transportmittel - namentlich der Eisenbahn - und schließlich die Alphabetisierung, in deren Verlauf das lesende Publikum sich aus einer kleinen Schicht in ein Massenpublikum verwandelte. Damit ging der Ruf immer breiterer Kreise nach Partizipation an der Macht einher.
Der Nationalismus entspringt nicht der Vergangenheit, sondern ist eine Reaktion auf die Gegenwart und auf Angst vor zukünftigen Bedrohungen. Was gern als Wiederkehr der Vergangenheit dargestellt wird, ist modernen Ursprungs. Deshalb wird der Nationalismus kaum durch ökonomisch-soziale Modernisierung von selbst überwunden, so als sei er etwas Archaisches. Er wird im Gegenteil vom industriell-kapitalistischen Fortschritt hervorgebracht. Carlton I. Hayes, einer der Väter der modernen Nationalismusforschung, hat das pointiert so ausgedrückt: "Der Nationalismus als Weltphänomen konnte gleichsam nur mit Hilfe der Maschine kommen."
Im Gegensatz zur Agrargesellschaft mit ihrer stabilen Sozialschichtung und Hierarchie bringen die Industrialisierung und Modernisierung eine mobile und kulturell homogene Gesellschaft mit Erwartungen und Hoffnungen auf Gleichheit oder Gleichberechtigung hervor. Die Idee der Nation greift diese Erwartungen auf und kittet die autonomen, aber vereinzelten Individuen wieder zusammen. Die Konstruktion des Nationalen als einer spezifischen kollektiven Zusammengehörigkeit, nämlich innerweltlich und Stände übergreifend, leistet ein Doppeltes: Integration auf neuartige Weise und zugleich Kompensation für die Schattenseiten der Modernisierung. Sozialpsychologisch begegnet der Nationalismus dem sozialen Atomisierungs- und Mobilisierungsprozess der Moderne mit der Integration nach innen, und zwar mittels Produktion von Differenzen und Grenzen nach außen. Zu seinem Wesen gehört, dass die Nation die Künstlichkeit dieser Grenzen und Differenzen durch die Berufung auf Ursprünglichkeit und Authentizität kaschiert.
Deshalb greift es zu kurz, den Nationalismus immanent zu kritisieren, also zu prüfen, ob er in sich schlüssig oder widersprüchlich ist. Da sich die Wirkungsmacht des Nationalismus nicht aus ihm selbst erklären lässt, kommt es darauf an zu analysieren, welche jener Fragen er zu beantworten vorgibt, die der tiefe und als schmerzhaft empfundene gesellschaftliche Umbruch auferlegt. Je ungestümer und gewaltsamer die Modernisierung und Individualisierung erfolgen, desto größer ist offenbar das Bedürfnis nach ideologischer Kompensation. Es wird dort besonders stark, wo eine gewaltsam vorangetriebene Modernisierung Hand in Hand geht mit der Besatzung oder Kolonisierung durch einen übermächtigen äußeren Feind.
Die industrielle Revolution bricht in althergebrachte Lebenswelten ein und setzt die Individuen im wörtlichen Sinne frei von jahrhundertealten sozialen und politischen Einbindungen. Gegen diese Zumutungen verspricht die Nation als neue, nicht mehr unmittelbar erfahrbare, sondern eben vorgestellte politische Gemeinschaft den Individuen Halt. Dieses Versprechen einer emotionalen Zugehörigkeit und Gemeinschaft hat Ernest Renan schon in seiner berühmten Vorlesung von 1883 erkannt. Er charakterisierte die Nation als "eine Seele", eine "spirituelle Familie" mit einem gemeinsamen Besitz an Erinnerungen; als "ein geistiges Prinzip", das eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlage: "Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist." Damit hat auch zu tun, dass ein Großteil der Symbolik, der Inszenierung und der emotionalen Aufladung des Nationalen bis heute mit Anleihen bei der Religion einhergeht.
