Von Helden und Märtyrern
Das Martyrium ist die Lebenshingabe aus freien Stücken um letzter Werte willen. Den Tod unerschrocken auf sich zu nehmen, wird von den Religionen als etwas Sakrales gedeutet, dem Tod des Einzelnen wird ein Sinn für die gesamte Gesellschaft zugeschrieben. Es winkt eine unermessliche Belohnung: der unmittelbare Eintritt in den Himmel oder ein besonderer Platz im Paradies. Die Bezeichnung Märtyrer war lange nur Menschen von außergewöhnlichem Format vorbehalten. Doch hat sich der Begriff des Martyriums im Laufe der Religionsgeschichte immer wieder gewandelt.
von Felix Wilfred
Das Martyrium ist ein Konstrukt der Gesellschaft. Märtyrer werden nämlich von einer Religionsgemeinschaft zu dem gemacht, was sie sind, indem diese in Leiden und Tod eines Einzelnen einen Sinn hineinlegt, der mit der eigenen Identität und Geschichte, dem eigenen Glaubenssystem und den eigenen Riten in relevantem Zusammenhang steht. Genau aus diesem Grund hat das Martyrium schon von seinem Wesen her etwas Mehrdeutiges an sich.
So gesehen, können die Märtyrer der einen Gruppe für eine andere leicht zu Terroristen werden; und die Heroen der einen religiösen Gemeinschaft könnten in den Augen einer anderen militante Fundamentalisten sein. Die Mehrdeutigkeit, die dem Begriff des religiösen Martyriums anhaftet, bietet sich geradezu für eine politische Auslegung an: Die Märtyrer-Helden einer Nation oder einer ethnischen Gruppe werden zu Symbolfiguren, die ihr nationales oder ethnisches Bewusstsein stärken, die gemeinsame Gruppenidentität festigen und ihre Macht steigern. Von daher versteht es sich, dass Märtyrer-Erzählungen einer Gemeinschaft mythische Formen annehmen und sozialen und politischen Zwecken nutzbar gemacht werden.
Das Martyrium ist die Lebenshingabe aus freien Stücken um letzter Werte willen wie etwa der Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit und Freiheit. Die Religionen und religiösen Gemeinschaften verfügen über die große Macht, den Tod letztverbindlich zu deuten. In den meisten Fällen haben sie den natürlichen Alterungs- und Abbauprozess als die leisen Vorboten des Todes angesehen, den gewaltsamen Tod dagegen, dem man die Stirn bietet, hoch gepriesen. So war der Todestag eines Märtyrers für sie der Tag ihrer eigentlichen Geburt.
Das Ideal des Martyriums ist freilich nicht gänzlich ein von religiösen Traditionen hervorgebrachtes Konstrukt. Oft haben diese das kulturelle Erbe verschiedener Völker aufgegriffen und es (nur) umgeformt. So lässt sich zum Beispiel das Martyrium der Frühchristen in Rom vom kulturellen römischen Erbe des Heldenmutes und eines ruhmreichen Todes in der Schlacht nicht loslösen. Das gleiche könnte man von den germanischen Völkern behaupten, in deren Kultur der Heldentod im Kampf höchstes Ansehen genoss. Doch steckt im Martyrium für die Religionen mehr als nur die Furchtlosigkeit vor dem Tod, die bei der klassischen Tradition in hohen Ehren stand. Diese Ehre, den Tod unerschrocken auf sich zu nehmen, wird von den Religionen in etwas Sakrales umgedeutet. Denn hier wird das, was alle am meisten fürchten - der Tod - gerade durch den Tod überwunden. Ein Verschmelzen des klassischen kulturellen Ansatzes mit dem des christlichen Glaubens ließe sich im Martyrium von Soldaten im Frühchristentum erkennen.
In den meisten Religionen scheint es eine Tradition zu geben, die nicht nur den um des Glaubens willen erlittenen Tod, sondern jede gewaltsame Beendigung des Lebens als Martyrium ansieht. So ist im Islam der Ausdruck Shahid - Zeuge oder Märtyrer - auch außerhalb des religiösen Kontextes geläufig. Gemeint sind damit Menschen, die bei einer Geburt, durch Seuchen, Ertrinken oder jede andere plötzliche Todesform, etwa einen Unfall, ihr Leben einbüßen. Und im volkstümlichen Hinduismus werden jene, die unrechtmäßig getötet werden, weil sie den traditionellen Kasten-Kodex verletzt haben, als so mächtig angesehen, dass sie sich in Götter und Göttinnen verwandeln.
