Meditation über Psalm 139,8: Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.
"Ich kriege kaum mehr Besuch!" ist die Antwort des jungen Mannes auf meine Frage, wie es ihm denn ginge. Er wirkt geknickt und fast ein wenig gelähmt. Bisher war er meistens ein fröhlicher und eher quirliger Kerl. Nun ist auch ihm passiert, was die meisten erleben, die ins Gefängnis kommen. Besucher, die am Anfang noch recht häufig erschienen, kommen immer seltener. Auch Briefe empfängt er nur noch sporadisch, und das Engagement der Freunde lässt nach. Über seine Behandlung im Gefängnis kann er ansonsten eigentlich nicht klagen. Trotzdem geht es ihm richtig schlecht. Keiner denkt an ihn. "Ich bin es vermutlich nicht wert"; "mit diesen so genannten Freunden will ich nie wieder etwas zu tun haben"; "ich bin ja selber schuld" sind typische Aussagen seiner Reaktion darauf. Aus solchen Sätzen spricht die blanke Einsamkeit und die Angst, vergessen und fallen gelassen zu sein. Aber für einen Gefangenen bedeutet es ein Lebenselixier, dass es Menschen gibt, die an ihn denken, sich um ihn sorgen und ihm Gutes tun wollen. An Weihnachten erhielt ich eine Spende: Ich sollte Spiele an die jungen Gefangenen weitergeben. Die Resonanz war enorm. Einer von ihnen hat es stellvertretend für alle treffend formuliert, als er fassungslos sagte: "Das ist aber lieb, dass Leute da draußen an uns gedacht haben."
von Stephan Pohl-Patalong
Im Gefängnis sind die Menschen hinter Mauern vor der Welt verborgen. Irgendwie läuft die Uhr in der Haft anders, sie geht viel langsamer, weil keine Teilhabe am normalen Leben möglich ist. Manche Insassen kommen sich abgeschoben vor, aus der Gesellschaft ausgeschlossen, so wie man früher Verrückte isolierte. Mich würde es nicht wundern, wenn einer sagen würde: "Ich bin von allen guten Geistern verlassen."
Das aber ist gar nicht möglich. Der Psalm 139 wehrt diesen Verdacht von vornherein ab. Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo nicht mindestens ein guter Geist schon da wäre: Gott selbst. Führe ich gen Himmel, in den schönsten Momenten also, in denen ich zu fliegen meine und vor Glück an nichts anderes denken möchte als die Schönheit meines Lebens: Gott ist da. Und wenn ich mich bei den Toten bettete, ihnen gleich werde, alles Leben langsam weicht oder zu weichen scheint, wenn ich verlassen bin von allem Lebenswerten und Lebendigen: Gott ist da. Ganz einfach nur diese drei (im Hebräischen sogar nur zwei) Worte. Keine Ausschmückung, keine elegische Beschreibung, wie grandios Gottes Gegenwart ist. Er ist einfach da. Selbstverständlich und gelassen ohne Aufregung oder Glanz und Gloria. An solchen Orten ist Gottes Anwesenheit nichts Spektakuläres, sondern selbstverständlich.
Das gilt auch, wenn ich mir die absurdesten Orte ausmale, zu denen ich real gar nicht kommen kann, besagt der Psalm. "Wenn ich führe" und "bettete ich" sind im Hebräischen Verbalsätze, die den Konjunktiv anzeigen. Es handelt sich jeweils nur um eine gedankliche Möglichkeit, denn beides ist von mir aus kaum zu steuern. Doch der Satz geht nicht im Konjunktiv weiter: "Du bist da" ist jeweils Nominalsatz und zeigt so eine Realität an. Für Gott ist es keine Möglichkeit, die er erwägen könnte, sondern es ist schon längst geschehen. Egal, wo wir jemals hinkommen könnten, egal wie schön oder schlimm dieser Ort für uns werden kann, er ist schon da. Das ist Gottes Wirklichkeit - unabhängig von all meinen Eventualitäten.
So ist es auch im Gefängnis. Man könnte in dem Psalm ohne weiteres fortfahren: "Und säße ich hinter Gittern in finsteren Kerkern, siehe, so bist du da". Die meisten Gefangenen hatten nie geglaubt, dort zu landen. Gefängnis war nicht innerhalb ihres bewussten Horizonts. Keinem von ihnen war vorher wichtig, ob Gott an diesem Ort ist oder nicht. Und doch ist Gott da, ob wir ihn feiern oder nicht, ob wir zu ihm beten oder nicht. Sichtbar wird das in der selbstverständlichen Anwesenheit von Seelsorgerinnen und Seelsorgern im Gefängnis. Die Botschaft heißt: Auch hier bist du nicht von allen guten Geistern verlassen.
Dass Gott da ist, unabhängig von meinen Möglichkeiten, heißt auch, er braucht nicht meinen Glauben, er braucht nicht meine Hoffnung, meine Stärke, meine Spiritualität oder sonst etwas von mir. Ja, er braucht nicht einmal meine Anwesenheit. Er ist da.
Die Menschen im Gefängnis haben häufig nichts mehr zu bieten. Ihre Kräfte und Möglichkeiten sind ihnen ausgegangen. Hier kann nur noch ein Gott sein, der auch dann noch da ist, wenn alle eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten erschöpft sind. Denn wer kann einem Gott vertrauen, der nicht mal mehr sich selber traut? In einem Gottesdienst im Strafvollzug habe ich erzählt, dass das Leben von jedem von uns sinnvoll ist und gestaltet werden will. Ein Häftling protestierte spontan und heftig: "Was soll mein Leben schon für einen Sinn machen. Das ist eine einzige Scheiße." Wir haben lange darüber gesprochen, was für einen Sinn sein Leben vielleicht haben kann. Ich weiß nicht, ob er den den Weg zu einer Antwort gefunden hat. Egal, welche Richtung er dabei gedanklich einschlägt, ob er stehen bleibt oder mit einer Antwort ringt, Gott ist schon für ihn da.
