Der Mammutgipfel in Johannesburg ist vorbei - was nun?
Ein Blick zurück: Das Konferenzzentrum Sandton Convention Centre in Johannesburg, mit angeschlossener Geschäftszeile, eine südafrikanische Wagenburg im toskanischen Stil. Und auf dem Sandton Square mittendrin der Earth Dome von BMW mit dem Motto: "Sustainability. It can be done." (Nachhaltigkeit ist erreichbar).
von Wilfried Steen
Beeindruckend ist die mit Wasserstoff betriebene Luxuskarosse. Doch die Begeisterung der Konferenzteilnehmer über diesen Ausstellungsgigantismus der Autoindustrie hält sich in Grenzen. Gegen Ende des Gipfels sind auch die BMW-Verantwortlichen um eine Erfahrung reicher. Sie bieten der internationalen Umweltorganisation Friends of the Earth ihren BMW-Earth Dome für eine Veranstaltung an. Das Image soll mit dem moralischen Glanz der nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) aufpoliert werden.
Der Mammutgipfel zur Nachhaltigkeit in Johannesburg ist vorbei. Längst haben sich die Medien anderen Brennpunkten des Weltinteresses zugewandt. Nach dem Großereignis mit schätzungsweise 30.000 Teilnehmern bleiben Fragen: Hat sich der Aufwand für die NGOs gelohnt? Tonnenweise Papier zu produzieren, das anschließend gleich in den Müll wandert? Durch Flugreisen CO2 in die Atmosphäre zu blasen und als Kompensation medienwirksam Bäumchen in Soweto pflanzen? Das kann nicht alles sein. Was aber dann?
Werfen wir einen Blick auf vier Weltkonferenzen des Jahres 2002: Das Weltsozialforum in Porto Alegre, die Konferenz der Vereinten Nationen (UN) zur Entwicklungsfinanzierung im mexikanischen Monterrey, der G8-Gipfel in Kananaskis (Kanada) und der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg. Die Ergebnisse der Konferenzen werden allgemein als mager eingestuft. Große Durchbrüche in der Mehrung weltweiter Gerechtigkeit sind nicht zu verzeichnen. Zwar heißt es, dass Reisen bildet. Außerdem bringen UN-Konferenzen eine Menge Erkenntnisse und Gesprächsmöglichkeiten. Trotzdem: Verschwenden wir als NGO und kirchliche Werke nicht unsere Kraft und unser Geld? Was bringt der Konferenzreigen für die Armen, was für die Stärkung der Zivilgesellschaft? Dienen diese Konferenzen nicht vielleicht nur als Psychopharmakon, um die eigene Wichtigkeit zu spüren?
In Porto Alegre träumten 60.000 Teilnehmer von einer gerechten Welt. "Eine andere Welt ist möglich", das war das Motto des Weltsozialforums in der südbrasilianischen Metropole, das vielfach als weltweiter Aufbruch der Globalisierungskritiker gefeiert wurde. Ende Januar 2002 haben sich Vertreter der Zivilgesellschaft versammelt, um ihre Vorstellungen von Globalisierung der Solidarität gegen die Globalisierungseuphorie des gleichzeitig in New York tagenden Weltwirtschaftsforums zu setzen: Porto Alegre war eine grandiose Schau der Selbstvergewisserung.
Vor allen Dingen ist das Netzwerk ATTAC damit in die Schlagzeilen der internationalen Medien gerückt. Gerade in Porto Alegre wurde deutlich, wie vielfältig das ist, was sich soziale Bewegung, Zivilgesellschaft oder nichtstaatliche Organisationen nennt. Eindeutiger Erfolg des Weltsozialforums war, dass Ausgrenzung vermieden und damit der Patchwork-Teppich der NGO-Landschaft ernst genommen wurde. Wissenschaftlerinnen diskutierten mit Gewerkschaftlern, landlose Bauern mit Vertreterinnen verschiedenster Parlamente. Ideologische Verhärtungen unterblieben. Ob dies auch 2003 in Porto Alegre gelingen wird, bleibt eine Frage. Eine Prominente, wie die Globalisierungsgegnerin Naomi Klein, die beim Weltsozialforum viel Beifall einheimste, bezeichnete nämlich kürzlich in einem Interview die Regierungen der Industriestaaten als Marionetten der globalisierten Industriemacht. Die multinationalen Unternehmen aber seien von vornherein vom Teufel. Man dürfe sich nicht mit ihnen einlassen.
