Im Widerstreit der Einschätzungen von vier Jahrzehnten
Zur Zeit der Regierung von Julius Nyerere wurde Tansania anfangs als Modell für einen eigenständigen Entwicklungsweg bewundert, später als Musterfall von Fehlentwicklung betrachtet. Gleichwohl kann sich Tansania trotz zeitweiliger schwerer Krisen bis heute eines hohen Zustroms an Entwicklungshilfe erfreuen. Hat der Einfluss der Geber das Land irregeleitet oder auf den richtigen Weg gebracht?
von Rolf Hofmeier
Die Entwicklungskonzepte, denen Tansania zu verschiedenen Zeiten folgte, wurden in Europa und Nordamerika stets besonders aufmerksam beobachtet. Zeitweise wurde Tansania als Modell für einen ganz eigenständigen sozialistischen Entwicklungsweg bewundert. Später wurde es als besonders eklatanter Fall einer bürokratisch-zentralistischen Fehlentwicklung und wirtschaftlichen Stagnation angesehen. Heute heißt es nach weitgehend übereinstimmender Einschätzung, dass sich das Land auf einem zwar langsamen, aber eindeutig vorwärtsgerichteten Reformkurs befindet. Auch im Hinblick auf die Wirksamkeit der ungewöhnlich umfangreichen Entwicklungshilfe aus einer Vielzahl von Geberländern und -institutionen schwankt das Urteil erheblich. Die einen unterstreichen, dass die Unterstützung notwendig und insgesamt hilfreich gewesen sei; die anderen gestehen kritisch ein, dass nur wenige sichtbare und dauerhafte Erfolge belegbar sind.
Trotz beachtlicher politischer Stabilität und umfangreicher Entwicklungshilfe ist Tansania gegenwärtig noch immer eines der zehn ärmsten Länder der Welt. Das reale Pro-Kopf-Einkommen lag 1999 mit 260 US-Dollar nur etwa bei der Hälfte des Durchschnittswertes für das gesamte subsaharische Afrika und war nur rund 30 Prozent höher als zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit. Der durchschnittliche seitherige Einkommenszuwachs belief sich somit lediglich auf 0,7 Prozent pro Jahr. Bei gleich bleibender Wachstumsrate wie in der Vergangenheit würde es noch weitere 60 Jahre dauern, bis sich das reale Einkommen gegenüber 1961 verdoppelt hätte. Etwa die Hälfte der Bevölkerung befindet sich unterhalb der derzeit geltenden absoluten Armutsschwelle von 0,65 US-Dollar am Tag; dies gilt insbesondere für die ländliche Bevölkerung (70 Prozent aller Tansanier leben auf dem Land). Zwar ist Tansanias Rangordnung beim Index der menschlichen Entwicklung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) noch immer deutlich besser ist als bei der reinen Einkommensbetrachtung - allerdings mit abnehmender Tendenz. Aber auch wichtige soziale Indikatoren sind ausgesprochen niedrig und liegen deutlich unter dem afrikanischen Durchschnitt. Die Lebenserwartung etwa beträgt 48 Jahre, die Analphabetenrate liegt bei 32 Prozent, nur 57 Prozent der Kinder im Grundschulalter gehen zur Schule. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass nach allen üblichen messbaren Kriterien sowohl die soziale als auch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes bisher außerordentlich unbefriedigend verlaufen sind. Dies wirft zwangsläufig die Frage nach dafür verantwortlichen Einflussfaktoren und nach den voraussichtlichen weiteren Perspektiven für die Zukunft auf.
In Tansania wird häufig von drei voneinander abzugrenzenden Regierungsphasen gesprochen, die den Amtsperioden der drei bisherigen Präsidenten des Landes entsprechen, nämlich Julius K. Nyerere (1961-1985), Ali Hassan Mwinyi (1985-1995) und Benjamin William Mkapa (seit 1995). Tatsächlich haben diese Zeiträume im Hinblick auf die jeweils verfolgten Entwicklungsstrategien markante Unterschiede aufzuweisen. Angesichts der mehrfachen Politik- und Strategiewechsel im Laufe der Jahrzehnte erscheint jedoch die folgende Periodisierung mit insgesamt fünf unterschiedlichen Entwicklungsphasen wesentlich besser geeignet für eine griffige Charakterisierung der jeweiligen Hauptelemente und Ergebnisse.
