Ein Grenzstreit zwischen zwei Dörfern im Nordosten Tansanias bringt Hirten und Bauern gegeneinander auf
Als Lengusero von einem Team des Ministeriums vermessen wurde, haben die Bauern aus dem Nachbardorf Mkindi niemanden mitgeschickt. Als Bewohner aus Mkindi später Einwände erheben wollten, hatte Kashima schon die Urkunde für sein Dorf Lengusero in der Tasche.
von Jochen Möller
Kashima, der Dorfchef, bringt zum Gespräch eine prall gefüllte blaue Plastiktüte mit. Was aussieht wie ein Beutel mit Müll, sind die verpackten Dokumente des Dorfes Lengusero im Norden des Distriktes Handeni in Tansania. Durch den Grenzstreit um sein Dorf hat Kashima, der zur Volksgruppe der Massai gehört, Übung darin gewonnen, die wichtigsten Urkunden aus der Tüte zu zaubern. Zum Beispiel die Karte, auf der das Dorfgebiet Lenguseros eingezeichnet ist, dazu das Zertifikat vom Landministerium in der Hauptstadt Dar es Salaam. Als Lengusero von einem Team des Ministeriums vermessen wurde, haben die Bauern aus dem Nachbardorf Mkindi niemanden mitgeschickt. Als Bewohner aus Mkindi später Einwände erheben wollten, hatte Kashima schon die Urkunde für sein Dorf Lengusero in der Tasche.
"Das Gebiet im Norden des Distriktes Handeni haben wir schon immer in der Regenzeit als Weidegrund genutzt", erzählt Kashima.
1987 beschlossen einige Massai-Familien, sich ganz in der Gegend niederzulassen. Das Dorf Mkindi, wo Bauern von der Volksgruppe der Wazigua leben, nahm die Gäste auf; auf einem zugewiesenen Fleck bauten sie ihre traditionellen Bomas, fensterlose Hütten aus Lehm und Holz. Doch bald war die Atmosphäre angespannt. Gegenseitige Vorwürfe wegen Schäden an Vieh oder Feldern mehrten sich. Die Massai, die zum großen Teil als Viehhirten leben, sollten ihr Vieh nicht länger auf den abgeernteten Feldern der Bauern aus Mkindi grasen lassen. Und der Plan der Massai, ein eigenes Dorf zu gründen, erschien den Bauern aus Mkindi besonders dreist.
Doch die Massai gewannen Fürsprecher auf höheren Verwaltungsebenen, sodass ihr neues Dorf 1992 registriert werden konnte. Die Landurkunde für Lengusero ist auf das Jahr 1995 datiert.
Den Tiefpunkt erreichten die Beziehungen zwischen den Massai aus Lengusero und den Wazigua aus Mkindi schon im Jahr darauf: Den Massai wurde mit gewaltsamer Vertreibung aus Mkindi gedroht, die Waffen dazu lagen bereit. Wenn die Massai nun schon ein eigenes Dorf hätten, hieß es, sollten sie mit ihrem Vieh auch sofort das Gebiet von Mkindi verlassen. Die Massai aber haben das neue Dorf vor allem gegründet, um sich Weideland zu sichern -nicht, um dort zu wohnen. Die Wazigua-Bauern im ursprünglichen Dorf fühlen sich nun um ein wertvolles Gebiet betrogen.
"Lengusero bedeutet offener Raum", übersetzt Adam ole Mwarabu, der für eine lokale nichtstaatliche Organisation (NGO) der Massai arbeitet.
"Der Name wurde gewählt, als das Gebiet des neuen Dorfes vermessen wurde." Dass es bei der Vermessung etwas korrekter hätte zugehen können, vermuten allerdings manche. Ein hoher Distriktbeamter stellt heraus, dass die Massai gewitzter vorgingen als die Bauern aus Mkindi. Die Bauern schienen davon auszugehen, dass nur ein den Massai zugewiesenes Weidegebiet vermessen würde und nicht ein Großteil dessen, was seit jeher zu Mkindi gehörte. Obwohl viele Massai weder lesen noch schreiben können und stark in ihren Traditionen verhaftet sind, wüssten sie eben durchaus, wie sie Entscheidungen in ihrem Sinne beeinflussen können, erklärt der Beamte.
Unklare Grenzverläufe sind in Tansania keine Seltenheit. Oft bestehen widersprüchliche Interpretationen nebeneinander, dazu kommen ganz verschiedene Grenzziehungen von Seiten der Behörden in den letzten Jahrzehnten. Die genauen Ausmaße des eigenen Dorfes sind den meisten Menschen nicht klar, auch wenn oft natürliche Grenzen wie Flussläufe oder Bäume im Bewusstsein verankert sind.
Mit Flächenmaßen sind die wenigsten vertraut. So wollte der frühere Dorfchef von Mkindi einmal Dorfland an einen Investor verkaufen, das zwei Drittel des Gebietes von Mkindi ausgemacht hätte.
Mit dem neu vermessenen und urkundlich verbrieften Lengusero haben die Massai sich ein großes Stück Land organisiert: Mkindi hat ungefähr die Hälfte seiner ursprünglichen Fläche eingebüßt. Dabei hat sich bis heute kaum jemand in Lengusero angesiedelt. Nahe einem 1997 fertig gestellten Damm bilden einige Bomas das provisorische Dorfzentrum; ringsherum ist nur eins zu sehen: offenes Land.
Adam erklärt, warum viele Massai im Distrikt Handeni eigene Dörfer wollen: Das Hirtenvolk verliere immer mehr Weidegrund an die Bauern. Insbesondere Wassereinzugsgebiete würden vom Ackerbau in Anspruch genommen. Aus anderen Distrikten Tansanias und aus Nachbarländern wie Kenia sind die Folgen bekannt: Verschärfung von Abgrenzungsprozessen, Verdrängen der Massai, Übernutzung und Erosion der wenigen verbleibenden Weidegebiete, Dezimierung der Rinderherden und schließlich mehr Konflikte zwischen Bauern und Hirten.
Eigentlich dürften die Fronten nicht mehr so eindeutig zwischen Bauern und Hirten verlaufen, denn auch die Massai gehen immer mehr dazu über, Ackerbau zu treiben - zumindest als zweites Standbein neben der Viehwirtschaft. Doch während sie den Ackerbau großenteils noch als ökonomisch erzwungene Notlösung betrachten, speist sich das Prestige eines Massai nach wie vor aus dem Besitz großer Herden, wie sie sich die Mehrheit der Subsistenzbauern im Distrikt Handeni nie leisten könnten.
Als Minderheit haben die Massai zu wenig Möglichkeiten, ihre Rechte zu verteidigen, findet Adam. Die Dorfregierungen seien von den Bauern dominiert. Viele Bauern brennen am Ende der Trockenzeit in Weidegründen der Massai den Busch ab und pflanzen mit dem ersten Regen Mais, während die Massai mit ihrem Vieh noch anderswo auf der Suche nach Grundwasser und Gras sind. Wenn sie nach Einbruch der Regenzeit zurückkehren und sich herausstellt, dass einmal mehr traditionelles Weideland von Bauern vereinnahmt worden ist, gibt es Streit. "Und die Bauern in den Dorfregierungen bevorzugen in solchen Streitfällen eben Ihresgleichen", sagt Adam, der als eine der seltenen Ausnahmen unter den Massai eine weiterführende Schule besucht hat und sich mit seiner NGO nun für Belange der Massai einsetzt.
Die meisten Dörfer im Distrikt Handeni sind rund zwei Jahrzehnte vor Lengusero gegründet worden, in der Zeit des tansanischen Ujamaa- Sozialismus. Anfang der siebziger Jahre wurden entlegene Siedlungen mit ganz verschiedenen Bevölkerungsgruppen oftmals
gewaltsam in Dörfern zusammengefasst. Mit den künstlich geschaffenen Zentren sollte die bessere Befriedigung der Grundbedürfnisse garantiert werden. Die Massai in einer Siedlung nahe der Nguu-Bergkette sehen in dieser Ujamaa-Politik den Ursprung allen Übels: "Bergbauern wurden zwangsweise in den Ebenen angesiedelt, die zuvor nur wir für unsere Herden genutzt hatten. Damit verschärfte sich die Konkurrenz um die guten Böden", erklären Massai-Führer, die aus ihrer Siedlung auch ein eigenes Dorf machen wollen - ganz wie es im Norden des Distriktes mit Lengusero gelungen ist. "In der jetzigen Dorfregierung können wir uns gegen die Bauern nicht durchsetzen. Und während wir hier reden" - die Trockenzeit geht gerade zu Ende -, "roden Bauern wieder draußen in unseren Weidegründen."
"Siedlungen wie diese, die gern zu einem eigenen Dorf würden, gibt es viele", erklärt Adam und nennt eine Reihe weiterer Dörfer, aus denen sich Massai-Siedlungen herauslösen könnten, um den Dorfstatus zu erlangen. In anderen Distrikten Tansanias seien die Massai wirtschaftlich und politisch längst besser organisiert. Dort versuchen Massai-Dörfer, oftmals mit Unterstützung von NGOs und internationalen Gebern, mit Hilfe des Erwerbs von Landtiteln Grenzen gegen den vorrückenden Ackerbau zu errichten. Im Distrikt Handeni gibt es bis jetzt bloß Adams junge NGO, die nur eine Handvoll Mitglieder hat. Und obwohl nach dem neuen tansanischen Landrecht den Dörfern eine zentrale Rolle bei der Vergabe von Landtiteln an Privateigner zukommt, besitzen in Handeni die meisten Dörfer selbst nicht einmal Landtitel für ihr Dorfgebiet.
Adam, der die Bemühungen der Massai in den Nachbardistrikten und in Kenia verfolgt, steht auf der Liste der Bewohner von Lengusero. Sein Vieh mag er dort in der Regenzeit grasen lassen, doch lebt der NGO-Aktivist selbst am Sitz der Distriktverwaltung in Handeni. Und Adam ist kein Einzelfall: Nur wenige Einwohner des reinen Massai-Dorfes Lengusero leben überhaupt dort. Selbst der Dorfchef Kashima und seine Leute empfangen uns ausgerechnet auf dem Boden Mkindis.
Nachdem wir Mkindi verlassen haben, sagt Adam irgendwann auf der Straße nach Norden: "Hier beginnt Lengusero." Wirklich sicher scheint sich nicht mal er, denn Grenzmarkierungen sind nicht zu sehen. Wir fahren noch eine ganze Weile, bis wir zu einem Damm gelangen, der mit deutscher Unterstützung angelegt wurde. Seine Ausmaße sind beachtlich, aber jetzt, am Ende der Trockenzeit, ist er fast ausgetrocknet. Im nahe gelegenen Weiler begegnen wir den wenigen Massai, die sich in Lengusero dauerhaft angesiedelt haben. Die Alten erläutern Entwicklungspläne für Lengusero. Von den Vorhaben, eine Gesundheitsstation, eine Schule und ein Dorfbüro einzurichten, ist bisher nichts zu sehen. Das Dorfzentrum bilden wenige Bomas nahe dem Damm. Ein mit Plastiktüten markierter Baum soll die Kirche des Ortes anzeigen.
All dies hat einmal zu Mkindi gehört. Die Bauern wandten sich damals gegen die Neugründung von Lengusero, aber höhere Stellen unterstützten die Idee eines Massai-Dorfes. Distriktbeamte argumentierten, dass eigene Dorfstrukturen die politisch gewünschte Sesshaftwerdung der Massai befördern würden und dass in der Konsequenz die Massai mehr Selbstverantwortung übernehmen müssten, etwa für die Grunddienste Bildung und Gesundheit.
Die Beziehungen zu den Bauern aus Mkindi seien in Ordnung, behauptet ein Führer aus Lengusero und betont, dass hier die Massai die Regeln bestimmen: "Wer aus Mkindi zum Ackerbau hierher kommen will, muss sein Feld einzäunen, denn Entschädigungen für Schäden durch Vieh werden hier nicht gezahlt!" Ist damit das Verhältnis zwischen den Bauern und den Hirten wirklich geklärt? Gerade der große Damm in Lengusero machte den Grenzstreit mit Mkindi greifbar, denn er hat einen Disput darüber mit sich gebracht, wer ihn nutzen dürfte.
