Leiden an einem beendeten Krieg
Die Menschen in Kambodscha tragen schwer an den seelischen Folgen von Krieg und Massenmord. Eine Nachwirkung ist, dass Frauen und Kinder in hohem Maße häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Eine kleine nichtstaatliche Organisation setzt sich mit Unterstützung des EED dafür ein, dass die Gesellschaft Gewaltausbrüche in der Familie nicht weiter als Privatangelegenheit toleriert.
von Nora Hertel
Vor dem Gemeindehaus im Bezirk Kandal Stung im Umkreis der Hauptstadt Phnom Penh haben etwa 15 Frauen und Männer einen Kreis um eine junge Frau gebildet. Sie spielt diesmal das Opfer. Die anderen werfen sich gegenseitig ein Wollknäuel zu und besprechen, wer was tun soll: Die Frauenbeauftragte des Dorfes kann sich um das Opfer kümmern, der Dorfpolizist muss den gewalttätigen Mann festnehmen. Am Ende des Spiels, nach vielen Würfen, steht die junge Frau in einem dichten Netz, das von Helfern gehalten wird: der Bürgermeistern, den Bezirksvorstehern, von Polizisten und von Frauen, die für die Organisation PADV (Project against Domestic Violence, Projekt gegen häusliche Gewalt) in den Dörfern die Rolle von Ansprechpartnerinnen übernehmen, sogenannte peer advocater. Das Projekt will solche Hilfsnetze in Kambodscha Wirklichkeit werden lassen.
Das Eingreif-Spiel mit dem Wollknäuel hat Phally Hor, die Projektleiterin, von einem Workshop aus Berlin mitgebracht. Sie lässt es gern auf den Treffen der Männer und Frauen spielen, die PADV bei der Basisarbeit unterstützen. Phally Hors Ziel ist, dass die Menschen häusliche Gewalt nicht mehr als private, sondern als öffentliche Angelegenheit begreifen. Denn, so sagt sie, "die Tradition von uns Frauen in Kambodscha ist, sich still zu verhalten und nicht schlecht über den Mann zu reden, selbst wenn der zu Hause Prügel verteilt." Lieber fragen die Frauen sich, was sie denn wohl falsch gemacht haben.
Still verhalten hat sich zum Beispiel Kaing Kev Ieak aus Phnom Penh, obwohl ihr Mann sie mehr als 20 Jahre lang immer wieder schwer misshandelte. "Er trank viel und wurde dann schnell wütend. Er hat mich auf den Kopf geschlagen, bis ich blutete, und mich gegen die Wand geschleudert - sogar vor seinen Freunden", berichtet sie. Mittlerweile lebt die 40-jährige Frau von ihrem Mann getrennt und baut sich mit ihren beiden Kindern in Phnom Penh ein eigenes Leben auf, mit neuen Nachbarn und einem kleinen Einkommen als Schneiderin. Als sie vor gut einem Jahr an die Türe von PADV klopfte, brachten deren Mitarbeitende sie zunächst in einem Frauenhaus unter. Auch heute noch kommt sie regelmäßig, um sich Rat und Unterstützung zu holen, denn die erduldeten Misshandlungen belasten sie schwer. Doch die zurückhaltende Frau hat bereits in einer Radiosendung ihr Schicksal erzählt. Das ist eines der Medien, mit denen PADV, ein Partner des EED, eine breite Öffentlichkeit erreichen will.
Sobald häusliche Gewalt im Radio angesprochen wird, ist die Anruferresonanz groß. Das zeigt für Phally Hor, wie stark das Thema die Frauen in Kambodscha beschäftigt. Neueren Umfragen zufolge ist jede Fünfte zu Hause Opfer. Ein Abendessen, nicht rechtzeitig auf den Tisch gebracht, kann schon Auslöser dafür sein, dass ein Mann seine Frau mit einem Gewehrgriff blutig schlägt.
Welchen Grausamkeiten Frauen in Kambodscha ausgesetzt sind, brachte eine Untersuchung aus dem Jahr 1994 ans Tageslicht. Darin war die Rede von Vergewaltigungen, Auspeitschungen mit Drähten und Fahrradschlössern, Prügeln mit Bambusrohren, Vergiftungsversuchen mit Rattengift und Schüssen aus Waffen, von denen in Kambodscha nach den vielen Jahre Krieg und Bürgerkrieg noch zahlreiche vorhanden sind. Auch Kinder, so ergab die Studie, sind betroffen. Nach dieser Studie wurde das Projekt von PADV gegründet. Ziel ist eine Gesellschaft, in der Männer und Frauen ohne Angst vor Gewalt und Bestrafung zusammenleben können.
Dass Kaing Kev Ieak vor ihrem prügelnden Ehemann lange nirgends Unterschlupf suchen konnte, hat auch damit zu tun, dass ihre Eltern beide während der vierjährigen Schreckensherrschaft von Pol Pot zwischen 1975 und 1979 ums Leben gekommen waren. Wie diese Frau kämpfen fast alle Menschen in Kambodscha in irgendeiner Form mit dem Erbe jener Zeit. Dass Alltagskonflikte schnell zu Gewalt führen, ist auch ein Erbe der Schreckensherrschaft der Roten Khmer.