In der ersten Periode nach der Unabhängigkeit (1961-1967) hat die Regierung zunächst eine relativ orthodoxe Wirtschafts- und Entwicklungspolitik betrieben. Die ersten beiden Entwicklungspläne beruhten noch auf der Annahme eines starken privatwirtschaftlichen Engagements ausländischer Investoren, während gleichzeitig die Afrikanisierung der staatlichen Verwaltung rasch vorangetrieben wurde. Bei einer weitgehend liberalen Wirtschaftsordnung und Fortbestand der Abhängigkeit von den traditionellen landwirtschaftlichen Exportprodukten herrschte makroökonomische Stabilität, und die wirtschaftlichen Indikatoren waren zufriedenstellend. Der durchschnittliche Zuwachs des Pro-Kopf-Einkommens in dieser Phase belief sich auf 2,0 Prozent pro Jahr, ein seither nie wieder erreichter Wert. Auch unter Berücksichtigung der extrem niedrigen wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen infolge langjähriger Vernachlässigung durch die britische Kolonialmacht waren also im Rückblick die ersten Unabhängigkeitsjahre gar nicht so erfolglos wie häufig dargestellt.
Dennoch kam es im Februar 1967 mit der Verabschiedung der Arusha-Deklaration zu einem einschneidenden Wendepunkt der offiziellen Entwicklungsstrategie und zur Einleitung der sozialistischen Ujamaa-Politik, die für die nächsten zwei Jahrzehnte Gesellschaft und Wirtschaft prägte. Das Kiswahili-Wort Ujamaa bezeichnete ursprünglich den Zusammenhalt in einem traditionellen Familienverband, wurde dann aber in übergeordnetem Sinn zur Kennzeichnung der gesamten spezifischen Entwicklungsphilosophie vor allem Nyereres verwendet. Den scharfen Strategiewechsel hatte die Enttäuschung darüber ausgelöst, dass der ursprünglich erwartete Zufluss ausländischer Investitionen und rasche Industrialisierungsfortschritte nicht eingetreten waren; hinzu kam vor allem die Erkenntnis, dass eine weitere Verfolgung des kapitalistischen Entwicklungsweges zu einer rapiden Zunahme sozialer Ungleichheit führen würde. Schon 1967 wurden die "Grundpfeiler der nationalen Wirtschaft" wie ausländische Banken, Versicherungen, Handelsfirmen und Industriebetriebe verstaatlicht.
Grundprinzip der Politik sollte fortan die Self-Reliance sein, man wollte sich also auf die eigenen Kräfte und Ressourcen stützen. Prinzipiell sollte der Staat die Kontrolle über alle wesentlichen Bereiche der Volkswirtschaft übernehmen. Allerdings wurde dies tatsächlich nie stringent durchgesetzt und verschiedene Wirtschaftselemente blieben nebeneinander bestehen (mixed economy). Zentrale Strategieziele waren erstens die Schaffung von Ujamaa-Dörfern mit gemeinschaftlicher Produktion und die Umsiedlung der ländlichen Bevölkerung in größere zentrale Dorfeinheiten, zweitens die (auch dadurch) verbesserte Versorgung der Bevölkerung in allen Landesteilen mit sozialen Dienstleistungen wie Bildung und Ausbildung, Gesundheitswesen und Wasserversorgung sowie drittens ab 1974 eine Industrialisierung, die auf Importsubstitution und den Aufbau eigener Grundindustrien setzte. Staatliche Planungsinstanzen sollten den angestrebten Strukturwandel lenken und kontrollieren; hierzu wurde im Laufe der Jahre eine nahezu unüberschaubare Zahl von staatlichen und parastaatlichen Betrieben und Institutionen geschaffen.