Die moderne Nation verknüpft mithin auf eigentümliche Weise entscheidende Dimensionen der modernen politischen und sozialen Existenz. Zum einen schwingt sie sich zum Souverän auf und erhebt sich seit der demokratischen Revolution zur einzigen Instanz, die politische Herrschaft zu legitimieren vermag. Damit werden die Herrschenden über ihre spezifischen Interessen hinaus zugleich auf das Wohl der gesamten Nation verpflichtet, die sie im Prinzip abwählen kann. Auf der anderen Seite stiftet die Nation eine neuartige Gemeinschaftseinbindung mit Zügen einer innerweltlichen Religion. Wenn Jean-Jacques Rousseau, einer der großen modernen Theoretiker der Politik, zum Zweck der staatsbürgerlichen Integration in republikanischen Gemeinwesen ausdrücklich eine religion civile forderte, so sind darin beide Dimensionen verknüpft: die Verpflichtung der Regierenden auf das Gemeinwohl und die metaphysisch überhöhte Verpflichtung aller Staatsbürger auf das nationale Ganze.
Zumal in Zeiten der Kriegsmobilisierung wird der Glaube an die eigene nationale Gemeinschaft gern durch Abgrenzung von Feinden emotional, existenziell und kryptoreligiös aufgeladen. Den "Volkskrieg" hat schon der Dichter Ernst Moritz Arndt (1769-1860) als "heilige Arbeit" sakralisiert. Der Patriot, so predigte der Philosoph Johann Gottlieb Fichte in den "Reden an die deutsche Nation" 1807-08, begeistert sich für den Tod fürs Vaterland durch die "Verheißung eines Lebens auch hienieden über die Dauer eines Lebens hinaus".
Zur weltweiten Vorbildwirkung der Ethnonation hat auch der Sowjetmarxismus ein gerüttelt Maß beigetragen. Nicht nur die bolschewistische Revolutionstheorie, sondern auch das staatliche Gefüge der Sowjetunion hat die geschichtsmächtige Kraft des Nationalen anerkannt, um sie in das Imperium zu integrieren. Die Lösung der nationalen Frage wollte er erreichen, indem jeder Nation ein Territorium zugewiesen wurde. Die landläufige Vorstellung, der Sowjetmarxismus habe alle nationalen Gefühle und Regungen unterdrückt, ist also falsch. In Wirklichkeit verhalf er zahlreichen Völkern überhaupt erst zu ihrer Nationsbildung, und zwar mit allem, was in der Tradition der Ethnonation dazu gehört: Territorium, Hochsprache und eigene Schrift, Lehrbücher, Nationalliteratur und Bildung nationaler Eliten. Die entscheidende Lücke blieb die demokratische Selbstbestimmung. Die sowjetische Nationalitätenpolitik hat nationale Gefühle sowohl institutionalisiert und kulturell gefördert als auch der Parteiherrschaft untergeordnet - eine Art zentralistischer Föderalismus.
Die Vorbildwirkung der beiden Nationstypen gilt auch außerhalb Europas, hat sich doch die Nation als die moderne Legitimationsform für territoriale Herrschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts überall durchgesetzt. Der Kolonialismus zerstörte die hergebrachten Formen unmittelbarer, personaler Herrschaft sowie traditionelle Formen des sozialen Lebens, indem er sie dem Interesse der Kolonialländer unterwarf. Hand in Hand mit der kolonialen Unterdrückung wurde jedoch auch die europäische Nationalgeschichte der jeweiligen Kolonialmacht importiert. Der widersprüchliche Gehalt der modernen Nation, zu der auch Volkssouveränität und Emanzipation gehören, gelangte so in die Leseräume und Schulzimmer der Kolonien.
Historisch war das zuerst in Lateinamerika der Fall, obwohl die südamerikanischen Staaten ihre nationale Unabhängigkeit schon zu einem Zeitpunkt errangen, der den europäischen Nationalismen des 19. Jahrhunderts vorausging. Lateinamerika war fast drei Jahrhunderte lang nicht nur kolonisiert, sondern infolge der Zuwanderung von der iberischen Halbinsel auf eine Weise latinisiert worden, dass von den einheimischen Kulturen nur noch Reste übrig blieben. Träger der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen waren die Kreolen (die Nachkommen von Einwanderern aus Europa), die sich beim Zugang zu Ämtern in der Kolonialverwaltung und zur politischen Macht benachteiligt fühlten und Gleichberechtigung mit den Spaniern bzw. Portugiesen begehrten. Den entscheidenden Anstoß für ihren Unabhängigkeitskampf lieferte die Eroberung Portugals und Spaniens durch Frankreich 1807 und 1808; sie entzog den Kolonialherren die militärische Rückversicherung ihrer Herrschaft. Auch hier gilt mithin: Am Anfang war Napoleon.
