Die Pest an Bord?
Nach 27 Jahren unter Präsident Didier Ratsiraka führt in Madagaskar seit gut einem Jahr Marc Ravalomanana als neuer Präsident die Amtsgeschäfte. Große Hoffnungen hatten die Madagassen auf den Regierungswechsel gesetzt. Doch Ravalomanana hält nicht, was er versprach.
von Sylvain Urfer
Am 6. Mai 2002 wurde Marc Ravalomanana Präsident der Republik Madagaskar. Nach der Selbsternennung vom 22. Februar 2002 verlieh ihm diese zweite Amtseinsetzung endlich die Legalität, die ihm bis zu diesem Zeitpunkt gefehlt hatte. Es dauerte noch zwei Monate, bis zur Flucht seines Vorgängers Didier Ratsiraka nach Frankreich am 5. Juli 2002, bevor seine Machtbefugnisse auf dem gesamten Staatsgebiet anerkannt waren. Seit einem Jahr hat also die neue Regierung alle Trümpfe in der Hand. Für einen Spitzenpolitiker ist es lange genug um seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, und für Beobachter um eine erste Bilanz zu ziehen.
Ministerpräsident Jacques Sylla wurde seit seiner ersten Amtseinsetzung im März 2002 bereits dreimal im Amt bestätigt. Jedesmal wurden einige Minister ausgewechselt und die Regierungsstrukturen geändert. Das hat bis heute zu einer langen Reihe von Ernennungen durch aufeinander folgende Ministerräte geführt. Die Auswechslung aller Verantwortlichen stößt jedoch an Grenzen: Wenn der Personalbestand an ausgebildeten und erfahrenen Führungskräften erschöpft ist, dann wird der Vettern- und Cliquenwirtschaft auf Kosten der Effizienz Vorschub geleistet.
Den ersten Kreis der neuen Chefs bilden die Männer um den Präsidenten. Das sind Führungskräfte seines Agrarunternehmens Tiko, das vor allem Trockenmilch produziert. Rajemison Rakotomaharo wurde das wichtige Amt des Vorsitz des Senats zugeschanzt, die Führung der Partei des Präsidenten TIM (Tiako i Madagasikara - Ich liebe Madagaskar) hat Andrianantoandro Raharinaivo übernommen und als Bürgermeister der Hauptstadt Antananarivo wurde Patrick Ramiaramanana eingesetzt. Den zweiten Kreis bilden die Politiker, die von Anfang an auf der Seite des Präsidenten gestanden haben: unter anderen der Ministerpräsident Sylla, der Vorsitzende der Antenimieram-Pirenena, der Nationalversammlung, Jean Lahiniriko, sowie Botschafter und Berater des Präsidenten. Alle die glauben, dass sie einen ihren Verdiensten entsprechenden Posten erhalten haben, sind dem Präsidenten treu geblieben, während die anderen nach und nach zur Opposition überwechselten.
Dass Wahlämter oder politische Posten wie Ministerämter, die Aufgabe als Generalsekretäre und Direktoren von Ministerien, Ämter als Provinzchefs - in großer Zahl an Militärs vergeben werden, wirft jedoch etliche Fragen auf. Auch dass immer häufiger einflussreiche Personen des vorherigen Regimes in Gnaden wieder aufgenommen werden - wie der frühere Vorsitzende des Senats Honoré Rakotomanana, der zum obersten Rechnungsprüfer der Zentralbank ernannt wurde B, löst in der Öffentlichkeit Besorgnis aus und stößt auf Ablehnung.
Schlimmer noch: Sie wurden im Namen von fahamarinana (Wahrheit und Gerechtigkeit) und von fahamasinana (Heiligkeit) eingesetzt, um eine gute Staatsführung und den Rechtsstaat herzustellen. Doch sie treten die elementarsten Regeln mit Füßen. Am 17. April äußerte sich die Expertenkommission l'Observatoire de la vie publique kritisch zu den Parlamentswahlen vom 15. Dezember 2002. Die Partei TIM und die Parteienkoalition Firaisan-kinam-pirenena (Nationale Einheit) haben mit nur 40 Prozent der abgegebenen Stimmen fast 80 Prozent der Sitze gewonnen. Damit haben lediglich 30 Prozent der eingeschriebenen Wahlberechtigten für sie gestimmt. 33 Prozent der Wahlberechtigen nahmen gar nicht an der Wahl teil. Die Kommission ist aus der unabhängigen Wahlkommission CNOE (Comité National d'Observation des Elections) hervorgegangen, hat sich als Gewissen der Nation etabliert und kommentiert die Missstände im Land.
