Korrespondenten-Erfahrung in Südafrika und der DDR
Das ist ja seine große Schwäche, dass er sich erinnert, dass er nicht vergessen und im Nachhinein nichts verharmlosen will. Ein Blick zurück:
Auf dem Alexanderplatz in Berlin rote Fahnen und blaue Fahnen. Weit mehr als zehntausend Menschen demonstrieren für eine andere Politik. Er umrundete die Menge, beobachtete und machte sich Notizen. Jemand klopfte auf seine Schulter und wollte wissen, ob er denn eine Genehmigung hätte, über diese Veranstaltung zu berichten. Das war scheinbar witzig gemeint, denn der da fragte, wird von einem Kreis von Frauen und Männern, die um ihn herumstehen, mit einem Gelächter belohnt. Er schaute in Gesichter der Nomenklatura der DDR. Abteilungsleiter des Außenministeriums. Ihm war aber nicht nach Lachen zumute. Markus Wolf kam auch gerade des Weges. Die Apparatschiks der DDR, die früher darüber entschieden, ob er als Korrespondent aus dem Westen nach Dresden oder Wittenberg fahren durfte, die nicht nur über rote Fahnen, sondern auch über rote Karten verfügten, forderten im Juni 1998 auf dem Alexanderplatz eine Kehrtwende in der Politik.
Dreißig Meter weiter. An den Namen konnte er sich auf Anhieb nicht mehr erinnern. Der Mann kam mit einer kleinen Aktentasche in der linken Hand auf ihn zu und sagte: "Sie sind doch der..." Die Lautsprecher verkündeten eine bessere Welt. "Und Sie sind also Ihrer Partei treu geblieben?" fragte er. Das war eigentlich ziemlich überflüssig. Was hätte der schmale, dünne Mann sonst auf diesem Platz getan? "Aus voller Überzeugung." Der Herr mit der Aktentasche warf einen Blick über das rote und blaue Fahnenmeer seiner Gleichgesinnten und meinte ohne große Erregung, aber sehr selbstverständlich: "Unsere Uhr ist noch nicht abgelaufen."
Je länger er über diese Gespensterstunde nachdachte, umso mehr verfestigte sich in ihm der Gedanke, es sei noch nicht vorbei. Autoritäre Strukturen und Muster seien längst nicht alle aufgedeckt.
Er erinnerte sich: Journalistische Projekte müssen die Korrespondenten beim Außenministerium schriftlich beantragen. Tabu ist die Nationale Volksarmee. Tabu sind die Freunde aus Moskau. Tabu ist Margot Honeckers Bildungsministerium. Tabu sind die wichtigen Industriebetriebe. Tabu sind die Mitglieder des Politbüros. Alles was in dieser Richtung beantragt wird, kann morgen oder in einem Monat oder in einem Jahr oder nie mit der Antwort rechnen: Arbeitsvorhaben abgelehnt.
Dieser Staat erklärt sich nicht selbst. Seine Protagonisten verweigern sich. Die Nomenklatura weist auf das "Neue Deutschland" hin. Dort stünden die Antworten. Sie reichen nicht. So, nur so ist zu erklären, dass ein Mann aus der Kirche sich so etwas wie die Deutungshoheit über die DDR aneignet. Er heißt Manfred Stolpe. Wir sitzen manchmal zusammen. Seine Antworten beginnen nicht selten mit dem Satz: "Die Genossen meinen,..." Später wird diesem Satz zusätzliche Bedeutung beigefügt.
Unter dem Dach der Kirche trifft er die kritischen Geister des Landes. Die Oppositionellen, die Dissidenten, die Andersdenkenden. Keine Havels, keine Kurons, keine Kolakowskis, aber empfindsame Menschen, die sich noch etwas anderes als die real existierende DDR vorstellen können. Diamonds are girls best friends. Für die Korrespondenten gilt: Wir lieben Dissidenten. Es sind unsere kleinen Edelsteine. Im grauen Allerlei einer abwesenden, nicht vorhandenen Informationspolitik des Staates erscheinen sie geradezu als Leuchttürme. Nicht, dass sie so viel mehr wüssten als wir (typischer Korrespondenten-Hochmut), nicht dass sie uns die sensationellsten Neuigkeiten mitteilten. Aber sie halten etwas aufrecht, das wir sonst in diesem Land selten finden: eine andere Sprache.