Die ursprünglichen Intentionen wurden jedoch durch eine ausufernde Bürokratie und ständig erweiterte Kontrollmechanismen völlig pervertiert. Als die heftig propagierte Bildung von Ujamaa-Dörfern bei der Bevölkerung nicht auf das erwartete Echo stieß, griff man ab 1973 zu drastischen Maßnahmen wie Zwangsumsiedlungen. Die schwerfällige und zunehmend korruptionsanfällige Bürokratie verschüttete alle Anreize zu besonderen Anstrengungen. Und weil man der sozialen Versorgung und gerechten Verteilung Vorrang geben wollte, führte das in der Praxis dazu, dass man sich jahrelang wenig darum kümmerte, die Produktionskräfte der Volkswirtschaft zu stärken. Die offizielle Politik wurde lange von der Rhetorik der sozialistischen Zielvorstellungen geprägt, doch hatten sich daneben schon in den 1970er Jahren Wirtschaftsaktivitäten entwickelt (bzw. erhalten), welche die Kontrollen umgehen, die Schwächen der öffentlichen Institutionen ausnutzen und erstaunlich gut florieren konnten.
Kennzeichnend für die zentrale Periode der Ujamaa-Politik (1967-1979) war die starke Unterstützung seitens zahlreicher Entwicklungshilfegeber aus dem Ausland, die zumindest anfänglich die propagierten tansanischen Zielvorstellungen als im Einklang mit damals international vorherrschenden Entwicklungsstrategien sahen. Vornehmlich durch diese Hilfszuflüsse konnte eine erstaunlich hohe volkswirtschaftliche Investitionsquote erreicht werden, die nahezu ausschließlich staatlichen Vorhaben und Projekten zugute kam. Etwa ab Mitte der 1970er Jahre nahmen zwar der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank eine kritischere Haltung gegenüber wesentlichen Elementen der tansanischen Wirtschaftspolitik ein, doch angesichts anhaltender Unterstützung durch wichtige bilaterale Geber befand sich Nyerere nach wie vor in einer starken Position und sah keinen Anlass zu einer Veränderung seiner Politik. Ein zeitweiliger Weltmarktboom der Kaffeepreise überdeckte außerdem für einige Zeit die sich bereits abzeichnenden Schwächen der tansanischen Wirtschaftspolitik mit ihrer starken Betonung sozial- und verteilungspolitischer Ziele bei Vernachlässigung der Verbesserung von Produktivität und Effizienz. Dennoch konnte in diesem guten Jahrzehnt der konsequent betriebenen sozialistischen Ujamaa-Politik nicht zuletzt dank der starken Unterstützung aus dem Ausland noch ein durchschnittliches Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens von etwa 0,7 Prozent pro Jahr erzielt werden.
Erst in der folgenden Periode einer allumfassenden Wirtschaftskrise (1979/80-1985) wurden die grundlegenden konzeptionellen Probleme des eingeschlagenen Kurses drastisch fühlbar, wobei der Niedergang zu Beginn zusätzlich noch durch äußere Einflussfaktoren - insbesondere den Krieg mit Uganda, den Zusammenbruch der Ostafrikanischen Gemeinschaft und die Ölpreissteigerung - deutlich verstärkt wurde. Wesentliche gesamtwirtschaftliche Größen gerieten völlig aus dem Gleichgewicht, und die Versorgung der Bevölkerung wurde selbst auf dem niedrigen Niveau nur mit Mühe bewältigt. Die Regierung war jedoch zunächst zu keinerlei Kurskorrekturen bereit, obwohl der IWF, die Weltbank und andere Geber sehr darauf drängten, sondern versuchte stattdessen, durch scharfe Sicherheitskontrollen und bürokratische Zuteilungsmethoden der Güterknappheit und dem wachsenden Unmut unter der Bevölkerung zu begegnen. Zwei offizielle Wirtschaftserholungsprogramme verkündeten rein deklamatorische Ziele ohne eine Bereitschaft, die Dominanz der staatsbürokratischen Steuerung zu lockern. Wegen dieser von fast allen Gebern als sture Verweigerung angesehenen Haltung sank das Volumen der erhaltenen Entwicklungshilfe in der ersten Hälfte der 1980er Jahre um rund ein Drittel.
