Meditation über 5. Mose 5, 14; 11-28 und 16, 11-14. ... dein Fremdling, der in der Stadt lebt
Aus der Wirtschaft kommt der Anstoß zu neuen Erkenntnissen: Wir sind auf ausländische Experten in Teilbereichen unserer Wirtschaft angewiesen. Plötzlich ist die Greencard im Gespräch. Mindestens 20.000 Computerexperten sollen gerufen werden, um in diesem Land Lücken zu füllen. Ihnen werden vorweg zeitliche Grenzen gesetzt: Höchstens drei bis fünf Jahre sollen sie hier bleiben dürfen. Dann sollen sie wieder verschwinden. Ausländische Experten als Lückenbüßer - ja, bitte! Menschen aus dem Ausland als Mitmenschen für unsere Gesellschaft - nein, danke! Das ist ein Rückfall in die Fehler der Gastarbeiter-Ära, die Max Frisch treffend so kommentiert hat: "Wir haben Arbeitskräfte gerufen; und Menschen sind gekommen."
von Helmut Frenz
Einen bedenkenswerten Maßtab für ein würdiges und angemessenes Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen bietet das Fremdenrecht im Alten Testament. Äußerlich erkennbar ist es in der prägnanten Formulierung zur Ruhe am siebten Tag, an dem niemand arbeiten soll, "... auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt." Dabei fällt mir auf, dass der ausdrückliche Hinweis auf "deinen Fremdling, der in deiner Stadt lebt," ausschließlich in den zentralen Gesetzesanweisungen Gottes steht. In dieser Formulierung kommt der Satz insgesamt sechsmal im Alten Testament vor.
Ich halte es für sinnvoll, notwendig und vielleicht auch für heilsam, dass wir diese Bibelstellen sorgfältig bedenken und dass wir anschließend einen Blick auf unsere Gegenwart werfen, um zu erkennen, wie unsere Gesellschaft mit dem "Fremdling, der in deiner Stadt lebt," umgeht. Natürlich kann es nicht darum gehen, die Handlungsmodelle von vor 2700 Jahren zu übernehmen. Ich meine aber schon, dass es auf den Geist ankommt, mit dem die Gebote Gottes beseelt sind und dem wir auch noch heute gehorsam folgen sollten.
Das beginnt mit den Zehn Geboten im 2. Buch Mose Kapitel 20, 8-10. Da geht es um das 3. Gebot: "Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt".
Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn. Der Ruhetag ist ein Segenstag - auch für "deinen Fremdling, der in deiner Stadt lebt". Das Gebot lautet also: Lass’ den "Fremdling, der in deiner Stadt lebt," teilhaben am Segen Gottes!
Im 5. Buch Mose 5, 14-15 werden die Zehn Gebote wiederholt, und auch da heißt es ausdrücklich, dass am siebten Tag alle ruhen sollen, auch der "Fremdling, der in deiner Stadt lebt". Nur wird hier eine andere Begründung gegeben, wenn es heißt: "Denn du sollst daran denken, dass auch du Knecht in Ägyptenland warst und der HERR, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm. Darum hat dir der HERR, dein Gott geboten, dass du den Sabbattag halten sollst."
Hier wird zu dem Ruhesegen Gottes auch noch der Hinweis auf die Befreiung aus ägyptischer Knechtschaft gegeben. Als Unfreie kannten die Israeliten in Ägypten keinen Ruhetag. Erst der Befreite hat die Möglichkeit zum Ruhetag des Herrn. Der Segen Gottes schließt in die Ruhe auch die Freiheit ein.
Das Gebot lautet also: In eurer geschenkten Freiheit könnt ihr in aller Gelassenheit eure Betriebsamkeit wenigstens einmal pro Woche ruhen lassen. Schließt aber auch den "Fremdling" in diese Ruhe und Freiheit mit ein!
Die dann folgende Stelle aus dem 5. Mosebuch 14, 11-20 ist schwer verständlich. Da geht es vordergründig um "rein und unrein", im Zusammenhang mit dem Verzehr von Speisen und den Opfergaben. Hierbei handelt es sich um oftmals jahrtausendealte Traditionen, die jetzt nicht im Einzelnen erklärt werden sollen. Israel ist als Volk Gottes, als sein Eigentum, auch an den speziellen Reinheitsvorschriften erkennbar.
Das Besondere an dieser Vorschrift ist aber, dass der "Fremdling, der in deiner Stadt lebt," von ihr ausgenommen wird. Er wird nicht gezwungen, die religiösen Reinheitsgebote der Einheimischen zu befolgen. Deshalb heißt es in 5. Mose 14, 21: Ihr sollt nicht das Fleisch von Tieren essen, die nicht vorschriftsmäßig geschlachtet worden sind, aber "dem Fremdling in deiner Stadt darfst du’s geben, dass er’s esse oder dass er’s verkaufe an einen Ausländer."