Für ihn war das im Übrigen das entscheidende Kriterium. Michael Beleites, Erika Drees, Almuth und Heino Falcke hatten gegen die SED-formierte Versatz-Formeln sich eine eigene Sprache behauptet. Also traute er ihnen. Uneingeschränkt. Als er mehr als die Dissidenten-Lyrik des Prenzlauer Bergs zu Gesicht bekam, zum Beispiel in der "Pechblende" die aufsehenerregende Studie über die desaströsen Folgen des Uran-Abbaus, in "Kontext" den Aufsatz von Konrad Weiß über die Faschos in der DDR, wusste er, dass sich dort die wichtigere, die interessantere, die andere DDR äußerte. Die Begleitung der offiziellen Politik war Pflicht, aber Kür war die Opposition.
Nun hat FU-Professor Manfred Wilke vor der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" den DDR-Korrespondenten vorgeworfen, sie hätten Hofberichterstattung und die Anerkennung der SED-Diktatur betrieben. Das war, freundlich beschrieben, ganz und gar unakademisch. Er wünschte freilich, dass das, was hinter diesem Vorwurf liegt, wissenschaftlich bearbeitet wird. Nämlich die Analyse seiner Berichte, Kommentare und Reportagen. Daran ließe sich klären, ob Wilkes Eindruck korrekt ist.
So wie es die Opposition nicht gab, sondern Gruppen und Grüppchen, Unabhängige – Friedensbewegung nannte er das eine Zeit lang –, so gab es auch nicht die Korrespondenten. Es gab besonnene, besorgte, ängstliche, zurückhaltende, offene, zupackende, manchmal dreiste Variationen dieses schrecklich schönen, sehr individualistischen Berufs.
So gab es also auch keinen einheitlichen Zugang der Korrespondenten zu oppositionellen Gruppen. Jeder hatte seinen eigenen und manche gar keinen. Und was ist eine oppositionelle Gruppe? In Pankow traf sich Mitte der siebziger Jahre ein Kreis, um Kant und Hegel zu studieren. Daran sollte kritisches Denken geschult werden. In diesem Kreis diskutierten unter anderen Markus Meckel, Freya Klier, Vera Lengsfeld, Ruth und Hans Misselwitz, Marina Grasse, Martin Hoffmann, später Werner Schulz. Daraus entstand der Pankower Friedenskreis und politisches Engagement während der DDR und nach ihrem Ende. Zu den ziemlich unvergesslichen Momenten gehört die erste Reise des neuen Außenministers der DDR nach Polen. Und was antwortet Markus Meckel im Flugzeug nach Warschau auf die einleitende Frage der vier mitreisenden Journalisten? Er antwortet so: "Mit Hegel meine ich..."
Der Vorwurf Wilkes geht ihm nach. Er kann sich erst sehr spät mit ihm auseinandersetzen. Er war ja fünf Jahre außer Landes, als ARD-Korrespondent im Südlichen Afrika, von 1992 bis 1997.
Aus der lauten Vier-Zimmer-Wohnung in der Hauptstrasse in Berlin-Friedenau zog er mit seiner Frau in einen langgestreckten, weißen, stillen Bungalow in Bryanston, im Norden Johannesburgs. Das Haus war zur Straße hin offen, die Nachbarn wohnten überwiegend hinter Mauern. Von seinem Vorgänger übernahm er eine Haushälterin und einen Gärtner, die im Anbau wohnten. Um den riesigen Pool kümmerte sich der Gärtner. Zwei Hunde sollten Wachdienste übernehmen. Sie taten keiner Fliege etwas.