Was den NGOs die grandiose Schau in Porto Alegre, war für die Reichen die große Show in Monterrey und Kananaskis. Financing for Development -Entwicklungsfinanzierung, hieß die UN-Konferenz im März 2002 im mexikanischen Monterrey. Ihre Besonderheit war, dass der Beschlusstext schon vor Beginn der Konferenz feststand. In Monterrey verstanden es die USA, ihre finanziellen Zuwendungen zur Entwicklung der armen Welt vor der Weltöffentlichkeit zu zelebrieren, obwohl die Europäische Union weit mehr Mittel für Entwicklungszusammenarbeit bereitstellt. Die NGOs konnten der Wucht dieser PR-Kampagne nur ihre qualifizierte Skepsis entgegensetzen und auf Umsetzung der vollmundigen Versprechungen drängen.
Dennoch haben die NGOs in Monterrey erstaunliche Lobby-Erfolge zu vermelden. Ohne sie wäre der Gedanke eines Insolvenzverfahrens für überschuldete Staaten nie und nimmer ernsthaft in Erwägung gezogen worden. Ohne sie hätten Staaten wie die Bundesrepublik oder Frankreich nie Überlegungen zu einer weltweiten Devisentransaktionssteuer angestellt.
Nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen während des G7-Gipfels in Genua 2001 suchten die G8-Staaten im Jahr 2002 den Globalisierungskritikern und -gegnern ein Schnippchen zu schlagen. Im Ferienort Kananaskis in den kanadischen Rocky Mountains, wo einem eher ein Grizzly als ein Wanderer begegnet, waren die NGOs ausgeschlossen. Ein Sieg der Hardliner, die ohnehin nichts von einer Beteiligung der Zivilgesellschaft halten?
Wohl kaum. Tränengaswolken kann man verhindern, nicht aber bohrende Fragen nach Gerechtigkeit: etwa zum Protektionismus im Welthandel, zur mangelnden Armutsbekämpfung, zu HIV/Aids und anderen Seuchen. Die Probleme sind auf der Tagesordnung der Welt und verlieren sich nicht einfach in der einsamen Schönheit der kanadischen Bergwelt.
Auch zum Erdgipfel in Johannesburg waren nicht alle NGOs zugelassen. "Out in the cold!"-Hinaus in die Kälte, titelte die Summit Star, einer der Konferenzzeitungen, weil NGOs vom eigentlichen Konferenzgeschehen ausgeschlossen waren. Das erzeugte Frust. Viele kleine Organisationen haben eine Masse Geld investiert, um mit dabei sein zu können. Die südafrikanische Regierung hatte den Ausschluss eher formal begründet: Der Raum reiche nicht, feuerpolizeiliche Vorschriften stünden einer größeren Zahl von NGO-Teilnehmenden entgegen. Nach einer erregten NGO-Versammlung knickten die Herren des Kongresszentrums ein. In der zweiten Woche der Konferenz hatten die NGOs einen besseren Zugang zum Plenum als manche offizielle Delegierte.
Am Schluss des Weltgipfels in Johannesburg waren die Vertreter der Zivilgesellschaft mit Recht enttäuscht. Sie wollten einen Welthandel, der nicht auf Kosten der Armen und der Umwelt geht. Die NGOs wollten alle Akteure der Weltwirtschaft in die Verantwortung nehmen - auf neudeutsch heißt das Corporate Accountability. In Johannesburg kam man diesem Ziel einen kleinen Schritt näher.
Die Lobbyisten kämpften darum, dass am Ende des Konferenzmarathons nicht nur Krümel für die Armen übrig bleiben. An diesen Problemen und Ansprüchen gemessen sind die Ergebnisse, die die Regierungen in Johannesburg zustande gebracht haben, mager.
Und die Kirchen? Die Evangelische Kirche in Deutschland hat gemeinsam mit der Deutschen Bischofskonferenz im Vorfeld von Johannesburg eine lesenswerte Stellungnahme herausgegeben, der man mehr Beachtung gewünscht hätte. Ebenfalls ist das Wittenberger Memorandum der Bilanztagung zur nachhaltigen Entwicklung in Kirche und Gesellschaft schnell in den Stapeln der unzähligen Broschüren vor Johannesburg verschwunden. Viel zu schnell, möchte man sagen. Denn die Tagungsdokumentation gibt einen guten Überblick über das breite Engagement der deutschen Kirchen für eine nachhaltige Entwicklung. Das Problem dabei ist: Außer ein paar Spezialisten erfährt niemand davon. Dieses Problem ist nicht spezifisch deutsch, es setzt sich auf internationaler Ebene fort.
