Gemeinsam trägt sichs besser
Durch die AIDS-Pandemie verlieren immer mehr Kinder ihre Eltern. Diese Kinder müssen entweder innerhalb der eigenen Großfamilie oder in Gastfamilien groß gezogen werden. Zusätzlich wächst die Zahl der Witwen, die von der Krankheit gezeichnet , nicht mehr dazu fähig sind, sich selbst zu versorgen, geschweige denn ihre Kinder. Die Gesellschaft muss neue Wege finden, um mit der zunehmenden Anzahl von Waisen und Witwen zurecht zu kommen.
von Erick Nyambedha und Jens Aagaard-Hansen
Traditionelle gesellschaftliche Organisationsformen wie das so genannte Duol bei den Luo sind in den letzten Jahren wieder entdeckt worden, um Versorgungsprobleme, die sich aus HIV/AIDS ergeben, anzugehen. Die Luo siedeln in der Provinz Nyanza am Viktoriasee im Westen Kenias und leben überwiegend von Agrarwirtschaft und vom Fischfang. Viele Menschen in dieser Region sind sehr arm. Die Ausbreitung von HIV/AIDS bedroht die Bevölkerung in hohem Maße: Mindestens ein Drittel aller Kinder ist infolge der Krankheit Waise oder Halbwaise geworden.
Bei den Luo handelte es sich traditionell um eine egalitäre Gesellschaft: Gemeinsam nahmen Männer ihre Mahlzeiten im »Hof des alten Mannes« (duol) ein, des Familienoberhauptes, die Frauen und Mädchen entsprechend im »Haus der alten Frau« (siwindhe). Elternlose Kinder und solche, deren Mütter nicht imstande waren, für sie zu kochen, konnten sich hier satt essen. Auch Frauen, die selbst nicht dazu in der Lage waren, eine Mahlzeit herzurichten, durften mitessen. So war die Versorgung der schwachen Mitglieder der Gesellschaft mit Nahrung sicher gestellt. Während Männer und Jungen im Duol zugleich wichtige, die Gemeinschaft betreffende Angelegenheiten diskutierten, wurden Mädchen von der alten Frau, genannt pim, in traditionelle Bräuche eingeführt.
Während und nach der Kolonialzeit wurden bei den Luo sowohl traditionelle Institutionen wie das Duol als auch der Zusammenhalt innerhalb der Großfamilie, die ihre hilfsbedürftigen Mitglieder versorgte, geschwächt. Gemeinschaftliche Produktion wurde von Lohnarbeit verdrängt, gemeinsame Mahlzeiten in der Dorfgemeinschaft seltener. Die Institution des Duol geriet in Vergessenheit.
Seit Beginn der 1980er Jahre gelang es katholischen und anglikanischen Kirchengemeinden, die Duol-Tradition wieder zu beleben. In den Jahren 1997 und 1998 wurden besonders viele Gruppen neu gegründet, wohl auch als Reaktion auf die zunehmenden Todesfälle infolge von AIDS. Die Kirchen haben die Institution des Duol wiederentdeckt als Netzwerk, mit dem sie ihre Mitglieder besser erreichen und mobilisieren können. Das Duol ist zu einer zentralen Einrichtung geworden, mit deren Hilfe die Kirchen den schwächsten Mitgliedern innerhalb der Kirche und der Gemeinde beistehen: den Waisen und Witwen.
Menschen, die von HIV/AIDS betroffen sind, erhalten gelegentlich durch das Duol auch Medikamente und Nahrungsmittel. Als erfolgreich hat sich ebenfalls der Rückgriff auf die Tradition des Nyoluoro erwiesen: Der Reihe nach werden Treffen in den Häusern der Mitglieder abgehalten. Dort betet man nicht nur gemeinsam. Man sammelt auch Geld und vergibt damit Kleinkredite, etwa für den Kauf von Gartengeräten zum Nahrungsanbau. Der alte Brauch hilft auch, Probleme einzelner Kirchenmitglieder besser wahrzunehmen und anzugehen. Und das Nyoluoro hat sich manchmal als hilfreich erwiesen, Wissen über HIV/AIDS und darüber, wie man die Krankheit vermeiden kann, zu verbreiten.
Die Zusammenarbeit im Duol soll neben der bloßen Versorgung von Witwen und Waisen zur anhaltenden Verbesserung der Lebensverhältnisse führen. Die christlichen Gruppen ermöglichen jeweils mindestens einem Waisenkind, das seine Schullaufbahn abbrechen musste, das Erlernen eines Kunsthandwerks. Zusätzlich werden durch das Duol Zuschüsse zu Beerdigungskosten gezahlt und Ausgaben für kirchliche Zwecke auf die Mitglieder aufgeteilt.