Aus dem einfachen Leben war er plötzlich in einem privilegierten gelandet. Er war, im Kontext des Landes, reich, weiß und privilegiert. Sein Gehalt war steuerbegünstigt, der Wechselkurs DM-südafrikanischer Rand war von nicht geringem Vorteil. Fünf Jahre ohne einen finanziellen Engpass. Ein Leben im Überfluss. Sein Vorgänger wusste nicht, dass die schwarze Hausangestellte und der schwarze Gärtner mehr als nur einen Vornamen hatten. Von dem Gehalt des Süddeutschen Rundfunks lebten etwa 35 Menschen der Familie Letsoalo. Vor allem die Großmütter, die weit weg auf dem Lande die Enkel aufzogen.
Es dauerte mehrere Monate, bis Frau Letsoalo es aufgab, ihn Master zu nennen. Er wollte kein Master sein. Den Widerspruch zwischen seinem schönen Leben und der Armut um ihn herum konnte er nicht auflösen. Sein Vorgänger übergab ihm vier Klarsichthüllen mit einigen Zeitungsausschnitten und zwei bespielte Tonbänder. In der Garage moderten leere Blechbehälter vor sich hin. Das ARD-Hörfunk-Büro im südlichen Afrika, in den siebziger Jahren eingerichtet, war heruntergekommen.
Sein Chefredakteur in Stuttgart honorierte, dass er es wieder auf die Beine brachte, seine Frau ein Zeitungsarchiv aufbaute, so dass in Kapstadt, am Sitz des Parlaments, eine zusätzliche Wohnung angemietet werden konnte. Aber wenn er weitergehende Vorschläge machte, vor allem wenn er darauf drang, die Leitung möge doch ihrer Fürsorgs- und Aufsichtspflicht nachkommen, auch ihm gegenüber, wurden seine Briefe nicht beantwortet. Er konnte machen, was er wollte. Was für ein Privileg. Er öffnete das Haus in Bryanston für schwarze und weiße Freunde. Aus der lilienweißen Nachbarschaft gab es nur mit einer Buren-Familie freundlichen Kontakt. Als er in dem 4000 Quadratmeter großen Garten für einen Maler aus Lesotho eine Ausstellung initiierte und zahlreiche schwarze Freunde des namhaften, aber weithin vergessenen Künstlers sich einen schönen Nachmittag machten, waren die Jouberts von nebenan die einzigen Besucher aus der Straße. Ihr Schwiegersohn kam mit einem geladenen Revolver im Halfter. Er musste wieder gehen. Seine Eltern erklärten uns, in der Gegend würden wir als Kommunisten angesehen. Der Mann ihrer Tochter hätte Bedenken gehabt, zu einem Fest mit so vielen Schwarzen mit herüber zu kommen.
Er liebte die Freiheiten seines Berufs, er genoss die Privilegien auf Zeit, aber dies war nicht sein Ort, nicht sein Platz. Er musste sich zusammennehmen, wenn Kollegen, sechs Wochen im Land oder auch Monate und Jahre, sich ziemliche Anwesen zulegten am Kap, die sie zuhause nie würden erstehen können, aber hier so taten, als stünden ihnen solche zu. Er musste ein Gefühl, das Verachtung leider nahe kam, mühsam unterdrücken.
Er hatte nie länger als ein paar Wochen in den USA gearbeitet, aber er erinnerte sich gut, wie Kollegen dort beklagten, dass sie kaum eine Chance hatten – weder in Washington noch in New York –, an die Protagonisten der Macht heranzukommen. Was sind schon Radio-Korrespondenten aus der Bundesrepublik? Im Umbruch Südafrikas war das Land offen und neugierig auf sich selbst und auf die Journalisten aus Übersee. Zu Cyril Ramaphosa und Roelf Meyer, zu Mac Maharaj und Desmond Tutu war der Kontakt direkt, persönlich und von verlässlicher Kontinuität. Adelheid und Wolfram Kistner, Beyers Naudé, Beate und Alan Lippman, Jane Alexander, Petra Kahle, Sue und Allister Sparks, der Apartheid sich widersetzende Theologen, Architekten, Künstler, Journalisten, Ärzte wurden Freunde und sind es bis heute geblieben.