Erst 1984/85 wurde der strukturelle Charakter der Krise und der Verlust der ausländischen Unterstützung der politischen Führung bewusst. Bei Beibehaltung der sozialistischen Rhetorik leitete sie einige behutsame Liberalisierungsmaßnahmen ein, und es kam zu ersten internen Diskussionen über notwendige wirtschaftspolitische Reformen. Alles in allem bedeuteten die Krisenjahre einen schmerzhaften Einschnitt in der längerfristigen Wirtschaftsentwicklung des Landes und leiteten faktisch das Ende der Ujamaa-Politik ein. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen sank in dieser Periode nach offiziellen (allerdings wegen der Krisenphänomene besonders unzuverlässigen) Schätzungen um rund 1,5 Prozent pro Jahr, möglicherweise aber auch um mehr. Die wirtschaftlichen Erfolge der Vergangenheit waren somit in kurzer Zeit wieder zunichte gemacht worden.
Der freiwillige Verzicht Nyereres auf eine weitere Amtszeit und die Übergabe der Präsidentschaft an Mwinyi im Jahr 1985 ermöglichten eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik. Diese erfolgte allerdings sehr behutsam und ohne offene Konfrontation mit den weiter einflussreichen politischen Kräften aus der sozialistischen Ujamaa-Phase. Eine Einigung mit IWF und Weltbank über ein Programm zur Erholung der Wirtschaft (Economic Recovery Programme) für die Jahre 1986-89 mit zentralen Elementen einer ökonomischen Strukturanpassung sowie ein anschließendes Economic and Social Action Programme für 1989-92 mit stärkerer Berücksichtigung auch der Sozialsektoren schufen zu Beginn der 1990er Jahre die Grundlage für ein neuerlich verstärktes Engagement vieler Entwicklungshilfegeber, die sich anfänglich wegen zunächst nur sehr zögernder Reformschritte zurückgehalten hatten.
Grundsätzlich ging es um die Standardelemente aller damals in Afrika propagierten Strukturanpassungsprogramme, doch in Tansania bedeutete dies wegen der weithin internalisierten sozialistischen Politik eine weit stärkere ideologisch-konzeptionelle Umorientierung als anderswo. Trotz aller für die Mwinyi-Ära charakteristischen pragmatischen Veränderungen wurde daher noch lange zumindest an einer sozialistischen Rhetorik festgehalten. Schritt für Schritt wurde aber die Wirtschafts- und Sozialpolitik verändert: Der überhöhte Staatseinfluss wurde zurückgeschraubt, parastaatliche Betriebe wurden privatisiert oder wenigstens reformiert, Anreize für private Wirtschaftsbetätigung in allen Bereichen geschaffen. Man ging daran, die makroökonomischen Variablen wieder ins Gleichgewicht zu bringen und die Pläne für staatliche Dienstleistungen in den Sozialsektoren an die Realitäten extrem begrenzter staatlicher Ressourcen anzupassen, etwa durch höchst umstrittene Kostenbeteiligung über Nutzergebühren.
Interne Reformkräfte wie externe Geber waren häufig frustriert über die aus politischer Rücksichtnahme auf die alte politische Garde nur halbherzige Umsetzung vieler versprochener Maßnahmen. Dennoch kam unzweifelhaft eine allmählich zunehmende Eigendynamik von Veränderungen in Gang. Ab 1992/93 verlor der Reformkurs der Regierung allerdings wieder an Glaubwürdigkeit: Es gab zunehmend Anzeichen von Korruption, höchst umstrittene Steuerausnahmegenehmigungen für politische Gefolgsleute und einen generellen Verlust von staatlicher Finanzdisziplin. Mwinyi schien die Kontrolle oder auch den Willen zu einer konsequenten Fortsetzung der Reformpolitik verloren zu haben. Dies führte erneut zu einem deutlichen Vertrauensverlust bei der Mehrzahl der ausländischen Geber und zu einer zeitweiligen Blockierung vieler bedeutender Entwicklungshilfeprogramme. Obgleich Mwinyi am Ende seiner Amtszeit von vielen Seiten für einen Mangel an Führungskraft und Vision kritisiert worden war, so hatte seine Regierung doch in nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens einen signifikanten Richtungswechsel herbeigeführt und in dieser Dekade wieder eine bescheidene durchschnittliche Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens von etwa 0,5 Prozent erreicht.