In Johannesburg gaben Greenpeace, WWF, Friends of the Earth und Oxfam den Ton an. Von den Kirchen war da nicht viel zu sehen. Die Konsequenz kann nur heißen: Wenn die Kirchen auf der Ebene der internationalen Politik weiterhin eine Stimme haben und Anliegen einer nachhaltigen Entwicklung durchsetzen wollen, werden sie für die entwicklungspolitische Lobbyarbeit mehr Kapazitäten schaffen müssen.
Insgesamt ist zu beobachten, dass die Kirchen, die nach ihrem Selbstverständnis seit jeher eigenständiger Teil der Zivilgesellschaft sind, bei internationalen Lobbyanliegen aber eher im Hintergrund stehen. Die ökumenischen Initiativen laufen spürbar schwergängiger. Von den Medien werden sie kaum beachtet. Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), früher auf der UN-Ebene in herausragender Position unter den nichtstaatlichen Organisationen, ist heute ein Schatten seiner selbst. In Johannesburg hatte das ökumenische Team gewisses Verständnis für Mugabes "Landreform" in Simbabwe bekundet. Freunde der ökumenischen Bewegung schütteln den Kopf über solch unverantwortliche Positionen.
Mit der Rio-Konferenz 1992 hatte der Aufstieg der NGOs zu einer festen Größe in den internationalen Verhandlungen begonnen. Sie werden von den Regierungen ernster genommen als noch vor Jahren. Zu fast jeder Delegation in Johannesburg gehörten auch Vertreter von NGOs. Dass sich auch die Verbände der Industrie schon lange als nichtstaatliche Organisationen verstehen, ist den Eingeweihten klar. Aber all das macht die Landschaft der Zivilgesellschaft unübersichtlich und reizt dazu, die demokratische Legitimation in Frage zu stellen. Schließlich seien NGOs von keinem Wähler legitimiert. Ein interessantes Argument, wenn man sich die intensiven Lobby-Tätigkeiten der Wirtschaft vor Augen führt und sich nach der demokratischen Legitimation von Wirtschaftsverbänden fragt. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Denn wer weiß schon, dass bei Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) die Wirtschaftsverbände regelmäßig Teil der deutschen Regierungsdelegation sind, während die NGOs noch nicht einmal am Katzentisch sitzen?
Die Konferenzen im Jahr 2002 zeigen: Von einem gesicherten Mandat der NGOs, am internationalen Konferenzgeschehen angemessen teilnehmen zu dürfen, sind wir noch weit entfernt. So lange der fachliche Dialog einen Mehrwert für die Delegierten aus den Regierungen bringt, sind NGOs als Gesprächspartner willkommen. Wenn es aber um die harten Entscheidungen der Politik geht, dann möchte man sich in Regierungskreisen doch nicht reinreden lassen.
Die NGO-Szene mausert sich vom Laienspiel zur Professionalität. Wer als Anwalt der Armen oder der Umwelt auftreten möchte, braucht mehr als gute Absichten, um einen Fuß in die Tür zu den politischen Entscheidungsträgern zu bekommen. Gefragt ist heute eine profunde Kenntnis der inhaltlichen Zusammenhänge, die zur Debatte stehen. Wer in Johannesburg oder sonstwo erfolgreich Lobbyarbeit machen will, muss eine Passage des Aktionsprogramm-Entwurfes sofort erfassen, sie auf ihren politischen Gehalt hin analysieren und kritisieren können. Umgehend muss eine Alternativformulierung zur Hand sein. Frage an die Experten: Nimmt der neue Text über Handel im Aktionsplan des Weltgipfels Doha-Language (also die Formulierungen der Minister-Erklärung der 4. WTO-Konferenz in Doha) auf oder geht er darüber hinaus? Wenn ja, stellt dies eine Verbesserung oder eine Verschlechterung dar?