Die kommunistischen Roten Khmer zerstörten auf grausamste Weise überkommene politische und gesellschaftliche Strukturen. Stadtbewohner wurden aufs Land verschleppt, um Zwangsarbeit auf den Reisfeldern zu leisten; viele starben infolge von Exekutionen, Hunger und Überarbeitung sowie mangelnder medizinischen Versorgung auf diesen "killing fields". Erziehung und Bildung wurden abgeschafft, Intellektuelle ermordet. Die kommunistische Partei untergrub emotionale Bande zwischen Eltern und Kindern, zwischen Ehemännern und Ehefrauen. Die Zahl der Todesopfer, die dieses Regime unter der eigenen Bevölkerung forderte, wird auf zwischen 1,7 und 3,3 Millionen geschätzt.
Paradoxerweise war aber häusliche Gewalt gerade in diesen brutalsten vier Jahren der Geschichte Kambodschas ein Randproblem, weil die Täter streng bestraft wurden: Die Kommunistische Partei beanspruchte das Gewaltmonopol für sich. Nach dem Sturz der Pol Pot-Clique durch die vietnamesische Invasion 1979 traten jedoch die sozialen Folgen der Terrorherrschaft zutage. Kinder hatten Gewalt und gegenseitige Bestrafung als Grundwerte verinnerlicht. Erwachsene hatten gelernt, zu töten und sich jederzeit verteidigen zu müssen. Diese Mechanismen wertet nicht nur PADV als entscheidenden Grund für die verbreitete häusliche Gewalt. Frustration über die schwierigen Lebensbedingungen mit bitterer Armut und hoher Arbeitslosigkeit macht viele zusätzlich aggressiv.
Kang San von der "Transkulturellen Psychosozialen Organisation" (TPO) in Phnom Penh, die Beratung und Therapie für Traumatisierte anbietet, spricht von einem hohen Prozentsatz psychisch Kranker in Kambodscha. Früher seien die gesellschaftlichen Bande in der Stadt und auf den Dörfern noch intakt gewesen. "Aber viele haben in den Jahren von Pol Pot und auch in den anderen harten Zeiten Aggression erlernt. Nun, wo der Krieg zu Ende ist, sind die meisten mental in ganz übler Verfassung. Erschwerend kommt hinzu, dass sie kaum eine Schulbildung oder Ausbildung haben." Häusliche Gewalt sei, so Kang San, eine der gravierenden Folgen dieser Umstände.
Neue Lösungsmuster für alltägliche Konflikte zu vermitteln, ist ein wichtiger Bestandteil der Arbeit von PADV. Das Pilotprojekt "Männer gegen Gewalt" nach einem Vorbild aus den Vereinigten Staaten richtet sich nicht nur an Täter, sondern bietet auch Gruppen für Singles und Verheiratete an, die ihr soziales Verhalten verbessern wollen. Anfangs war die Zurückhaltung groß, aber jetzt sind die PADV-Männergruppen zu einer Sache geworden, zu der hingeht, wer in der Gemeinde etwas auf sich hält. Pen Sam Oern, ein Bauer im Bezirk Kandal Stung, ist sichtbar stolz darauf, dass er dort eine Menge gelernt hat. Früher habe er seine Frau und seine Kinder oft angeschrien, wenn die Dinge nicht nach seinem Geschmack liefen, berichtet der 48-jährige achtfache Vater. "Nun kontrolliere ich meine Launen besser. Ich zerstöre ja sonst das gesellschaftliche Ansehen der Familie, und außerdem schäme ich mich vor den Nachbarn".
Das Ehrgefühl der Männer ist nach den Erfahrungen von Liz Giles, die Management-Beraterin bei PADV ist und am Pilotprojekt mitarbeitet, ein wirksamer Hebel für eine Verhaltensänderung. "Wir reden mit ihnen darüber, wie ein guter, starker Mann sein sollte. Wir erklären, dass ein ehrbarer Mann keine Gewalt anwendet. Darauf sprechen sie an. Sie verändern ihr Verhalten und finden es toll, wie viel mehr Respekt ihnen jetzt entgegengebracht wird." Pragmatische Methoden, die sich die Wertvorstellungen der Kambodschaner zunutze machen, sind nach den Erfahrungen der Australierin die richtige Herangehensweise. Auch das Argument, dass häusliche Gewalt teuer ist, hat sich als äußerst wirksam erwiesen. Es klingt brutal, aber die unangenehme Aussicht, eine medizinische Behandlung für seine Frau bezahlen zu müssen, hält so manchen Mann davon ab, sie krankenhausreif zu schlagen. Auch der Wert der Frau als Versorgerin der Familie wird herausgestellt - eine Arbeitskraft, die ansonsten ausfällt.