Die im November 1995 installierte neue Regierung Mkapa bemühte sich von Anfang an, die Reformen wieder in Gang zu setzen und die Beziehungen mit der gesamten internationalen Gebergemeinschaft zu regeln. Diese zweite Reformphase zeigte guten Erfolg. Erstaunlich schnell fand der Staat zu fiskalischer Disziplin zurück, und wichtige makroökonomische Größen stabilisierten sich. Tansania qualifizierte sich schnell für eine merkliche Entschuldung im Rahmen des Programms zum Schuldenerlass für hochverschuldete Entwicklungsländer (Highly Indebted Poor Countries-Initiative). Das Land erhielt neue hohe Entwicklungshilfezusagen. Deutlich zeigte sich die internationale Wertschätzung, die das Land in den letzten Jahren als hervorstechendes afrikanisches Beispiel einer Aufwärtsentwicklung nach einer langen Phase der Stagnation erfahren hat.
Zweifellos gibt es noch immer viele strukturelle Schwachpunkte. Weitere wirtschafts- und sozialpolitische Veränderungen stoßen auf anhaltenden ideologischen oder von Eigeninteressen geleiteten Widerstand. Vor allen Dingen sind die von außen vorgeschlagenen Maßnahmen höchst umstritten, es wird viel diskutiert, dass diese sozial nicht ausgewogen seien und es dabei wenige Gewinner, aber viele Verlierer gebe. Doch konnte immerhin erstmals wieder über eine längere Zeitperiode ein spürbarer gesamtwirtschaftlicher Zuwachs erzielt werden. In der ersten fünfjährigen Amtsperiode Mkapas erhöhte sich das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen um rund 1,5 Prozent pro Jahr; nach ersten vorläufigen Schätzungen konnte 2001 sogar ein Zuwachs von über 2,5 Prozent erreicht werden. Dies sind angesichts des niedrigen absoluten Ausgangsniveaus noch immer bescheidene Werte, sie eröffnen aber immerhin eine deutlich optimistischere Perspektive für die Zukunft.
Inzwischen kann man auf vier Jahrzehnte des tansanischen Entwicklungsweges zurückblicken. Was wurde erreicht und was nicht? Wo gibt es bleibende Errungenschaften, wo halten die Probleme an?
Zwar hat man weiterhin nahezu uneingeschränkte Hochachtung für die persönliche Integrität Nyereres und für seine dominante Rolle in der Geschichte des Landes. Aber gleichwohl wird inzwischen auch in Tansania mehr Kritik an den Auswirkungen seiner Ujamaa-Politik geäußert und an deren entscheidender (Mit-)Verantwortung für die insgesamt dürftige Entwicklungsbilanz. Nyereres Bemühen um eine möglichst egalitäre soziale Entwicklung ist prinzipiell durchaus anerkennenswert und wurde anfänglich auch von vielen Beobachtern bewundert und unterstützt. Aber letztlich wurde damit ein schwerfälliges, teilweise auch autoritäres staatsbürokratisches System geschaffen. Dieses bot nicht nur wenig Anreize zur Wohlstandsvermehrung und zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität. Es führte systemimmanent weitgehend unkontrolliert auch zu einer immensen Kostenbelastung durch verlustbringende Staatsinstitutionen, während die Bevölkerung viel mehr erwartete, als der extrem arme und ineffektive Staat bieten konnte.
Die in der Ujamaa-Phase propagierten Einstellungen und Werthaltungen der überwiegenden Mehrheit der politischen und administrativen Führungsschicht ließen es einerseits nicht zu, dass die notwendigen Korrekturen und Reformen ab Mitte der 1980er Jahre schnell umgesetzt werden konnten. Sie schützten andererseits aber auch vor Auswüchsen einer allzu raschen Totalliberalisierung und trugen damit zum Erhalt einer bisher unangefochtenen und im gesamten regionalen Umfeld außergewöhnlichen politischen Stabilität bei. Noch bis heute sind - wenn auch allmählich schwächer - einige Grundelemente aus der Gedankenwelt der Nyerere-Ära maßgeblich für den Erhalt von Einheit und Stabilität des Landes.