Doch wie ist Gott für Gefangene da? Wie spürt man, dass Gott schon da ist, an einem Ort der äußeren und inneren Einsamkeit? Ich erlebe als Seelsorger im Jugendstrafvollzug, dass Gebet, Beichte und Segen für die Inhaftierten von großer Bedeutung sind. Ein Jugendlicher bittet mich nach jedem Gespräch darum, dass wir in die Kirche gehen, vor den Altar treten und dort beten. Einmal war das Gespräch sehr angespannt und schwierig. Er fühlte sich von mir nicht verstanden, rang mit mir um etwas, was ich nicht verstand und ihm daher nicht geben konnte. Er war sichtlich aufgewühlt, nervös und angespannt. Als wir auf seine Aufforderung hin in die Kirche traten, wurde er ruhiger. Wir beteten lange. Ich war erstaunt, dass er nur wenig für sich selbst erbat und viel für andere Menschen, die ihm lieb sind. Ich schloss mein Gebet an, in dem ich Gott bat, ganz für ihn da zu sein. Als wir uns vom Altar wegdrehten, strahlte er mich an, bedankte sich bei mir für das Gespräch und fragte, wann er wieder kommen kann. Im Gebet hat Gott ihn verstanden, was mir an jenem Tag nicht möglich war. Und irgendwie hat dieser Jugendliche das gespürt und dankbar angenommen.
Immer wieder bitten mich Jugendliche um eine Beichte. Einer hat einen Menschen getötet und wird damit nicht fertig. Er hat Alpträume und kann häufig nachts nicht schlafen. Nachdem er mir in mehreren Gesprächen alles erzählt hatte, vereinbarten wir ein Beichtritual. Aufmerksam und fasziniert ging er bei jeder Bewegung von mir innerlich mit. Als ich ihm die Hand zum Segen auflegte, fühlte ich, wie er zitterte. Nach dem Ende der Beichte umarmte er mich herzlich. Die Beichte und vor allem die Vergebungszusage waren für diesen jungen Menschen wohl Zeichen dafür, dass es jemanden gibt - und zwar keinen geringeren als Gott selbst -, dem sein Schicksal nicht egal ist. Er ist für Gott so wichtig, dass der ihm trotz der Schwere der Schuld vergibt. Bei einem der folgenden Treffen zum Gespräch erzählte er, dass er das Gefühl hatte, der Ermordete sei bei ihm gewesen, fast wie ein Geist. Er schaffte es, diesem Geist zu begegnen, sich in ihn hinein zu versetzen und Zwiesprache mit ihm zu halten. Er spürt, dass Gott für ihn da ist, und ihm unter seiner Obhut nichts passieren kann.
Manchmal werden auch Segensgesten zu einer fühlbaren Erfahrung. So war es, als ich ein Gebet mit einem Jugendlichen mit einem Segen mit Handauflegung abschloss und dieser danach zu mir sagte: "Das hat richtig gut getan. Da ist mir ein kalter Schauer den Rücken runter gelaufen." Die Berührung wird zum Zeichen für Gottes Anwesenheit auch an diesem Ort. Der Segen lässt Kräfte fließen, die man spüren kann. Noch in einer anderen Hinsicht ist Gott im Gefängnis spürbar: Er kennt uns Menschen ganz und gar. Auch in unserem Innersten, dort, wo wir niemanden hinlassen, weil der Ort uns so verletzlich, gefährlich und jeder Blick uns peinlich scheint, ist Gott schon da. Ganz unspektakulär. Es kann gar nicht so schlimm, peinlich oder beschämend sein, dass Gott ein Problem damit hätte, dort bei uns zu sein - ohne Verurteilung oder Entblößung. So wenig entblößt Gott einen Menschen, dass er sogar schon an jenem Ort in seinem Inneren ist, von dessen Existenz der Mensch noch gar nichts wissen will. Gott lässt ihm diese Verdrängung und entlarvt ihn nicht. Doch, wo ein Mensch den Zugang findet zu dieser Seite, weiß Gott um dieses Geschehen.
Als ein Insasse mir von seiner weichen Seite erzählte, die er in seinem Leben sehr verdrängt hatte, fügte er hinzu: "Davon habe ich noch niemandem erzählt. Sie und ich sind die Einzigen, die davon wissen." Es scheint ihm gut zu tun, dass noch jemand außer ihm nun davon weiß. Doch da ich wieder gehen und aus seinem Leben verschwinden werde, möchte ich ihm signalisieren, dass er auch dann mit dieser Seite nicht allein ist, wenn ich weg bin. Daher antwortete ich: "Dann sind wir jetzt schon zu dritt. Gott kennt diese Seite schon."
Gott ist da. Das ist der Grund, auf dem ich bauen kann. Grund genug, mich nicht aufzugeben, und Grund, der meinen Sturz in die Tiefe begrenzt. Gott ist nicht aufdringlich. Er feilscht nicht, er rechtet nicht, er drängelt nicht. Er gibt und lässt uns die volle Freiheit, auch hinter Mauern und Stacheldraht. Er ist einfach nur da.
aus: der überblick 01/2000, Seite 108
AUTOR(EN):
Stephan Pohl-Patalong:
Stephan Pohl-Patalong ist Pastor im Evangelischen Pfarramt der Jugendvollzugsanstalt Hahnhöfersand in Hamburg.