Es muss nicht immer der physische Tod sein, der jemanden zum Märtyrer macht. So gibt es - besonders im Hinduismus - eine religiöse Tradition, wonach jede Person, ob Mann oder Frau, die ihr Leben um der Gerechtigkeit willen dahingibt, mit Macht ausgestattet ist. Das steht in Einklang mit der klassischen indischen Überzeugung - die auch vom Buddhismus und Jainismus geteilt wird B, dass die Selbstentäußerung oder das Nichts von Macht erfüllt sind. Dagegen gilt die Situation des Besitzens als Zustand der Schwäche. Das können wir im Alltagsleben bestätigt sehen. Menschen, die nichts zu verlieren haben, sind meist auch die freiesten und wagemutigsten. Natürlich kann man sich dieses Potenzial auch zu Nutze machen.
In der Frage, wer zum Märtyrer erklärt wird, gibt es einen Kompetenzkonflikt: Wer entscheidet letztlich über die Sinndeutung seines Todes? Die Gemeinschaft, der der Märtyrer angehört, erhebt den natürlichen Anspruch, seinen Tod auch gültig zu interpretieren. Jeder Versuch einer Missdeutung durch die Täter und Verfolger wird von ihr strikt zurückgewiesen. Die Furcht, die Macht des Todes könnte von der Gemeinschaft des Opfers instrumentalisiert werden, kann für die Verfolger zum Albtraum werden, der sie nicht mehr los lässt. Das ist auch der Grund, warum sie sich in nicht wenigen Fällen dazu entscheiden, selbst die letzten Überreste des Opfers zu beseitigen, damit dieses für die verletzte Gemeinschaft nicht zum Quellgrund neuer Kräfte wird. So bevorzugen es die Verfolger, die Leichen der Opfer zu verbrennen und ihre Asche in alle Winde zu zerstreuen, oder sie heimlich in Massengräbern zu verscharren.
Wie aber bereiten religiöse Traditionen die Märtyrer darauf vor, ihr Leiden auch innerlich anzunehmen? Religionen unterscheiden sich durch ihre Einstellung gegenüber menschlicher Fehlbarkeit und ihre Erklärungsversuche menschlichen Leids. Diese unterschiedlichen Erklärungen spiegeln sich dann auch in ihrer Einstellung zum Leben, zur Wahrheit und zu menschlicher Befreiung wider. Im Licht dieser Überzeugungen werden dann theologische Erklärungen und Motive angeboten, die es möglich machen, das Leid und den gewaltsamen Tod auch innerlich anzunehmen. Im Christentum ist es das Kreuz Christi, das die Gläubigen auf eine solch innere Annahme einstimmt und vorbereitet. In anderen Religionen gibt es andere, aber irgendwie ähnliche Motive - im Hinduismus etwa ist es das Gesetz des Karma. Im Allgemeinen übernimmt aber eine stetige Opfer- und Verzichtspädagogik diese Aufgabe der Einstimmung und Vorbereitung auf das Leiden und einen heroischen Tod.
Religiöse Traditionen messen dem gewaltsam erlittenen Tod eine hochrangige Bedeutung zu. Sie verherrlichen und verehren die Heroen, die ihr Leben hingegeben haben. Die Wurzeln hierfür reichen bis in jene Tiefen hinab, wo es allem Anschein nach einen Strom der Tradition gibt, der zwischen Religion und Gewalt einen Zusammenhang herstellt.
Wir kennen heute eine ganze Reihe von Fällen, wo Menschen, von einer machtvollen religiösen Ideologie getragen, der Überzeugung waren, sie vollbrächten ihre abscheulichen Taten in göttlichem Auftrag. Auf diese Weise wird dem Tod gleichsam eine sakrale Bedeutung verliehen. Selbst wenn man aus politischen oder ökonomischen Gründen sein Leben opfert, bereitet die Akzeptanz dieser Tat keine Schwierigkeit, solange die betroffene religiöse Gemeinschaft diese Akte mit der Aura des Sakralen umgibt.