Natürlich gab es auch Kollegen, deren symbiotisches Verhältnis zur deutsch-südafrikanischen Handelskammer sie davon abhalten konnte, einigermaßen entspannt mit dem ANC umzugehen, die über Desmond Tutu herzogen, wo sie nur konnten, und sich heute als Antiapartheid-Gegner auf die eigene Schulter klopfen. Das alles gab es, und er spürt bis heute, dass ihm das nicht gleichgültig ist.
Selbstgerecht hatte er immer oberklug über notwendige Distanz parliert, aber im Korrespondenten-Alltag waren die Widersprüche zu den eigenen hehren Zielen mit Händen zu fassen. Mercedes Südafrika lädt ein zur Eröffnung einer neuen Montagehalle in Port Elizabeth. Am Flughafen Johannesburg steht ein Firmen-Jet bereit für die deutschen Korrespondenten. Die Flug-Tarife innerhalb Südafrikas sind vergleichsweise günstig. Er entscheidet, dass die ARD das Ticket nach Port Elizabeth und die Hotelkosten dort alleine übernehmen könne. Sein Verhältnis zu der Firmenleitung in Pretoria ist durch sein merkwürdiges Verhalten nicht getrübt. Er findet sich beispielhaft und großartig. Lächerlich.
Ein ZDF-Team, eine Kollegin vom "Spiegel" und der ARD-Korrespondent haben eine Verabredung um 22 Uhr auf dem Flughafen von Kinshasa, damals Zaire. Wir fliegen mehr illegal als legal in einer Antonow 32 mit moldauischen Hoheitszeichen und russisch sprechenden Piloten nach Bailundo ins Hochland Angolas. Ins Hauptquartier der aufständischen Unita und zu ihrem Führer Jonas Savimbi. Außer uns fünf Journalisten besteht die Flugzeugfracht aus fünf Matratzen, auf denen wir schlafen werden, und aus französischem Rotwein, der für den maximo lider bestimmt ist. Im Hauptquartier der Unita gibt es kein elektrisches Licht, aber eine funktionierende Satelliten-Anlage, über die wir Berichte nach Deutschland absetzen können. Der ARD-Korrespondent besteht darauf, die Leitungskosten für den Satelliten zu bezahlen und setzt die Gebühren selber fest. 100 US-Dollar pro fünf Minuten. Merkwürdigerweise vergisst er, sich nach den Kosten für den Flug Kinshasa-Bailundo-Kinshasa auch nur zu erkundigen. Korrumpierbar auch er. Natürlich. Sein gelegentlich selbstgerechtes Pathos ist ihm ein Gräuel.
Sie waren in zwei großen Flugzeugen angereist. Die eine davon hieß die Kanzler-Maschine. Und wer in der mitgenommen wurde, gehörte zu den Auserwählten. Helmut Kohl fühlte sich wohl. Er wurde hofiert, nicht nur von der Servilität der ihn umschwirrenden Journalisten. Nelson Mandela nannte ihn den wichtigsten Staatsmann Europas. Im September 1995 verglich der Kanzler in seinen fünf Reden in Südafrika immer wieder die Wiedervereinigung Deutschlands mit der Überwindung der Apartheid.