In Johannesburg witzelten die deutschen NGOs, Paragraph 42o unterstütze den Paragraphen 8j gegen 27.3b. Gemeint ist Paragraph 42o des Johannesburg-Dokuments, der von einem neuen Vertrag für den Vorteilsausgleich aus der Nutzung genetischer Ressourcen spricht. Dies stärkt wiederum den Schutz traditionellen Wissens in Artikel 8j der Konvention über biologische Vielfalt gegenüber den Patentierungsvorschriften in Artikel 27.3b im Abkommen der WTO zu den handelsbezogenen Rechten an geistigem Eigentum (TRIPs).
Aber nicht nur detaillierte Sachkenntnis ist gefragt. Auch die handelnden Personen zu kennen, ist essenziell. Die Profis der NGOs kennen ihre Gegenüber in den Ministerien teilweise schon seit Jahren, von Podiumsdiskussionen, von Veranstaltungen, von Kamingesprächen. Wer hier nicht im Vorbereitungsprozess einer Konferenz stetig präsent war, wird bei der Tagung selbst kaum noch ein Bein auf den Boden bekommen. Hier gibt es auch keine Unterschiede zwischen Kirchen und NGOs, zwischen großen und kleinen Organisationen. Ernst genommen wird nur, wer sich inhaltlich auskennt und "in der Szene" bekannt ist.
Um bei internationalen Konferenzen Punkte machen zu können, müssen NGOs daher zunächst investieren: Zum Rüstzeug gehören das inhaltlich-fachliche Know-how und die Kenntnis der handelnden Akteure auf Regierungs-wie auch auf nichtstaatlicher Seite. Für viele der deutschen NGOs besteht dabei auf internationaler Ebene durchaus noch Spielraum, sich effektiver einzubringen. Es stellt sich schnell heraus, dass sich nur wenige auf dem internationalen Parkett wirklich auskennen.
Nach dem Erdgipfel in Johannesburg werden sich die Entwicklungs-NGOs aus Deutschland fragen müssen, ob sie sich nicht für eine stärkere internationale Zusammenarbeit einsetzen müssen, um besser agieren zu können. Beispielsweise war weit und breit nichts von Verbindungen zu französischen NGOs zu erkennen, die in der Lage gewesen wären, Druck auf ihre Delegation wegen der starren Haltung bei Agrarsubventionen auszuüben. ATTAC, so konnte man auf den Gängen des Convention-Centres vernehmen, konzentriere sich lieber auf die G8-Gipfel und die Verhandlungen im Rahmen der WTO.
Andererseits gibt es ermutigende Beispiele über gelungene internationale Kooperationen in Johannesburg, beispielsweise zwischen dem Evangelische Entwicklungsdienst und Third World Network, wohl eine der professionellsten NGOs in Johannesburg. Solche Kooperationen müssen für die folgenden Ereignisse, etwa für die WTO-Ministerkonferenz im nächsten Jahr im mexikanischen Cancun, kontinuierlich ausgebaut werden.
Die Kirchen in Deutschland täten gut daran, sich bei globalen Themen stärker auf die Kompetenz ihrer Entwicklungsorganisationen zu verlassen. Denn in Johannesburg, in Kananaskis, in Porto Alegre oder sonst wo ist längst nicht mehr nur die Rede von Armut im Süden oder von Problemen der Entwicklungsländer im engeren Sinne. Bei all diesen Konferenzen geht es letztlich um verschiedene Facetten globaler Gerechtigkeit. Für Entwicklungsorganisationen eher klassischen Zuschnitts bedeutet dies eine neue Herausforderung. Die Kirchen sollten dieser Herausforderung aktiv begegnen und das Feld nicht allein den säkularen NGOs überlassen. Schon deshalb ist die Teilnahme von Kirchen, kirchlichen Werken und Einrichtungen an solchen Großereignissen wichtig.
In der internationalen Lobbyarbeit zählt der olympische Gedanke allerdings wenig. Dabei sein ist nicht alles. Der Kampf um weltweit mehr Gerechtigkeit kann nicht gewonnen werden ohne ein starkes professionelles Engagement der Kirchen und NGOs. Sonst bleiben für die Armen der Erde nur Krümel.
aus: der überblick 03/2002, Seite 114
AUTOR(EN):
Wilfried Steen:
Wilfried Steen ist Mitglied des Vorstandes und Leiter des Inlandsressorts des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED).