Die neuen indischen Lehrbücher schreiben die Landesgeschichte um
Mit der Einführung neuer Lehrbücher in Indien hat ein ideologischer Kampf um Indiens Geschichte begonnen. Welche Interessen verfolgen die radikalen hinduistischen Gruppierungen der gelbgewandeten "Sangh Parivar", zu der auch die regierende BJP (Indische Volkspartei) gehört, wenn sie in neuen Lehrbüchern Indiens Geschichte, seine Kultur und Religion bewusst anders und einseitig darstellen? Warum bleibt beispielsweise die Ermordung Mahatma Gandhis unerwähnt?
von Brigitte Voykowitsch
Schon ein erster kurzer Blick zeigt: Fehler gibt es mehr als genug in den neuen im Oktober 2002 veröffentlichten indischen Schulbüchern für Sozialwissenschaften. Da wird Madagaskar im arabischen Meer angesiedelt und werden die Zaren als eine Dynastie bezeichnet. Derartige Fehler werden von den Textautoren eilends als Versehen oder Druckfehler entschuldigt. Doch im aktuellen Schulbuchstreit im Subkontinent geht es um weitaus mehr als die genaue Lage einer ohnedies nicht zu Indien gehörigen Insel oder um Herrscher, die für die Wahrnehmung Indiens letztlich irrelevant sind. Der wahre Kampf - der Begriff ist keinesfalls übertrieben - tobt um die Darstellung des eigenen Landes, seiner Geschichte, Kultur und Religion in den neuen Lehrmaterialien, in denen eine Reihe bislang einzeln unterrichteter Gegenstände wie Geographie und Geschichte zum neuen Fach Sozialwissenschaften zusammengelegt worden sind.
Warum bleibt die Ermordung des großen Freiheitskämpfers und Apostel der Gewaltlosigkeit, Mahatma Gandhi, in den Texten zur indischen Zeitgeschichte unerwähnt? Warum wurden alle durch archäologische wie literarische Quellen belegbaren Hinweise darauf gestrichen, dass auch Brahmanen, die Mitglieder der obersten Kaste von Priestern und Gelehrten, einst Rindfleisch konsumierten? Warum wird zu einer Darstellung der Zeitgeschichte, die im Jahr 1950 endet, noch ein Hinweis auf den Aufstieg der hindu-chauvinistischen Bharatiya Janata Party ( Indische Volkspartei , BJP) in den neunziger Jahren angefügt? Warum wird in einem Abschnitt über den frühen Buddhismus die Zerstörung der Buddhastatuen von Bamiyan in Afghanistan durch die Taliban 2001 erwähnt? Warum findet der Islam im Kapitel über die großen Weltreligionen keinen Platz und wird nur im Kontext des Mittelalters behandelt? Wieso werden Rama und Krischna als historische Persönlichkeiten dargestellt, wenn man aus allen verfügbaren Quellen schließen kann, dass es sich lediglich um mythologische Figuren handelt? Das - und die gesamte Genese der neuen Lehrbücher - sind die strittigen Fragen, die zu einer regelrechten ideologischen Schlacht geführt haben.
"Lügen, nichts als Lügen", wettert Arjun Dev, ehemaliger Direktor des Zentrums für Bildungsforschung (National Centre for Educational Research and Training, NCERT). "Propaganda anstelle von Geschichte", findet Romila Thapar, die international renommierte, von der Jawaharlal Nehru Universität (JNU) in Neu Delhi emeritierte Historikerin. Von Mythologie als Geschichte sprechen andere anerkannte Experten. Seit kurz vor der Jahrtausendwende die neuen Rahmenbedingungen für Schullehrpläne vom NCERT veröffentlicht wurden, ist auch von der "Talibanisierung des Bildungswesens" durch die "Safranbrigaden" die Rede. Dabei verweist Safran auf die Farbe der Gewänder der Sangh Parivar. Diese sind eine Gemeinschaft von Hinduorganisationen, die seit den neunziger Jahren in diversen Bundesstaaten und seit 1998 in Koalition auf Bundesebene regiert. Auch die BJP gehört ihr an. Es gehe der Sangh Parivar, so beschuldigen sie Kritiker, nicht um eine auf den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende sachliche Darstellung der indischen Geschichte, sondern um eine pseudohistorische Untermauerung ihrer Hindutva-Ideologie, dem Hindutum als Weltanschauung. Auf dem Spiel stehe dabei weit mehr als bloß die Geschichte des Subkontinents, es gehe um eine größere und umfassendere Idee - die der indischen Nation.
Thapar vermutet, dass die Sangh Parivar beweisen möchten, dass "der Kastenhindu auf eine ungebrochene, lineare Geschichte von 5000 Jahren zurückblickt." Die (Indo-) Arier - eine von dem deutschen Indologen Max Müller dezidiert linguistisch verstandene Bezeichnung von diversen sprachlich verwandten ethnischen Gruppen, die laut herkömmlicher Geschichtserkenntnis im zweiten Jahrtausend vor Christus aus Zentralasien einwanderten - werden in der Hindutva-Version zu den ursprünglichen Bewohnern des Subkontinents. Mehr noch: Nach dem Willen der Sangh-Vertreter hätten die (Indo-)Arier auch als die Schöpfer der hoch entwickelten Indus-Kultur zu gelten, obwohl diese erst unter den britischen Kolonialherren entdeckt wurde und nach herkömmlicher Geschichtskenntnis prä-arisch eingeordnet wird.