Auf der einzigen Pressekonferenz während des Südafrika-Aufenthalts fragte der Korrespondent den deutschen Regierungschef, ob er nicht an einem Punkt von Südafrika lernen könne, wo bei der höchst sensiblen Frage von Landbesitz aus guten Gründen, nämlich um Südafrika zu versöhnen, kein Weißer gegen seine Willen Land zurückgeben müsste, und nicht, wie in Deutschland, überwiegend das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung angewandt wurde. Der Kanzler bürstete ihn ab. Ein Mitarbeiter des hohen Herrn näherte sich dem Fragesteller und flüsterte ihm ins Ohr: Sollten sie noch an eine weitere Karriere in der ARD gedacht haben, die ist hiermit beendet. Ein Passagier aus der Kanzler-Maschine, ein Chefredakteur, beklagte sich vorwurfsvoll: "Sie haben uns unsere ganze Reise verdorben. Bisher war die Stimmung prima, aber Ihre Frage wird der Kanzler uns allen übel nehmen."
Nach dem Ende der Ära Kohl hatte er nicht wenige Kommentare gehört und gelesen, die ihm nahe legen wollten, ihre Autoren hätten nie je in einer Kanzler-Maschine Platz genommen, nie je vom System Kohl genascht. Da war ihm eine ähnliche und doch ganz andere Erinnerung lieber. Bei einer Festveranstaltung der Foreign Correspondents´ Association in Johannesburg fragte er Nelson Mandela nach einer rassistisch klingenden Äußerung seines langjährigen Mitstreiters Jacob Zuma. Südafrikas Präsident wurde sehr wütend und antwortete ihm voller Zorn. Später aber kam Mandela an seinen Tisch, nahm ihn in die Arme und sagte: "You had every right, to ask that question." Der Korrespondent ist Helmut Kohl nicht erlegen.
Südafrika ist nicht aus seinem Herzen, weil ein fünfjähriger Kontrakt zu Ende ging. Er liest alles, was ihm zu Südafrika unterkommt. Telefoniert oder korrespondiert per Email mit den Freunden zwischen Johannesburg und Kapstadt. Mindestens einmal in der Woche ist er im Wortsinn mit Südafrika in Kontakt. Wenn sich Nachrichten, gute oder schlimme Geschichten, verdichten, hört er im Internet Radio 702 in Johannesburg. Das geliebte Südafrika, das nicht seins ist.
Nun leben seine Frau und er, zurück in Berlin, wieder in einer Vier-Zimmer-Wohnung. Berlin ist längst keine geteilte Stadt mehr, und doch ist die Vergangenheit der DDR präsent wie immer. Er wird ausgefragt über die Jahre vor 1989, bevor die Mauer fiel. Generalisierungen sind schwer. Jeder Korrespondent muss für sich selber sprechen. Durch die Journalisten-Verordnung der DDR hat er sich nicht definieren wollen. Er hat sich nicht an die Vorschriften gehalten.
Das wird ihm bis heute von West-Kollegen vorgeworfen, die ihn jetzt zu Kameradschaftstreffen mit den Damen und Herren des DDR-Außenministeriums einladen, denen er nicht folgt. So als sei alles nicht so schlimm gewesen. Er hat Material der Opposition transportiert. Papiere, Pamphlete, Filme, Tonbänder. Die ersten Radioprogramme im Westen mit Liedern von Stephan Krawczyk nahm er auf dem Sony-Recorder des Süddeutschen Rundfunks auf. In der Chausseestraße. Aber nicht in Nr.131, wo Wolf Biermann bis zu seiner Ausbürgerung lebte.
Die Stasi sah in den Korrespondenten feindliche Agenten, die "mit subversiver Methode auf die Untergrabung und Destabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse" aus waren. So sah die Stasi auch ihn. Er nahm permanent Kontakte zu "feindlich-negativen" Kräften auf.
Immer wieder, und zu Recht, ist den Korrespondenten die Frage gestellt worden, warum sie nichts gewusst haben von dem maroden Zustand der DDR-Wirtschaft. Er erinnert sich schmerzhaft genau daran: Als er Statistiken westlicher Wirtschaftsinstitute zitierte, die ja von der DDR als dem zehntgrößten Industrieland sprachen, fuhr ihn ein Freund aus Pankow an, der das im Deutschlandfunk gehört hatte. Keine Ahnung habe er. Aber eigenen Augenschein konnte er ja nicht nehmen. Die wirtschaftliche Potenz der DDR wurde verkannt. Relevante Daten hat die DDR nicht veröffentlicht. Die richtigen bekam er nicht in die Hand. Hat er dadurch die DDR schön geredet? Schon möglich. Seit 1987, nicht früher, hat er die Krise der DDR gesehen und beschrieben.