In dem gleichen Artikel hieß es weiter, dass "die Regierung seit fast einem Jahr sehr einflussreiche Wahlämter durch einfache Ernennung besetzt. Dabei handelt es sich insbesondere um die sechs Provinzgouverneure und die Bürgermeister von mehreren Städten - darunter die Hauptstadt Antananarivo und Antsirabe. Die meisten dieser Posten wurden bereits mit zwei PDS (Président de Délégation Spéciale) hintereinander besetzt, ohne dass für die Absetzung der ersten PDS irgendwelche Gründe angegeben oder Termine für die zur Besetzung dieser Ämter gesetzlich vorgeschriebenen Wahlen festgelegt worden wären, obwohl der Abhaltung von Wahlen nichts im Wege steht".
Marc Ravalomanana ist nicht aufgrund eines Programms gewählt worden - er hatte keines B, sondern weil die meisten Menschen im Lande genug von Didier Ratsiraka hatten. Ravalomanana galt als ein Mann, der fähig ist, dem Land die erwarteten Veränderungen zu bringen, nämlich Demokratie und Wohlstand. Seit er im Amt ist, hat er eine Reihe von vorrangigen Zielen verkündet: den Ausbau und die Instandsetzung des Straßennetzes und die Verbesserung des Bildungswesens, die Förderung des Privatsektors, des Gesundheitswesens und des Umweltschutzes sowie seit kurzem den unvermeidlichen Kampf gegen die Armut. Diese Ziele fanden in dem Slogan "rasche Entwicklung" Ausdruck, woraus seit der UN-Konferenz von Johannesburg im September 2002 "rasche und nachhaltige Entwicklung" geworden ist.
Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass die Versprechen nicht in ein Gesamtprogramm eingebettet sind. Nur ein Gesamtprogramm ermöglicht Fortschritte in allen Lebensbereichen im Lande und die Verbesserung der Lebensbedingungen der gesamten Bevölkerung. Zum zweiten ist offen, wie die Versprechen finanziert werden sollen: Da die Sparquote unbedeutend und die Steuereintreibungsrate sehr gering sind, wird der Staatshaushalt Madagaskars zu 80 Prozent durch Hilfe aus dem Ausland - beispielsweise von der Weltbank, der Europäischen Union, Frankreich, den Vereinigten Staaten oder Deutschland - finanziert. Schlimmer noch ist, dass zahlreiche Entscheidungen getroffen wurden, ohne dass ihre Auswirkungen ernsthaft untersucht worden wären. So wurde verfügt, die "Wiedereintreibung der Gesundheitskosten" abzuschaffen. Doch besteht die Gefahr, dass diese Entscheidung wieder zurückgenommen werden muss, da der Staat weder die Mittel für eine kostenlose Gesundheitsversorgung der Bevölkerung noch den politischen Willen besitzt, die Reichen davon auszuschließen. Auch die kostenlose Bildung, angefangen mit dem Grundschulunterricht, könnte an Haushalts- und Organisationszwängen scheitern: Finanziert der Staat alle Schulen ungeachtet ihrer Schülerzahl, ihres Niveaus, des Zustands ihrer Räumlichkeiten, ihrer Ausrichtung oder Trägerschaft?
Eine weitere Unbekannte ergibt sich daraus, dass die neuen Machthaber keinerlei regionale und sektorale Strategie haben. Die Entscheidungen über die Art und Zuordnung der neuen Investitionen sollten von den landwirtschaftlichen und industriellen Zielen des Landes abhängen. Sonst wird weiter ineffizient und ruinös verteilt wie in den letzten Jahren: Nur für die Hauptstadt wird es weiterhin Ausrüstungen und dauerhafte Arbeitsplätze geben. Selbst Investitionen im Straßenbau - das Hauptanliegen des Präsidenten B, sind nur sinnvoll, wenn gleichzeitig die Produktion von Waren gefördert wird.
Die Privatisierungen, die dem Willen zur Förderung des Privatsektors entsprechen - aber die Gefahr eines Abbaus der öffentlichen Dienstleistungen im Kauf nehmen B, sind immer geheimnisumwittert, und oft ist das Vorgehen dabei fragwürdig. In fünf Jahren sind lediglich 15 Unternehmen von 100 tatsächlich privatisiert worden. Seit einem Jahr wurden in keinem Bereich Fortschritte erzielt, in einigen hat es sogar Rückschritte gegeben: bei den Eisenbahnen, der Telekommunikation, dem Flugverkehr, in der Zuckerproduktion und anderen Branchen.