Paradoxerweise hat gerade die frühe internationale Bewunderung für die Ujamaa- Politik und die daraus resultierende umfangreiche Vergabe von Entwicklungshilfe dazu beigetragen, dass der zentrale ursprüngliche Gedanke der Self-Reliance - des Vertrauens auf die eigene Kraft - geradezu pervertiert wurde und Tansania seither abhängig vom Tropf der Entwicklungshilfe ist.Viele der Erfolge bei der Verbesserung der Sozialsektoren bis Mitte der 1970er Jahre beruhten weniger auf eigenen Anstrengungen als vielmehr auf dem hohen Umfang der Auslandshilfe, an die sich alle Entscheidungsträger schnell zu gewöhnen begannen. Im Auf und Ab der oben dargestellten Krisen ist Tansania das Land in Subsahara-Afrika geblieben, das ganz oben auf der Liste der Empfänger von Entwicklungshilfe steht und von einem hohen Zufluss ausländischer Entwicklungshilfegelder abhängig ist. Einzelne Beobachter haben Tansania immer wieder als Prototyp von unangemessener Überförderung angesehen und als Fass ohne Boden, ohne vorzeigbare Ergebnisse. Dies ist gerade auch im Vergleich zu anderen Ländern sicherlich überzogen. Insgesamt aber sind die Wirksamkeit der vielfältigen Entwicklungshilfemaßnahmen und die Einflussnahme der Gesamtheit der Geberinstitutionen auf wirtschafts- und sozialpolitische Konzepte sowie auf deren Veränderungen und Korrekturen als durchaus zwiespältig zu bewerten. Zweifellos haben im Laufe der Jahre viele von außen geförderte Projekte und Programme wegen ungeeigneter gesamt- und wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen nicht die erwarteten Erfolge bringen können und waren somit letztlich vergeudetes Geld. Das Land würde sich jedoch ohne die empfangene Hilfe heute sicherlich in einer noch wesentlich schlechteren Situation befinden.
Verschiedene Geber - ganz besonders IWF und Weltbank - haben immer wieder erheblichen Einfluss auf wirtschaftspolitische Konzepte ausgeübt. Das geschah sowohl durch Unterstützung der Politik Tansanias - etwa in der Anfangsphase der Ujamaa-Politik und in den beiden seitherigen Reformphasen - als auch durch Ausüben von Druck. So haben die Reduzierung oder auch die Einstellung von Hilfszahlungen aus dem Ausland Korrekturen und neue Weichenstellungen speziell in der Krisenperiode der ersten Hälfte der 1980er Jahre und erneut in den Jahren 1993-95 erheblich beeinflusst. Dabei spielten immer verschiedene interne und externe Kräfte und Interessengruppen zusammen. Auch das wegen der hohen Hilfeabhängigkeit Tansanias zweifellos starke Gewicht der Geber hätte alleine keine grundlegenden Strategieveränderungen erzwingen können, doch es unterstützte in entscheidenden Phasen die Reformkräfte im Land. Nur durch dieses strategische Zusammenwirken konnten sowohl 1985/86 wie 1995 wegweisende Weichenstellungen eingeleitet werden.
Trotz der seit 1995 deutlich verbesserten Wirtschaftsbilanz ist unübersehbar, dass ein ganzes Bündel struktureller Schwächen als Hinterlassenschaft der Politik der letzten Jahrzehnte weiterhin besteht und dass Tansania im gegenwärtigen Zustand noch weit davon entfernt ist, sein latentes Potenzial besser auszuschöpfen und auf einen nachhaltigen Entwicklungspfad einzuschwenken. Insgesamt hat bisher kein nennenswerter gesamtwirtschaftlicher Strukturwandel stattgefunden. Der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt noch immer knapp unterhalb von 50 Prozent; ihr Beitrag zum Gesamtwachstum der Volkswirtschaft war seit der Unabhängigkeit unterdurchschnittlich, und trotz der bewussten Schwerpunktsetzung auf ländliche Entwicklung während der Ujamaa-Ära hat es dort bisher kaum Modernisierung und höhere Produktivität gegeben. Entsprechende neue Politikimpulse sind auch derzeit überhaupt nicht zu erkennen.