Die politischen Eliten Südamerikas wären nicht auf die Idee gekommen, ihre nationale Mobilisierung auf der Sprache zu begründen, teilten sie diese doch mit dem Mutterland. Vielleicht ist das der Grund, warum die meisten europäischen Nationalismustheorien Amerika mehr oder minder ignoriert haben und stattdessen auf den Zerfall Österreich-Ungarns fixiert blieben. Wenn die Nationen, wie eine noch immer gängige Vorstellung will, aus der Verschiedenheit der Sprachen folgen, dann bleiben Unabhängigkeit und Nationengründung (nation building) in Lateinamerika ein Rätsel.
Auch zwischen lateinamerikanischen Staaten sind Empfindlichkeiten in Sachen nationaler Ehre und Souveränität oder obsessive Auseinandersetzungen über Grenzverläufe vorgekommen. Das Besondere der "traditionellen" Nationalismen in Lateinamerika besteht darin, dass sie nicht einmal zu einer minimalen nationalen Integration in sozialer Hinsicht im Stande waren. Die Masse der Indios bleibt bis heute ökonomisch und sozial weitgehend ausgeklammert. Nicht zuletzt darin gründet die Instabilität dieser Staaten, ihre Schwäche gegenüber politischen Interventionen der USA und ihre wirtschaftliche Abhängigkeit.
Einen Aufschwung nahm die antikoloniale Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg. Dieser hatte die Kolonialmächte machtpolitisch geschwächt. Außerdem wirkte die Parole der Selbstbestimmung, die von den Bolschewiki ebenso wie vom US-Präsidenten Wilson verkündet wurde, auf die internationale Politik wie "Dynamit" (wie Wilsons Außenminister Robert Lansing kritisierte). Ähnlich wie im frühen deutschen Nationalismus vermischten sich auch in den nationalrevolutionären Befreiungsbewegungen emanzipative Elemente der Idee von der Nation mit chauvinistischen und totalitären. Die Sozialwissenschaft hat versucht, diesem Widerspruch mit definitorischen Kunststückchen beizukommen. So unterschied man etwa Nationalbewusstsein von Nationalismus oder Patriotismus von Chauvinismus. Doch besteht die Schwierigkeit darin, dass beides manchmal bis zur Unkenntlichkeit ineinander greift. Trotz all seiner destruktiven sozialen und politischen Auswirkungen besaß der Nationalismus in der Dritten Welt seit dem Dekolonisationsprozess anhaltende politische Wirkung - und eben auch emanzipatorische Kraft.
Schärfer als andere Theoretiker der antikolonialen Revolution hat dies Frantz Fanon (1925-61), ein Arzt und Philosoph, herausgearbeitet. Die koloniale Herrschaft verursachte ihm zufolge jene kollektiven Traumatisierungen, in denen schon der Ideengeschichtler Isaiah Berlin den fruchtbaren Boden für die Genesis des deutschen Nationalismus sah, freilich in unendlich gesteigertem Ausmaß: forcierte Modernisierung, kombiniert mit unmittelbarer Gewaltherrschaft. Um noch einmal das Diktum von Carlton I. Hayes aufzugreifen und zu modifizieren: Kam der Nationalismus in Europa mit der Maschine, so kam er in den Kolonien mit der Maschine und dem Maschinengewehr.
Je mehr die koloniale Herrschaft die Kolonisierten wie Unpersonen behandelte, des-to heller strahlte für diese das Gegenbild von der Nation als Gemeinschaft der Lebenden, der Toten und der noch Ungeborenen. Die Emanzipation der Unterdrückten setzte Fanon zufolge voraus, dass sie sich von der Identifikation mit der Kultur der Kolonialherren loszureißen versuchten. Andernfalls komme es zu "schwerwiegenden psycho-affektiven Verstümmelungen", zu "Menschen ohne Ufer, ohne Grenzen, ohne Farbe, Heimatlose, Nicht-Verwurzelte, Engel". Deshalb, so Fanons Schlussfolgerung, "ist der offen bekannte Glaube an die Existenz einer nationalen Kultur im Grunde der leidenschaftliche, verzweifelte Rückgriff auf irgend etwas. Um sein Heil zu finden, um der Vorherrschaft der weißen Kultur zu entgehen, sieht der Kolonisierte sich gezwungen, zu unbekannten Wurzeln zurückzukehren und, komme was wolle, in diesem barbarischen Volk aufzugehen."