Alle diese Projekte haben nach der landesweiten Konferenz, die vom 25. bis zum 26. März im Staatspalast von Iavoloha stattfand, einer neuen Marotte Platz gemacht: der Strategie zur Armutsminderung, den PRSP (Poverty Reduction Strategy Papers). Die sind ein Geschöpf der neuen politischen Linie der Weltbank: Nach der Beseitigung von bestimmten Punkten, die an Ratsiraka erinnern, ist das PRSP zur neuen Bibel für eine rasche und nachhaltige Entwicklung geworden. Es gibt keine Rede, in der nicht darauf Bezug genommen und daran erinnert wird, dass der Wille des Volkes darin zum Ausdruck kommt. Allerdings kennt kaum jemand diesen Text, der auf Französisch verfasst und nur an eine kleine Gruppe von Eingeweihten verteilt wurde.
Nach dem ersten Jahr seiner Präsidentschaft hat Marc Ravalomanana die Unklarheiten bezüglich seiner wahren Absichten nicht beseitigen können. Der erhoffte Neubeginn hat nicht stattgefunden, die alten Gewohnheiten haben sich wieder eingeschlichen, und der Aufschwung der Wirtschaft lässt auf sich warten. Sicher: Die Reden sind immer noch moralisierend und voll guter Absichten. Doch die Praxis entfernt sich immer weiter davon und macht einem Autoritarismus Platz, der keine abweichenden Auffassungen duldet. Hinzu kommen Entscheidungen, die über Recht und Gesetz einfach hinweggehen.
Als erstes ist festzustellen, dass Ravalomanana alle Institutionen und Gesetze seines Vorgängers beibehalten hat, auch solche, die er zuvor verurteilt hatte: Verfassung, Wahlgesetz, Senat, autonome Provinzen. Der verheißene Oberste Gerichtshof jedoch wurde immer noch nicht eingerichtet. Dass die neuen Machthaber die Verfassung nicht achten, zeigt sich darin, dass die Senatoren und die PDS nicht verfassungskonform gewählt, sondern ernannt wurden. Ravalomanana setzte das Finanzgesetz alleine durch, ohne dass es (verfassungsgemäß) vom Parlament verabschiedet wurde. Außerdem haben einige der TIM-Kandidaten während der Parlamentswahlen öffentliche Güter missbraucht: Sie haben Beamte - aus dem Gesundheits- wie aus dem Erziehungsministerium und aus der Verwaltung - und öffentliche Güter, wie Dienstwagen, öffentliche Gebäude und Schulen für ihre Propaganda und Erpressungsversuche gegenüber der Bevölkerung benutzt. Auch berücksichtigen die Machthaber nicht, dass Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften (Arbeitnehmer) zusammen an einem Beschäftigungsmodell arbeiten und auch gemeinsam in die Landeskasse für Sozialversicherung CNaPS einzahlen sollen: Nun hat der Minister für Arbeit und Soziales, Jean-Jacques Rabenirina, einseitig versucht, seine Entscheidungen durchzusetzen. Genauso wenig halten sie sich an die unterzeichneten Konventionen der UNESCO (Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation) oder an Abmachungen mit Sportverbänden, einschließlich des Internationalen Fußballverbandes FIFA (Fédération internationale du football association): Der Minister für Sport René Ndalana ersetzte kurzer Hand den gewählten Präsidenten des madagassischen Fußballclubs durch seinen Kandidaten (allerdings musste Ndalana dann auf Druck der FIFA seinen Hut nehmen).
Parallel dazu häufen sich in beunruhigender Weise Affären: Das schadet dem Image von Transparenz und Integrität, das sich die Regierung geben wollte. Der Rücktritt des Direktors der Steuerbehörde, Rajaonah Randriambololona, und die Entlassung des Direktors der Zollbehörde, Fulgence Rabemananjara, sind nicht nur Funktionsstörungen. Der Konflikt zwischen dem Justizminister Alice Rajaonah und dem Richterbund lässt erkennen, dass die Justiz weder von der Exekutive unabhängig noch von Korruption frei ist.
Der Opposition nutzt das jedoch kaum. Das gesellschaftliche Ideal des Konsenses bremst das Entstehen einer echten Opposition. Die jetzige Opposition besteht aus Personen, die keine Posten erhalten haben, und nicht aus solchen, die eine Alternative zu der an der Macht befindlichen Mehrheit vorschlagen. Die Opposition besteht aus drei Gruppen. Zum einen sind das die Anhänger von AREMA, (Action pour la Renaissance de Madagascar) der Partei des früheren Präsidenten Ratsirakas. Sie machen gegen die Verhaftung früherer Führungskräfte mobil, wie beispielsweise gegen die des vorherigen Ministerpräsidenten und AREMA-Generalsekretärs Pierrot Rajaonarivelo, der zwar von einem ordentlichen Gericht, nicht aber von der höchsten Instanz verurteilt worden ist. Die zweite Gruppe ist das Comité de Réconciliation Nationale (CRN): Diese nationale Versöhnungskommission unter Albert Zafy verurteilt die politischen Inhaftierungen und wirft den jetzigen Machthabern vor, die Ethnien der Merina auf Kosten der Küstenbewohner zu bevorzugen. Die dritte Gruppe bildet ein loses Bündnis von politischen Organisationen wie KMMR, ein Komitee, das Ravalomanana im Wahlkampf unterstützt hatte, danach aber von ihm entmachtet wurde, die Bewegung MFM (Militants pour le progrès de Madagascar), Grad-Iloafo (eine Studiengruppe für die Entwicklung von Madagaskar), PR (Parti Républicain) und der politischen Splittergruppe Masters.