Hier ist eindeutig die religiöse Toleranz gegenüber dem "Fremdling, der in deiner Stadt lebt," gefordert. Also lautet das Gebot: Seid gegenüber dem "Fremdling, der in deiner Stadt lebt," tolerant! Zwingt ihm nicht eure religiösen Sitten und Traditionen auf!Schließlich folgt ein weiteres Gebot Gottes, das dem "Fremdling" zugute kommen soll. Im selben Kapitel des 5. Mosebuches steht: Jährlich sollst du den Zehnten von deinem Ertrag abgeben (V 22). Am Ende heißt es ab Vers 28: Doch alle drei Jahre sollst du den Zehnten von deinem Ertrag an Menschen in deiner Stadt abgeben. "Dann soll kommen der Levit.... und der Fremdling und die Waise und die Witwe, die in deiner Stadt leben, und sollen essen und sich sättigen, auf dass dich der HERR, dein Gott, segne in allen Werken deiner Hand, die du tust."
Der Vergleich mit heutigen Steuer- und Abgabeverordnungen liegt nahe: Es geht um eine Solidaritätsabgabe für die Schwachen, Niedrigen und Armen in der Gesellschaft. Und dazu zählt auch der "Fremdling, der in deiner Stadt lebt". Es wird ausdrücklich keine unterste Grenze zwischen einheimischen Armen und armen Fremdlingen gezogen. Das Solidaritätsgebot ist inklusiv und integrativ.
Entsprechend dem Geist des biblischen Gebotes müsste es heute heißen: Seid solidarisch mit dem "Fremdling, der in deiner Stadt lebt"! Diese Solidarität schließt gerade auch die ökonomische Fürsorge mit ein.
Und noch ein Viertes wird von Gott festgesetzt, was für das Zusammenleben von Einheimischen und Fremden von grundlegender Bedeutung ist: Die gemeinsame Freude beim Feiern der großen religiösen Volksfeste schließt niemanden aus. Im 5. Buch Mose 16 werden die drei wichtigsten religiösen Feste genannt: Das Passah-Fest, das Wochenfest und das Laubhüttenfest. Dazu heißt es ausdrücklich in 5. Mose 16, 11 und 14: "...und du sollst fröhlich sein an deinem Fest, du und dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, der Levit, der Fremdling, die Waise und die Witwe, die in deiner Stadt leben."
Also lautet das göttliche Gebot auf einen kurzen Nenner gebracht: Teile deine Festtagsfreude auch mit dem Fremdling. Segen, Toleranz, Solidarität und Freude sollen dem "Fremdling, der in deinen Toren ist," entgegengebracht und mit ihm geteilt werden. So ist es Israel, dem Volk Gottes, aufgetragen worden. So hat Israel es auch gehalten.
Ein Blick auf die gegenwärtige deutsche Praxis im Umgang mit dem "Fremdling, der in deiner Stadt lebt," macht deutlich, dass wir nach der aktuellen Gesetzeslage keine Fremden zu uns einladen können. Denn unsere auf Ausgrenzung, Abschottung und Abschreckung orientierte Ausländergesetzgebung ist die Grundlage für eine legalisierte Unbarmherzigkeit.
Jedoch steht die Bundesrepublik Deutschland heute in der Ausländerpolitik an einer entscheidenden Wende. Zwar mag es kaum ein Politiker deutlich aussprechen: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Und mit Fremdenangst hat noch die Landtagswahl in Hessen gewonnen werden können. Aber die Macht der alten Geister nimmt ab, die uns einflüstern wollen: "Es kommen viel zu viele Flüchtlinge. Sie nehmen uns Arbeit und Wohnungen weg. Sie bedrohen unsere Gesellschaft und überfremden uns. Das Boot ist voll!"
Es fehlen bei uns ja nicht nur Computerexperten. Wir brauchen auch Einwanderer, weil es in der deutschen Bevölkerung immer weniger junge, arbeitsfähige Menschen gibt, aber immer mehr alte Menschen, die von den jungen, arbeitsfähigen versorgt werden müssen. Aufgrund dieser Entwicklung wird Deutschland ab dem Jahre 2010 auf eine Zuwanderung von mehr als 100.000 Menschen jährlich aus dem Ausland angewiesen sein.
Viele wissen das, doch nur wenige wagen es auszusprechen: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Wir leben in Deutschland bereits in einer Einwanderungsgesellschaft. Es besteht jetzt schon die dringliche Notwendigkeit, einen gesetzlichen Rahmen zu gestalten, damit künftige Einwanderer würdig und angemessen mit uns leben können.
Das alttestamentliche Fremdenrecht gibt uns Maßstäbe für solch ein künftiges Einwanderungsgesetz: Segen, Toleranz, Solidarität, Freude. Fantasie und Mut sind jetzt gefragt, um ein migrationspolitisches Leitbild für unsere Einwanderungsgesellschaft zu entwerfen. Orientieren wir uns doch an den Erfahrungen der alttestamentlichen Gesellschaft!
Der Ruhesegen der Befreiten wird entstehen, wenn Aufenthalts- und Bleiberechte gesichert sind. Toleranz wächst, wenn die Forderung nach Anpassung und Integration aufgegeben wird und stattdessen eine Vielfalt von Kulturen akzeptiert wird. Solidarität bewährt sich in Gleichbehandlung und Gleichberechtigung aller in diesem Lande Lebenden. Unter solchen Bedingungen wird Freude herrschen allenthalben.
aus: der überblick 02/2000, Seite 98
AUTOR(EN):
Helmut Frenz:
Helmut Frenz war Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Chile. Er wurde 1975 von der Pinochet-Diktatur ausgewiesen und kam nach Deutschland. Heute ist er der Flüchtlingsbeauftragte der schleswig-holsteinischen Landesregierung.