Bei aller Mehrdeutigkeit des Martyriums findet sich doch in seinem Kern etwas durchweg Eindeutiges: Es ist die Überzeugung der Märtyrer, ihr Tod, ihre frei gewollte Selbsthingabe diene einer ehrenvollen Sache: der Verteidigung des Glaubens, der Wahrung von Gerechtigkeit oder etwa dem Schutz der Identität eines Volkes. Hinzu kommt die Überzeugung von einer unermesslichen Belohnung, die einen erwartet: der unmittelbare Eintritt in den Himmel, ein besonderer Platz im Paradies oder die uneingeschränkte Vergebung der Sünden. Nach traditionellem christlichem Verständnis ist der Märtyrertod eine Verherrlichung Gottes. Außerdem werden die Märtyrer von der festen Überzeugung getragen, die vorherrschende Situation werde sich durch ihren Opfertod entweder in Kürze oder in fernerer Zukunft ändern. Dieses Element des Lebens ist im Ideal des Martyriums fest verankert und hat im Geist und Herzen derer, die ihr Leben hingeben, tiefe Wurzeln geschlagen.
Die psychische Erfahrung, die Märtyrer vor ihrem Leiden machen, weist ein bestimmtes allgemeines Muster auf. Nicht Sorge und Trauer herrschen vor, sondern jubelnde Freude, die alles Leid und allen Schmerz, die bevorstehen, weit in den Schatten stellt. Aus den frühchristlichen Erzählungen der Passion der Christin Perpetua können wir ermessen, was solch ein seelischer Zustand bedeutet. Auch heute liegen uns Berichte von Frauen des Bahai-Glaubens vor, denen Einkerkerung und Folter drohte und die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Religionen setzen das Martyrium nicht einfach mit dem gewaltsamen physischen Tod gleich. Vielmehr ist dieses Ideal eingebettet in einen Prozess der Verinnerlichung und Spiritualisierung. Geht diese spirituelle und innere Dimension des Kampfes und Leidens, die mit dem Martyrium verknüpft ist, verloren, so kann eine Religion leicht missverstanden werden. Ein einleuchtendes Beispiel hierfür ist das Ideal des Dschihad im Islam, der eigentlich und ursprünglich den inneren Kampf und Konflikt einer Person meint, ihren Impulsen und bösen Neigungen zu widerstehen und den gottgewollten Weg zu gehen (der größere Dschihad). Diese spirituelle Dimension, die bereits seit Mohammeds Zeiten präsent war, fand ihren bevorzugten Ausdruck und ihre Weiterentwicklung in der Sufi-Tradition.
Im Christentum wurde das Ideal des Martyriums als Selbsthingabe und in der asketischen Praxis (dem sogenannten "weißen Martyrium") spiritualisiert. In der Tat veranlasste das Ende der Verfolgungszeit und damit des Märtyrertodes in den frühen Jahrhunderten viele Christen, sich als Ausgleich in die Wüste zurückzuziehen, um dort ein asketisches und entbehrungsreiches Leben zu führen.
In ähnlicher Weise ist das Schlachtfeld, das den Hintergrund für die hinduistische Schrift der Bhagavad-Gita abgibt, nur ein Symbol für den Krieg und die Kämpfe, die sich im Inneren abspielen. Der Gott Krishna, der den Streitwagen des Kriegshelden Arjuna auf das Schlachtfeld lenkt, unterweist ihn in der Notwendigkeit des Kampfes und dass er vor seiner Pflicht nicht zurückscheuen solle.
Eine andere Form von Spiritualisierung haben wir in der kabbalistischen und chassidischen Tradition des Judentums vor uns. Hier wird das Martyrium in eine kontemplative Erfahrung umgewandelt, die den Tod nachempfindet. Man unterzieht sich auf bewusster Ebene (Nefilat Appayim) freiwillig der Todeserfahrung.