Eben an diesem Zwang, sich leidenschaftlich und verzweifelt zu identifizieren mit "irgend etwas", notfalls mit dem "barbarischen Volk", zeigt sich das politische Janusgesicht des modernen Nationalismus in der Dritten Welt. Der Rückgriff als solcher ist unverzichtbar, entscheidend kommt es auf die Traditionen an, auf die er sich bezieht. Das entgeht freilich Theorien, die nicht nach den Inhalten, sondern nur nach den Funktionen des Nationalismus fragen.
Fraglos bestehen enorme Unterschiede in dem, was Fanon das "irgend etwas" des Rückgriffs nennt. Alte eigene Reiche mit einer selbstbewussten staatlich-imperialen Tradition und Hochkultur wie beispielsweise China bieten dafür eine ganz andere Substanz als das subsaharische Afrika mit seinen schriftlosen Kulturen oder das vielfältige Inselreich Indonesiens. Hier schuf erst die Kolonialmacht die Voraussetzungen für ein irgendwie geartetes Zusammengehörigkeitsgefühl. Damit könnte der Hang vieler afrikanischer Dekolonisationstheoretiker zusammenhängen, die Zukunft als rückwärts gerichtete Utopie zu deuten.
Während vor allem der arabische Nationalismus nicht nur auf den Islam zurückgriff, sondern breite Anleihen bei den Theoretikern und Propagandisten der deutschen Ethnonation machte, folgten die meisten der im antikolonialen Kampf entstandenen Nationen dem westlichen Vorbild darin, dass sie über den ethnischen Gruppen standen - als ein Beispiel für viele sei nur Gandhi genannt. Das hatte auch ganz praktische Gründe, übernahmen diese Bewegungen doch die von den Kolonialherren nach deren eigenen Interessen, nicht nach den ethnischen Gegebenheiten, geschaffenen Grenzen. Am Anfang der Nationsbildung stand das vorgegebene Territorium, mithin das, was dem Kommunistischen Manifest zufolge in Europa erst die selbstbewusste Bourgeoisie durchgesetzt hat: "Unabhängige, fast nur verbündete Provinzen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen werden zusammengedrängt in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse, eine Douanenlinie."
Die antikolonial verstandene Nation ist jedoch nicht bloß Rückgriff, sondern eine widersprüchliche Größe. Ähnlich wie das Modell des Ethnonationalismus im Europa des 19. Jahrhunderts seine Gegenmodelle von 1776 und 1789 als Vorbilder voraussetzte, von denen es sich abgrenzte, so befindet sich auch die antikoloniale Nation in einem Spannungsverhältnis zur Kolonialmacht. Abgrenzung, ja die Notwendigkeit, sich davon loszureißen und auf "irgend etwas" Eigenes zurückzugreifen, ist das eine Moment. Es wird meist in Metaphern der Wiedergeburt oder des Erwachens ausgedrückt. Das Andere ist jedoch, dass damit zugleich der Einfluss auf die Kolonisierten nicht geschwächt, sondern vielmehr verstärkt wird. Denn was der Antikolonialismus als Renaissance verstand, war in Wirklichkeit etwas Neues und diente der Modernisierung und sogar der Verwestlichung. Der Nationalismus Kemal Atatürks ist dafür das klassische Beispiel.
Fortschrittliche Entkolonisierungsnationalismen entleihen vom Gegner das technische, politische, ideologische und organisatorische Rüstzeug: "Die Ideale des Self-Government gegen britisches Regiment anzurufen und die Parolen von 1789 gegen einen französischen Gouverneur, ist nur auf den ersten Blick paradox. Nationale Wiedergeburt oder Nationsbildung (nation building), Sammlung politischer, wirtschaftlicher und militärischer Macht ist in kolonisierten oder halbkolonisierten Ländern nur durch Modernisierung der Gesellschaft erreichbar. Modernisierung aber bedeutet notwendig 'Verwestlichung' und unter den verschiedenen Modellen westlicher Gesellschaft ist im Regelfall das der eigenen Kolonialherren am leichtesten greifbar. Deshalb ist die Entkolonisierung so häufig ein Dialog zwischen den Herren und Untertanen von gestern", schreibt der Afrikakenner Franz Ansprenger. Geradezu klassisch ist die Bezugnahme der von Ho Tschi Minh formulierten vietnamesischen Unabhängigkeitserklärung von 1945 auf die amerikanische von 1776 und auf die Erklärung der Menschenrechte von 1789. Das vietnamesische Volk, hieß es da, befinde sich in Übereinstimmung mit diesen unwiderlegbaren Wahrheiten, während Frankreich in Indochina seinen eigenen Idealen der Gerechtigkeit und Humanität zuwider handle.