Liz Giles kam vor zweieinhalb Jahren mit der australischen Organisation Australian Volunteers nach Phnom Penh, um zunächst für eine andere nichtstaatliche Organisation zu arbeiten. Ihre Toleranz gegenüber den Wertvorstellungen einer anderen Kultur wird mitunter hart auf die Probe gestellt. Als besonders schmerzhaft empfindet sie, dass "die Männer hier einfach nie darüber sprechen, dass sie es gut finden, dass es ohne Gewalt auch ihren Frauen besser geht und sie sich freuen, ihnen nun kein Leid mehr zuzufügen. Das passt nicht zu meinen Vorstellungen von Menschenrechten und zu den Prinzipien, die ich vertrete", schildert sie ihre Zweifel. Doch letztlich zählt für Liz Giles das Ergebnis. Und das Pilotprojekt gegen Männergewalt hält sie für einen wirksamen Ansatz, um die Lebensbedingungen von Familien in Kambodscha zu verbessern. Ziel der Arbeit von PADV ist ja nicht die generelle Gleichstellung von Mann und Frau in Kambodscha, Ziel ist ein gewaltfreies Zusammenleben.
Ob Worten und Versprechen auch langfristig Taten folgen, überprüft Khut Kimseng, der das Männer-Pilotprojekt bei PADV leitet. Monitoring heißt bei ihm: Er fährt er mit dem PADV-Wagen über die Dörfer, klopft bei Nachbarn, befragt Verwandte. "Neulich haben mir die Schwiegereltern eines Mannes gesagt, dass dieser tatsächlich nicht mehr trinkt und auch keine Gegenstände mehr nach seiner Frau wirft, wenn ihm wieder einmal das Essen nicht schmeckt", berichtet Khut Kimseng.
Alkohol spielt in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt häufig eine Rolle, und so wirkt Khut Kimseng auch darauf hin, dass die Männer ihren Konsum von vergorenem Palmsaft drosseln. Ein örtlicher Weinkeller hat sich bereits bei ihm über Umsatzrückgänge beklagt. Es sei der Alkohol, der sie dazu treibe, gewalttätig zu werden, das hört Khut Kimseng in seinen Gruppensitzungen immer wieder. Auch Armut, Arbeitslosigkeit und Analphabetismus werden beklagt. Seine persönliche Auffassung aber ist: "Letztlich wollen die ihre Frauen einfach kontrollieren." Aussagen, die Frauen gegenüber PADV zu Protokoll geben, bestätigen dieses Bild. Viele dürfen zum Beispiel noch nicht einmal ohne Erlaubnis des Mannes das Haus alleine verlassen.
Die Versammlung in Kandal Stung hat damit begonnen, ein aktuelles Problem aus einem der Dörfer zu besprechen. Ein Mann hat neuerdings eine Zweitfrau und schafft den Besitz zum Haus der Neuen fort. Das Motorrad hat er bereits abtransportiert, seine erste Frau und die Kinder stehen ohne Transportmittel da. Als es darum geht, wie die Gemeinschaft eingreifen kann, werden die Stimmen lauter, man debattiert angeregt.
Polygamie ist in Kambodscha eigentlich nicht erlaubt, ist aber weit verbreitet. Das demografische Ungleichgewicht trägt dazu bei: Frauen sind in Kambodscha in der Überzahl, weil unter den Roten Khmer erheblich mehr Männer umgekommen sind. Zudem zwingt die Armut viele, nach einem männlichen Versorger Ausschau zu halten. Ob der bereits anderweitig vergeben ist, spielt dann eine untergeordnete Rolle. Vor Strafe müssen die mehrfach verheirateten Männer keine Angst haben, solange sie wohlhabend genug sind. Ein Freispruch ist im korrupten kambodschanischen Justizsystem oft nur eine Kostenfrage. Auch Gewalttäter, so klagt PADV, gehen häufig vor Gericht straflos aus, solange sie nur ausreichend Dollar für den Richter auf den Tisch legen.
Die verbreitete Korruption, die die Hoffnungen vieler Kambodschaner auf eine demokratische Entwicklung stark dämpft, wird die kleine NGO aus Phnom Penh sicher nicht beeinflussen können. Dennoch versuchen Hor Phally und ihr 21-köpfiges Mitarbeiterteam, die rechtliche Stellung der Opfer zu stärken. Zum einen, indem die Polizei ermuntert wird, Gewalttäter energischer festzunehmen. Der Polizist Thoan Mik Bun, der zu dem Treffen gekommen ist, berichtet von immer wiederkehrenden Fällen häuslicher Gewalt auch in seiner Gemeinde. "Dank einer Schulung von PADV weiß ich nun, wie ich mich in solchen Fällen zu verhalten habe. Ich hole den Täter sofort raus aus der Gewaltsituation."
Darüber hinaus betreibt PADV seit Jahren Lobbyarbeit, um ein Gesetz gegen häusliche Gewalt voranzutreiben. Dabei legt Hor Phally Wert auf einen engen Schulterschluss mit anderen NGOs und mit dem Ministerium für Frauen und Kriegsveteranen. Ein Gesetzesentwurf hat den Weg in die Nationalversammlung geschafft. Vor den Wahlen Ende Juli ist jedoch nicht mit einer Entscheidung zu rechnen.
aus: der überblick 02/2003, Seite 115
AUTOR(EN):
Nora Hertel:
Nora Hertel ist freie Journalistin in Essen und arbeitet vorwiegend für den Hörfunk.