Im Mahayana-Buddhismus - wörtlich übersetzt "großer Ochsenwagen" - wurden die Bodhisattvas als Märtyrer angesehen: Es wird als Selbstopfer aufgefasst, dass sie ihre eigene endgültige Erleuchtung aufschieben, bis auch andere dieses Ziel erreicht haben. Die buddhistischen Jataka-Kommentare (Erläuterungen über die 550 Leben des Buddha) führen uns die verschiedenen Formen vor Augen, in denen der Bodhisattva sein Leben opferte. In diesem Zusammenhang ist auch die Mythologie von König Sibi erwähnenswert, die von den hinduistischen wie auch buddhistischen Traditionen geteilt wird. König Sibi opferte Fleischstücke aus seinem Körper und war schließlich zum Ganzopfer seines Leibes bereit, um seiner königlichen Pflicht gerecht zu werden, seine Untertanen zu schützen. Und als Mahatma Gandhi sein Ideal von Martyrium als Satyagraha - als Standhaftigkeit in der Wahrheit um jeden Preis - entwickelte, ließ er sich vom Prototyp des Harichandra, einer mythischen Figur, inspirieren, die um der Wahrhaftigkeit willen alles verloren hatte.
Eine Umwandlung erfährt die Vorstellung vom Martyrium auch bei dem Versuch der Religionen, den Opfertod als Teil eines kosmischen Kampfes zu begreifen. Hier handelt es sich um eine Form von Spiritualisierung, freilich mit ernsthaften Konsequenzen für die Eindeutigkeit des Begriffs, da Sterben und Töten im Rahmen dieses Kampfes nur allzu oft für berechtigt gehalten werden. Dahinter steht die religiöse Vision eines universalen Kampfes zwischen dem Guten und Bösen oder der Satan, aus dem schließlich das Gute als triumphaler Sieger hervorgeht. Diese Vorstellung eines kosmischen Kampfes hat zu vielen Gewaltakten und zur Tötung vieler Unschuldiger durch militante religiöse Gruppen einen unrühmlichen Beitrag geleistet. Die vielen Toten, die sie zur Folge hatte, werden vor diesem Hintergrund zwar als bedauerlich, aber letztlich unvermeidlich angesehen. Eine solche Wahrnehmung der Weltsituation bringt ganz natürlich ihre eigenen Märtyrer hervor, die sich für den endgültigen Triumph aufopfern.
Mit der Spiritualisierung des Martyriums ist noch ein weiterer Prozess verbunden: War die Bezeichnung Märtyrer Menschen von außergewöhnlichem Format vorbehalten, so hat die Verinnerlichung und Spiritualisierung das Martyrium zu einer allen Menschen zugänglichen Praxis werden lassen. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu einer allgemeinen Popularisierung des Märtyrerideals. So konnte die Praxis des Dschihad - im Sinne des inneren wie äußeren Kampfes - schließlich zum festen Bestandteil der islamischen religiösen Identität werden.
Der Begriff des Martyriums ist im Laufe der Religionsgeschichte keineswegs immer gleich geblieben, sondern hat sich je nach den äußeren Umständen und geschichtlichen Entwicklungen immer wieder gewandelt. Welche sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Bedingungen haben das Auftreten von Märtyrern in den verschiedenen religiösen Traditionen begünstigt? Das Ideal des Märtyrers sich im Zuge des geschichtlich-kulturellen Wandels immer wieder neu ausgeformt hat und dementsprechend auf breiter Front wirkungsvoll eingesetzt wurde. In einem solchen Prozess verschieben sich häufig die Schwerpunkte und tauchen immer neue Blickrichtungen auf - ein einschlägiger Fall in diesem Zusammenhang ist der Dschihad, der nicht immer, wie häufig ausgelegt, den Krieg gegen die Fremden und Ungläubigen meint. So verlagerte der mittelalterliche Sufismus als kontemplative Bewegung seinen Schwerpunkt immer mehr vom physischen Tod als Märtyrer weg und legte ihn mehr auf den inneren spirituellen Kampf. In späterer Zeit wurde der Dschihad dann vollends popularisiert: Aus einem hohen spirituellen Ideal wurde er zur gewöhnlichen Pflicht eines jeden Muslim, Ungläubige zu bekämpfen und sich dabei selbst zu opfern.