Kaum jemand bestreitet heute, dass der Nationalismus der Befreiungsbewegungen in Asien und Afrika insofern emanzipativ war, als er gegen koloniale Herrschaft und auf Selbstbestimmung zielte. Doch so sehr er den Emanzipationswillen ausdrückte, so wenig war der Nationalismus als solcher im Stande zur Emanzipation. Das ist schon Frantz Fanon nicht entgangen. Zwar beschreibt er in seinem berühmtesten Buch "Die Verdammten dieser Erde" von 1961 fast hymnisch, wie sich die souveräne Nation im Feuer des antikolonialen Kampfes konstituiert, indem sie sich über alle Klassendifferenzen, Stammesrivalitäten und Parochialismen erhebt. Aber das Buch, das rasch zum Manifest der Dritten Welt avancierte, enthält auch ein Kapitel "Missgeschicke des nationalen Bewusstseins". Schonungslos kritisiert es die fatalen Folgen inhaltsleerer nationaler Phrasensammlungen: "Unsere Theorie, wiederholte man, ist die nationale Vereinigung gegen den Kolonialismus. Und man marschierte, mit einem zur Theorie erhobenen gebieterischen Slogan bewaffnet, und die ganze ideologische Aktivität beschränkte sich auf eine Reihe von Variationen über das Selbstbestimmungsrecht der Völker." Damit ließ sich im wörtlichen Sinne kein Staat machen: "Der Nationalismus ist weder eine politische Doktrin noch ein Programm. Wenn man diese Rückfälle, diese Stockungen, diese Brüche seinem Land wirklich ersparen will, muss man rasch vom nationalen Bewusstsein zum politischen und sozialen Bewusstsein übergehen. (...) Wenn der Nationalismus nicht erklärt, bereichert und vertieft wird, wenn er sich nicht sehr rasch in politisches und soziales Bewusstsein, in Humanismus verwandelt, dann führt er in eine Sackgasse."
Mehr noch: Wo die neue politische Elite sich nicht auf das Gemeinwohl verpflichtet, sondern lediglich die Posten der früheren Kolonialherren besetzt, verkehre sich die nationale Parole, unter den Bedingungen der unmittelbaren kolonialen Herrschaft progressiv, in ihr Gegenteil: "Vom Nationalismus sind wir zum Ultra-Nationalismus, zum Chauvinismus, zum Rassismus übergegangen." Das emanzipative Ziel der staatsbürgerlichen Gleichheit werde preisgegeben, und man falle zurück auf den "Mikro-Nationalismus": "Voller Ingrimm muss man den erstaunlichen Triumph der ethnischen Gemeinschaften mitansehen." Wo es nicht gelungen sei, das ganze Volk aufzuklären, kehre man "von der Nation wieder zur ethnischen Gemeinschaft, vom Staat wieder zum Stamm" zurück. Und in vielen unabhängigen Staaten Afrikas entpuppe sich die nationale Partei, die vorgeblich im Namen des ganzen Volkes spreche, als "regelrechte ethnische Diktatur", als "Stammesdiktatur".
Als Gegenmittel empfahl Fanon die Erziehung zum demokratischen Staatsbürger und die Besinnung auf jene Verknüpfung zwischen Volkssouveränität, Nation und Demokratie, die am Anfang der demokratischen Revolution steht: "Eine Bourgeoisie, die den Massen als einziges Nahrungsmittel den Nationalismus gibt, verfehlt ihre Mission. (...) Wenn die nationale Regierung national sein will, muss sie durch das Volk und für das Volk, für die Entrechteten und durch die Entrechteten regieren. Kein Führer, was auch immer sein Verdienst sein mag, kann sich an die Stelle des Volkswillens setzen." Doch wie viel vermag die ursprüngliche Idee demokratischer Selbstbestimmung als Heilmittel gegen deren nationalistische Rückentwicklung auszurichten?
aus: der überblick 04/2000, Seite 53
AUTOR(EN):
Bruno Schoch :
Bruno Schoch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Mitherausgeber des jährlichen Friedensgutachtens und Autor unter anderem von: Nationalismus - Überlegungen zur widersprüchlichen Erfolgsgeschichte einer Idee, in: Klaus Schlichte und Jens Siegelberg (Hrsg.): Strukturwandel internationaler Beziehungen, Wiesbaden 2000.