Auch die staatszentrierte Industrialisierungsstrategie der 1970er Jahre war ein kompletter Misserfolg. Im Verlauf der Reformmaßnahmen mussten viele der damit geschaffenen Betriebe geschlossen werden, und die industrielle Wertschöpfung verharrt weiterhin auf ausgesprochen niedrigem Niveau. Die Umsetzung der ab 1992 begonnenen Privatisierung unrentabler Staatsbetriebe kam gegen politische Widerstände und wegen der Skepsis potenzieller neuer Investoren nur langsam voran und ist immer noch nicht völlig abgeschlossen. Ein protektionistischer Wirtschaftsnationalismus alter Ideologen und um ihre Privilegien fürchtender Kreise verhindert zudem eine konsequente Marktöffnung und blockiert so manche Investitionsvorhaben ausländischer Investoren. Trotz über längere Zeiträume hinweg relativ hoher Investitionsquoten blieben die gesamtwirtschaftlichen Effekte der Investitionen völlig unzureichend, was vor allem an der ausgesprochen niedrigen Produktivität liegt. Auch ein gut Teil der hohen Entwicklungshilfezuflüsse wurde nicht effizient eingesetzt. Die gegenwärtig erfolgversprechendsten Wirtschaftssektoren sind lediglich der kontinuierlich expandierende Tourismus und der Bergbau. Letzterer boomt dank hoher ausländischer Investitionen, schafft aber nur wenig Beschäftigung.
Die schlecht motivierte, ineffiziente und aufgeblähte Staatsbürokratie wird bisher allenfalls in Ansätzen reformiert, obgleich die absolute Zahl der Staatsdiener immerhin bereits um etwa ein Drittel abgebaut werden konnte. Auf lange Sicht besonders schwerwiegend sind die Defizite in den Bereichen des Erziehungs- und Gesundheitswesens, wo Tansania auch im innerafrikanischen Vergleich relativ schlecht dasteht. Das ist angesichts der hohen Priorität für die Sozialsektoren während der Ujamaa-Ära besonders überraschend und kann nur mit schweren Mängeln bei der damaligen Politikumsetzung erklärt werden.
Angesichts der Bilanz, die man rückblickend ziehen muss, liegen die Ansichten über den künftigen tansanischen Entwicklungsweg längst nicht mehr so weit und grundsätzlich auseinander, wie es - vor allem in den 1970er und 1980er Jahren - der Fall gewesen ist. Auch die allermeisten Anhänger und Verfechter von Nyereres Ujamaa-Politik in Tansania selbst und außerhalb erkennen heute an, dass entgegen den zweifellos idealistischen Zielen die damalige Politik nicht den Realitäten und Rahmenbedingungen entsprach und somit das Land - ökonomisch jedenfalls - nicht wirklich voran gebracht hat, sondern eher auf einem niedrigen Stand verharren ließ. Es war und ist klar, dass spätestens zu Beginn der 1980er Jahre grundlegende neue Weichenstellungen unvermeidbar geworden waren, auch wenn es zu Recht viel Kritik an der Art der Ausgestaltung der Strukturanpassungsmaßnahmen und vor allem an ihren sozialen Auswirkungen gab.
In der Amtszeit des stark unterschätzten Präsidenten Mwinyi wurden in einer behutsamen und politisch verträglichen Form in praktisch allen Bereichen wichtige Kurskorrekturen vorgenommen, die eine allmähliche Befreiung von den ideologischen Fallstricken der Ujamaa-Ära ohne größere soziale und politische Gegenreaktionen der alten Regimekräfte ermöglichten. Nach dem schrittweisen Rückzug des Staates und der fortschreitenden Liberalisierung aller Wirtschaftsbereiche ist die Planwirtschaft nicht mehr vorherrschend, aber es gibt auch keine völlig unkontrollierte Marktwirtschaft.