Im Islam ist das traditionelle Ideal des Dschihad und Märtyrers - in der schiitischen Tradition wird er mit dem Leiden und Tod des archetypischen Revolutionärs Husain ibn' Ali in Verbindung gebracht - in heutigen politischen Aktivismus wieder neu belebt worden, und zwar mit Blick auf jene Kräfte von außen wie von innen, die sich einem authentischen Glaubensbekenntnis widersetzen. Im Gegensatz zu einem übermäßig spiritualisierten und quietistischen (passiven, verinnerlichten) Verständnis des Dschihad, wie er von den mittelalterlichen Gelehrten unter dem Einfluss des Sufismus entwickelt worden war, kam es dabei zu einer Rekonstruktion der Vorstellung vom Martyrium. So erklärt sich auch, wie das traditionell passive Bild des leidenden Dieners Husain in einem solchen Ausmaß zu einer politisch aktiven Figur umgeformt wurde, dass sie das iranische Volk 1978 zur Revolte gegen das Schah-Regime aufstacheln und diesen zu Fall bringen konnte. Heute richtet sich eine Neuinterpretation des Dschihad gegen den Einfluss des Westens und was als dessen gottwidrige und weltliche Praktiken außerhalb wie innerhalb islamischer Gesellschaften wahrgenommen wird. Diese Entwicklung hat eine neue Art von Märtyrern hervorgebracht.
Eine Umgestaltung und Umformung des Märtyrerideals durch die äußeren Umstände der Zeit lässt sich auch von der Perspektive der jüdischen Tradition her beobachten. Allem Anschein nach hat sich dieses Ideal dort erst viel später herausgebildet. Im Buch Ester sind erste Anfänge erkennbar, die sich dann in Buch Daniel mehr und mehr fortentwickelten. Die geschichtlichen Umstände davor waren für die Entstehung eines solchen Ideals und dessen Praxis aus zwei Gründen ungünstig: Es gab keinen Zusammenhang zwischen der Hingabe des Lebens und einer Belohnung danach. Zusätzlich waren die Machthaber, die über Israel herrschten, in religiöser Hinsicht tolerant.
Auch die chinesische Tradition ließ jene äußeren Bedingungen nicht entstehen, die den Tod als Selbstopfer und das Martyrium als ruhmreiche Tat zu gesellschaftlicher Akzeptanz verholfen hätten. Das lag zum einen am Pragmatismus der Chinesen und ihrer Liebe zum Leben, zum anderen an den Werten der Eintracht und Toleranz. Doch auch unter den jeweils gegebenen Umständen hat es erwiesenermaßen zahlreiche Fälle gegeben, wo Menschen lieber sterben als sich der Unterdrückung und Ungerechtigkeit beugen wollten. Die Erhebung der Taiping-Sekte (1851-1864) sowie der Boxeraufstand (1900/01) haben je ihre eigenen Märtyrer hervorgebracht.
Mahatma Gandhi seinerseits integrierte die Opfer- und Verzichtstradition des Hinduismus in sein Ideal des Satyagraha (der Standhaftigkeit in der Wahrheit) und schöpfte aus ihm die Kraft, der Kolonialregierung zu widerstehen und ihre Rechtmäßigkeit anzufechten. Obschon der Buddhismus stets als religiöse Tradition gilt, die jede Art von Verletzung oder Gewalt verbietet, kennt er in seiner Geschichte doch auch Beispiele von Selbstaufopferung, die durch äußere Umstände bedingt waren, etwa bei den Mönchen im Vietnamkrieg. So hat die Selbstverbrennung des Mönchs Thich Quang Duc an einer Straßenkreuzung in Saigon am 11. Juni 1963 die Nation zu politischem Widerstand gegen den kriegstreiberischen Imperialismus aufgerüttelt und galt allgemein als machtvolles Zeichen der Freiheit. An diesem Beispiel wird deutlich, wie ein religiös gebilligtes Selbstopfer politischen Konflikten eine sakrale Bedeutung zu geben vermag. Auch früher schon hat es in der Geschichte des Buddhismus Fälle gegeben, wo solche Akte der Selbstaufopferung Ausdruck eines religiösen und spirituellen Strebens waren. Doch der neue historische Kontext hat dieses Märtyrer-Ideal zu einer politischen Realität mit zwingender Überzeugungskraft werden lassen.