Während traditionell die Versammlung im Duol Männern vorbehalten war, spielen nun auch Frauen eine tragende Rolle. Die meisten Duol-Gruppen setzen anders als früher auf die Zusammenarbeit von Männern und Frauen. In einigen Gruppen treffen sich nur Frauen, ausschließliche Männergruppen gibt es nicht mehr. Die Tradition von Versammlungen im Haus der alten Frau (siwindhe) ist quasi vom Duol aufgesogen worden.
Die Verbreitung von HIV/AIDS und die wachsende Armut in der Region hat zu einer Veränderung in der Geschlechterbeziehung geführt. Aber die Zusammenarbeit von Männern und Frauen ist nicht frei von Problemen: Die weiblichen Gruppenmitglieder beklagen sich über Männer, die sich nicht an Gruppenregeln halten und die in der Annahme, den Frauen in Bildung und Wissen überlegen zu sein sich selbst in Führungspositionen manövrieren. Manche Männer bleiben, nachdem sie ein Darlehen kassiert haben, der Gruppe fern. Trotzdem gibt es auch Männer, die Frauen in Führungspositionen akzeptieren und schätzen. Ein etwa sechzigjähriger Mann, der früher eine Duol-Gruppe geleitet hatte, kommentierte: »Männer sind häufig schlechte Gruppenleiter: Sie erwarten, dass Frauen hart arbeiten und verteilen das erwirtschaftete Geld ungerecht. Damit zerrütten sie häufig die Gruppe.«
Viele Duol-Gruppen klagen darüber, dass sie durch AIDS Mitglieder verlieren. Dies führt einerseits zur Instabilität der Gruppe, andererseits wächst die Zahl der Waisen, die versorgt werden müssen. Häufig werden für die Versorgung der Waisen alle Ersparnisse verbraucht. An die Zahlung von neuen Beiträgen an die Gruppe ist in diesen Fällen gar nicht mehr zu denken. Gruppenmitglieder, die auf finanzielle Unterstützung ihrer in den Städten arbeitenden Kinder angewiesen waren, konnten nach dem Tod dieser jungen Erwachsenen keine Beitragszahlungen mehr leisten und mussten aus ihrer Gruppe ausscheiden.
Besonders in der Anfangsphase ist die Mitgliederzahl in den Duol-Gruppen hoch allerdings häufig nur so lange, wie die Gruppenteilnehmer sich materiellen Vorteil versprechen. Manche merken bald, dass die Ziele nur durch harte Arbeit zu erreichen sind, und bleiben dann der Gruppe fern. Auch hohe, wöchentlich geforderte Beitragszahlungen können dazu führen, dass die Gruppe schrumpft, weil sich einige die hohen Beitragszahlungen nicht leisten können. Bei anderen Gruppen, die nicht so streng die Beiträge eintreiben, setzen die Zahlungen gerade dann aus, wenn etwa wegen einer Dürre wenig zu ernten gibt und Nahrungsmittel knapp werden, während die Leute dann wieder zahlen, wenn es ohnehin »fette Jahre« sind und das Versorgungsproblem geringer ist.
Probleme ergeben sich außerdem in Gruppen, die sich der Reihe nach jeweils im Haus eines Mitglieds treffen: Manche erwarten, bei den Treffen jeweils reichlich verköstigt zu werden. So verlieren sie diejenigen als Mitglieder, deren finanzielle Möglichkeiten durch diese Gastmahle überschritten werden.
Finanzielle Misswirtschaft belastet Duol-Gruppen zusätzlich: Nichtstaatliche Organisationen (NGOs) vergaben in der Vergangenheit häufig Kredite mit der Absicht, Geschäfte von Kleinunternehmern in ländlichen Gebieten zu beleben. Für die Kredite wurde ein geringer Zins erhoben. Die erwünschte Wirkung dieser Kredite blieb allerdings häufig aus. Diskussionen und Kontroversen um Kreditrückzahlungen und den Umgang mit Mitgliedern, die ihre Schulden nicht begleichen konnten, zermürbten die Gruppen und führten schließlich zu deren Zerfall.
Trotz allem sind lokale Institutionen wie das Duol ein effektives Netzwerk zur Versorgung von Menschen in von HIV/AIDS betroffenen Regionen. aq
aus: der überblick 02/2005, Seite 14