Die neuen Freiräume für privatwirtschaftliche Betätigungen belebten die Wirtschaft. Sie führten aber auch dazu, dass soziale und regionale Unterschiede rasch zunahmen, dass sich die Gesellschaft als Folge der veränderten Politik in Gewinner und Verlierer aufteilte. Dass diese erheblichen sozialökonomischen Verschiebungen bisher weitgehend friedlich verlaufen sind und die politische Stabilität nicht gefährdet haben, ist wohl vor allem zurückzuführen auf die nach wie vor kaum angefochtene Legitimität und Kontinuität der Regierungspartei CCM, die immer noch stark auf dem Mythos der Nyerere-Ära fußt. Es liegt aber auch daran, dass die tansanische Politik generell den Konsens sucht und Veränderungen stets behutsam und scheinbar halbherzig angeht, was für viele ungeduldige ausländische Beobachter häufig frustrierend ist. Wenn man die heftigen sozialen und politischen Konflikte anderswo in Afrika betrachtet, kann man aber im Fall Tansania geradezu von dem Vorzug einer "Kultur der Langsamkeit" sprechen.
Abgesehen von zwei Phasen deutlicher Spannungen mit wesentlichen Geberinstitutionen über Kernelemente der Wirtschaftspolitik war Tansania bisher stets ein bevorzugtes Empfängerland von umfangreicher Entwicklungshilfe in Afrika. Eine außergewöhnlich starke Abhängigkeit vom Erhalt dieser Hilfe und eine Gewöhnung von Regierung wie Gesellschaft an diese Situation ist offensichtlich, ebenso eine zumindest partielle Mitverantwortung der Geber für die Entwicklung des Landes - einschließlich der Rückschläge und Misserfolge.
Gegenwärtig werden die wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen und Politikansätze Tansanias - trotz aller weiter vorhandenen strukturellen Probleme - von der großen Mehrheit aller Geber und Beobachter für gut befunden. Mit dem Kurs der Regierung Mkapa zählt Tansania eindeutig zu den als relativ erfolgreich geltenden Ländern im subsaharischen Afrika. Erstmals seit langer Zeit scheinen die Voraussetzungen für eine auch längerfristig durchhaltbare bessere gesamtwirtschaftliche Entwicklung gegeben zu sein. Seit dem offensichtlichen Scheitern der Ujamaa-Philosophie Nyereres hat es keinen vergleichbaren Versuch einer allumfassenden Entwicklungsstrategie mehr gegeben. Auch das eher vage Regierungsdokument "Vision 2025" überzeugt nicht. Stattdessen überwiegt eine zwar wenig faszinierende, aber realitätsbezogene und pragmatische Orientierung der Politik, die sich zwischen innenpolitischen Rücksichtnahmen, ökonomischen Notwendigkeiten und Erwartungen und Forderungen der Geber mehr oder weniger geschickt hindurch laviert. Angesichts durchaus vorzeigbarer Erfolge und verbesserter fachlicher Kompetenz entwickelt die Regierung neuerdings auch gegenüber den Gebern ein größeres Maß an Selbstbewusstsein. Jene sind hingegen noch unsicher, wie viel Vertrauensvorschuss sie verantworten können in einer Zeit, in der die traditionelle Projekthilfe reduziert und die globale Sektor- und Budgetfinanzierung aufgestockt werden soll. Sollte sich der Kurs der Regierung weiterhin als erfolgreich erweisen, so wäre damit ein wichtiger Schritt zu größerer tansanischer Eigenverantwortung getan.
aus: der überblick 02/2002, Seite 23
AUTOR(EN):
Rolf Hofmeier:
Prof. Dr. Rolf Hofmeier (bis 2000 Direktor des Instituts für Afrikakunde in Hamburg) hat in verschiedenen professionellen Funktionen die Entwicklung Tansanias seit über 35 Jahren eng verfolgt.