Was die frühchristlichen Märtyrer im Römischen Reich angeht, so gehörten sie einer kleinen Gruppe an, die über keinerlei Macht verfügte. Die Märtyrer der Kreuzzüge tauchten zu einer Zeit auf, als die christlichen Mächte des Abendlandes gegen die Ungläubigen zu Felde zogen. Und wenn in der Tradition der römisch-katholischen Kirche Maria Goretti und Maximilian Kolbe als Märtyrer heilig gesprochen wurden oder ein Bischof Oscar Romero unter allgemeiner Zustimmung als Märtyrer angesehen wird, so könnte man auch darin eine gewisse Schwerpunktverlagerung und Neubestimmung des Märtyrerideals sehen.
Religionen nehmen für sich das Vorrecht in Anspruch, letzte Wirklichkeiten wie Leben und Tod letztverbindlich zu deuten. Ihr Geheimnischarakter veranlasst sie, in der Deutung auf Symbole, Mythen und Rituale zurückzugreifen, die über den Bereich der kritischen Vernunft hinausgehen. Mit solchen Erklärungsmustern suchen sie die uns allen geläufigen Widersprüche der tagtäglichen Lebenserfahrung miteinander zu versöhnen. Als Martyrium wird religiös gedeutet, was aus menschlicher Sicht eine Tragödie darstellt.
Die Opferrolle, das ertragene Leid und der Tod, die mit dem Martyrium in Verbindung gebracht werden, spiegeln sich auch in den politischen Realitäten wider, Ideologien, Stimmungen und Motivationen, die die Religion anbietet, werden heutzutage auf die Schauplätze ethnischer, regionaler und nationaler Gewalt-Konflikte übertragen. Als Folge davon stehen wir heute vor einer schillernden Mehrdeutigkeit des Begriffs. Wie die Religion, so deckt auch das Martyrium, was seinen Wirkungsradius und seine Interpretation angeht, ein sehr breites Spektrum ab. Es steht heute, wie die Religion, für die edelsten menschlichen Werte wie die abscheulichsten Verbrechen, deren Menschen fähig sind - und das alles im Namen Gottes.
Die religiösen Traditionen müssen das klassische Ideal des Martyriums durch Erziehung zu Toleranz und Frieden wieder ins rechte Lot bringen. Heute könnte ein aus den Fugen geratenes Märtyrerideal, dessen Proportionen nicht mehr stimmen, einem religiösen Fundamentalismus Vorschub leisten und Religionen ins Gegenteil dessen verkehren, was sie zu sein beanspruchen - nämlich Agenten des Friedens.
Die Welt braucht heute (im ursprünglichen Sinn von Märtyrer) Zeugen der Liebe und Gerechtigkeit, der Toleranz und des Friedens, Zeugen, die bereit sind, sich selbst bis zum Letzten für ein tieferes Verständnis unter den Völkern, Nationen und Religionen einzusetzen. So gesehen sind Märtyrer nicht mehr der Besitz irgendeiner einzelnen religiösen Gemeinschaft. Sie gehören der ganzen Menschheit, weil sie durch ihr Opfer, ihre Standhaftigkeit, Tapferkeit und Treue für die universalen Werte der Wahrheit, Liebe Gerechtigkeit und des Frieden ein unübersehbares Zeugnis ablegen. Könnten die verschiedenen religiösen Traditionen nicht gemeinsam eine Atmosphäre schaffen, aus der solche universalen Märtyrer hervorgingen? Dazu bedarf es freilich eines neuen Denkens vom Martyrium, und damit sollten wir beginnen.
aus: der überblick 02/2003, Seite 54
AUTOR(EN):
Felix Wilfred:
Professor Felix Wilfred ist Dekan der "School of Philosophy and Religious Thought" der "State University of Madras", Indien. Er war Gastprofessor an den Universitäten von Nijmegen, Münster, Frankfurt/Main und Ateneo de Manila und war Mitglied der Internationalen Theologischen Kommission des Vatikans. Eine längere Fassung diese Artikels erschien im März 2003 in "Concilium".