Die Erwartungen der Bevölkerung werden bisher noch kaum berücksichtigt. Nach der ersten Freude über die Vertreibung von Ratsiraka aus seinem Amt ist Ernüchterung eingetreten. Wenn nichts Konkretes geschieht, wird es zu Ablehnung der neuen Regierung und gar zu Feindseligkeit kommen. Denn als Anhänger der liberalen Ideologie ist Ravalomanana für die Empfehlungen von Internationalem Währungsfond und Weltbank aufgeschlossen, und im Denken und Handeln dieser Institutionen nehmen soziale Aspekte nicht gerade einen vorrangigen Platz ein. So wurde der Mindestlohn zwar um 10 bis 12 Prozent erhöht (was umgerechnet weniger als 30 Euro entspricht), doch die Inflation betrug 2002 offiziell 15 Prozent, in Wirklichkeit 25 Prozent. Und die bedingungslose Annahme des PRSP, der Anleitung beim Kampf gegen die Armut und des Unterpfandes für den Schuldenerlass, lässt die Prognose zu, dass um der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit willen zahlreiche Menschen zu kurz kommen werden.
Noch ein letzter Aspekt ist anzumerken: der erstaunliche Einfluss des FFKM - des Christlichen Kirchenrates, dem Katholiken, Reformierte, Lutheraner und Anglikaner angehören (vergl. "der überblick" 2/2002). Wie in den Jahren von 1990 bis 1992 haben sich diese Kirchen auch in den Jahren 2001 bis 2002 beim Kampf für die Demokratie gegen ein Regime engagiert, das sein Volk unterdrückt und verarmt hat. Und wie von 1990 bis 1992 haben einige ihrer Verantwortlichen an der Macht Geschmack gefunden und bezeugen deutlich ihre Unterstützung für das neue Regime, das sich im Gegenzug ihnen zu Dank verpflichtet weiß. Dieses Zusammenspiel wird nicht nur von zahlreichen Menschen im Lande missbilligt, sondern es spaltet auch die Kirchen: Etliche katholische Bischöfe zum Beispiel sind der Meinung, dass die Ablehnung der Diktatur von Ratsiraka nicht unbedingt bedeutet, dass die Menschen für Ravalomanana sind.
Zusammenfassend kann man sagen, dass auf den neuen Präsidenten eine doppelte Herausforderung wartet: Erstens, den Erwartungen der Bevölkerung gerecht zu werden, die nicht immer seinen eigenen Präferenzen entsprechen. Damit kann er nicht mehr lange warten, nachdem das Kapitel Ratsiraka nun endgültig abgeschlossen ist. Andernfalls würde sich sein Handlungsspielraum um so rascher verringern, weil er außerhalb seiner Provinz Antananarivo und den großen Städten des Landes keine ihm treu ergebene Wählerbasis besitzt. Die zweite Herausforderung besteht für Ravalomanana darin, seiner Aufgabe als Politiker gerecht zu werden. Wenn er wiederholt behauptet, dass er 80 Prozent seiner Zeit der Wirtschaft und 20 Prozent dem politischen Alltagsgeschäft widmet, dann legt er ein beunruhigendes Unverständnis von Politik an den Tag. Wenn sich ein Wirtschaftsmanager wie er für eine politische Karriere entschieden hat, dann doch wohl, weil die Wirtschaft die Vermittlung der Politik braucht, die allein Garant der Solidarität und der Gerechtigkeit ist, mit anderen Worten: des Gemeinwohls.
aus: der überblick 03/2003, Seite 48
AUTOR(EN):
Sylvain Urfer:
Sylvain Urfer, Jesuit und Soziologe, lebt seit über 30 Jahren in Madagaskar. Er ist Pfarrer eines Slumviertels von Antananarivo und hat mit madagassischen Führungskräten aus Politik, Wirtschaft und Kultur den Reflexionskreis "Glaube und Gerechtigkeit" aufgebaut.