Der Damm liegt in einem Tal. Eine Hälfte davon beanspruchte Mkindi für sich, als das Staubecken 1998 voll gelaufen war. Selbst Massai aus einem nördlich angrenzenden Dorf erhoben Ansprüche auf das Tal. Beide Seiten versuchten, die Abmachungen zwischen Wazigua und den Massai zu ihren Gunsten zu interpretieren, denn schriftlich fixierte Vereinbarungen über den Grenzverlauf gab es nicht. In dieser Situation brachte der Dorfchef Kashima den Landtitel von 1995 zum Einsatz, nach dem das Tal - und noch viel mehr - ausschließlich Lengusero gehört. Vermittlungsbemühungen des Distriktes mündeten schließlich in den Kompromiss, dass alle Anrainer den Damm nutzen sollten. Und die Massai sollten ihr Vieh in der Trockenzeit weiterhin auf die Weideflächen anderer Dörfer treiben dürfen.
Denn Lengusero allein reicht für die großen Rinderherden der Massai nicht - auch nicht mit Damm, der in trockenen Zeiten nahezu leer ist. Die Massai gehen weiter davon aus, dass sie in der Trockenzeit mit ihrem Vieh in andere Weidegebiete wandern, und sei es bis zur Nguu-Bergkette, wohin Verwandtschaftsbeziehungen bestehen. Die Massai brauchen daher ihre Bomas in den anderen Dörfern, und sie brauchen Zugang zu diesen Bomas. Die Wege dorthin können über mehrere Dorfgebiete führen; weitere Streitigkeiten um Vieh und Felder sind damit vorprogrammiert.
Die Massai werden denn auch in absehbarer Zeit nicht in Lengusero sesshaft werden, wie es Bauern und Distriktbeamte gleichermaßen wünschen. Vorerst ist Lengusero nur ein Weidegrund für die Regenzeit.
"Ganz werden wir unsere Bomas nicht aufgeben, auch nicht in Mkindi", räumt Kashima ein. Gerade das aber erwarten die Bauern aus Mkindi. Nachdem viele sich um das Gebiet Lenguseros betrogen fühlen, kommt es aus ihrer Sicht einem zweiten Betrug gleich, dass die Massai nun in Mkindi bleiben. "Die einzige Lösung ist, dass die Massai abziehen", fasst ein Alter aus Mkindi die Situation zusammen.
"Ein Landtitel genügt nicht, um Rechtsansprüche nachhaltig abzusichern", warnt ein Anwalt die Massai aus Lengusero. Der Landrechtsexperte weiß, dass nach wie vor eine Bearbeitung des Bodens für die Begründung von Rechtsansprüchen maßgeblich ist. Dieses Prinzip bevorteilt die Bauern, die eine Bodenbearbeitung und Bepflanzung nachweisen können. Wenn aber Lengusero nur ein offenes Gebiet ist, über das Herden ziehen, dann könnten höhere Instanzen auf den Plan treten und den Massai das Land relativ einfach wieder aberkennen oder einfach neue Dorfgrenzen ziehen. Das ist für Lengusero ein ernst zu nehmendes Szenario, denn eine andere Massai-Gruppe, die laut Zentralregierung aus Gründen des Naturschutzes umgesiedelt werden muss, soll noch dieses Jahr in diesem Teil des Distriktes Handeni eintreffen.
aus: der überblick 04/2000, Seite 97
AUTOR(EN):
Jochen Möller :
Jochen Möller ist Politikwissenschaftler. Er war 1999-2000 an einer Studie in Tansania beteiligt, in der die Auswirkungen von Entwicklungsprojekten auf lokale Konflikte untersucht wurden. Die Studie "Socio-political Impact of Development Cooperation Measures in Tanzania: Analysing Impacts on Local Tensions and Conflicts" ist beim Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) erhältlich.