Von dem renommierten Kollegen Hanns Joachim Friedrichs gibt es ja den häufig zitierten Satz "Ein Journalist macht sich mit keiner Sache gemein, nicht mal mit einer guten". Ein kluger Satz, der einem auf Sylt schon einmal einfallen kann. Für einen Korrespondenten im südlichen Afrika oder in der DDR erweist sich das als grober Unfug, als dummes Zeug. Distanz zu den Mächtigen, zur Nomenklatura, allemal, aber doch nicht zu denen, die das System an den Rand gedrängt hatte und stumm machen wollte.
Von 1982 bis zu ihrem Ende hat er aus der DDR berichtet. Am Anfang zu euphorisch, überwältigt von Menschen in Deutschland, von denen er zuvor fast nichts gewusst hatte. Heute, im Nachhinein, ertappt er sich dabei, kritischer zu sein als zu DDR-Zeiten. Das hat auch mit der Stasi zu tun. Das Ausmaß der "Firma" hat er geahnt, aber nicht gewusst. Seine Wut über Bilder seiner Frau in seiner Akte hat sich nicht gelegt. Und bis heute weiß er nicht, was das war, als einmal nachts in der Mitte Ostberlins der vordere rechte Reifen seines gelben SDR-Autos platzte, und sogleich vier Männer, in gleicher orangener Arbeitskluft, sich um 0 Uhr 30 freudig erboten, den Reifen zu wechseln. Der VW-Passat klang danach anders. In seiner Garage im westlichen Friedenau erklärte ihm ein erfahrener Kfz-Meister, so etwas habe er sein Leben lang noch nicht gesehen. Die Haupt-Schraube der Vorderachse habe sich gelockert.
Auch im Westen der Stadt wurde er ausspioniert. Der Spion nannte sich Peeperkorn, wie derjenige, den Thomas Mann in seinem "Zauberberg" als einen Menschen beschreibt, von dem schwere Verwirrung ausgeht.
Peeperkorn hat für den Geheimdienst einer fremden Macht gearbeitet. Von 1957 bis Ende November 1989. Er ist dafür nicht nur in harter Währung entlohnt worden. Neun Orden in den langen Jahren des treuen Verrats. Er war ein richtiger Spion, der mit Geheimcode, einseitigem Funkverkehr aus der Wärme Westberlins kam, dort als Studienleiter an der Evangelischen Akademie beschäftigt war, sich den Namen Peeperkorn zulegte und berichtete und berichtete. Zum Beispiel:
"Rein gehört zu der Sorte von Journalisten, die dauernd dabei sind, Neuigkeiten aufzustöbern, Hintergründe aufzudecken und der ein besonderes Vergnügen daran hat, Streitereien, die nicht öffentlich ausgetragen werden, in die Öffentlichkeit zu bringen. Er ist außerordentlich geschickt und versteht es, mit viel Charme und Witz seine Gesprächspartner zu Äußerungen zu verlocken, die er benutzt. Rein hat, wie es scheint, keine klare politische Position, was de facto bedeutet, dass er Antikommunist ist."
Here we go. Für ängstliche, ahnungslose Buren ein Kommunist. Für intellektuelle, ahnungslose West-Spione der Stasi ein Antikommunist. Was ist er?
aus: "der überblick" Nr. 4/2007 Seite 14
AUTOR(EN):
Gerhard Rein
Gerhard Rein lebt als Journalist in Berlin. Er hat als Redakteur des Süddeutschen Rundfunks die Abteilung Kirche und Gesellschaft geleitet, berichtete für den SDR aus der DDR und war ARD-Korrespondent im südlichen Afrika.