Seit die Hauptstätten der Indus-Zivilisation mit der Teilung des Subkontinents 1947 an Pakistan gingen, sind Hindutva-Ideologen (Hindutvawadis) bemüht, den Ursprung dieser Zivilisation ins heutige Nordindien zu verlegen, und sprechen von der Indus-Saraswati-Kultur. Indem die Hindutvawadis die Arier zu den ursprünglichen Bewohnern und zugleich zu den Trägern einer homogenen indisch-hinduistischen Kulturtradition erheben, ist es viel leichter, Indien als jungfräuliches Land darzustellen, das durch den Islam vergewaltigt wurde, anstatt die Ankunft des Islams - im achten Jahrhundert - einfach als weitere Welle von Menschen und einer Kultur zu sehen, die von diesem Land absorbiert wurden , betont der an der Delhi-Universität lehrende Historiker Sumit Sarkar.
Was nicht in das von der Sangh gewünschte Bild des Hinduismus und Indiens passe, werde eliminiert, also "alle unangenehmen Fakten", um eine "Kollektion von moralischen Fabeln oder glücklichen Geschichten" zu schaffen, betont Sarkar. "Die Hindus ... müssen davon überzeugt werden, dass ihre Interessen und Gefühle stets einheitlich sind und waren und damit unweigerlich im Widerspruch zu jenen der Muslime und Christen stehen, unabhängig von Kaste, Geschlecht, Klasse oder der gewaltigen regionalen Vielfalt." Dass der Mörder von Mahatma Gandhi ein radikaler Hindu war, der noch dazu der Nationalen Freiwilligenorganisation RSS (Rashtriya Svayam Sevak Sangh), der ideologischen Mutterorganisation aller Sangh-Gruppierungen, angehörte, passt offenbar nicht in das Bild der Einheit, womit das Ereignis in den Lehrtexten keinen Platz findet.
Zu den unangenehmen und daher aus den Schulbüchern gestrichenen Fakten gehören unter anderem auch einige aus Thapars über Jahrzehnte verwendetem Werk über das alte Indien. Rindfleisch wurde Gästen als besondere Ehrerbietung serviert (obwohl in späteren Jahrhunderten den Brahmanen der Genuss von Rindfleisch untersagt war) , hieß es da. Und: "Der reiche Viehbestand wurde langsam dezimiert, weil Kühe und Büffel in zahlreichen vedischen Opferritualen getötet wurden", war in einem ebenfalls lange benutzten Lehrbuch von R. S. Sharma zu lesen. Solche Hinweise auf die Opferrituale der vedischen Religion der im 2. Jahrtausend vor Christus eingewanderten Indo-Arier durfte es nicht mehr geben. Fallen mussten auch alle kritischen Passagen über das Kastensystem. Im von der BJP regierten Bundesstaat Gujarat konnte man bereits seit den neunziger Jahren über das Varna-System, die vier Hauptkasten der Brahmanen, Kshatriyas, Vaishyas und Shudras, lesen, dass "das Varna-System das glorreichste Geschenk an die Menschheit war."
Jedem Hindu, sagt Sharma, solle es frei stehen, Rama und andere Gottheiten zu verehren. Ohne jeden archäologischen oder sonstigen wissenschaftlichen Beweis aber die Historizität Ramas zu behaupten, sei unzulässig. Die Interpretation des Ramayana - nicht als großes Epos, sondern als dokumentarische Geschichte - verurteilte bereits Ende der neunziger Jahre der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen. Er verwies auf den großen indischen Dichter und Philosophen Rabindranath Tagore, demzufolge das Ramayana "nicht als historische Fakten", sondern "auf der Ebene der Ideen" gelesen werden müsse. Nun aber, beklagte Sen, werde der Text "in eine rechtlich authentische Schrift umfunktioniert, die den Mitgliedern einer [religiösen] Gemeinschaft einen angeblichen Anspruch auf bestimmte Orte und Landstücke sichert", womit es ihnen zustehe, die religiösen Stätten anderer Gemeinschaften niederzureißen.
Der Bezug auf die Zerstörung der Babri-Moschee im nordindischen Ayodhya durch fanatische Hindus im Dezember 1992 ist offenkundig. Die Fanatiker - und führende Mitglieder der Sangh Parivar - rechtfertigten die Tat damit, dass dies der Geburtsort von Rama sei und die Moschee auf den Ruinen eines von den Muslimen zerstörten Rama-Tempels errichtet worden sei. Weder das eine noch das andere lässt sich laut anerkannten Wissenschaftlern nachweisen. In einigen seit Jahren im Umlauf befindlichen Schultexten im Bundesstaat Uttar Pradesh, in dem die BJP im vergangenen Jahrzehnt mehrfach allein oder in Koalition regierte und auch 2002 wieder regiert, werden aber die Zerstörer der Babri-Moschee als große Freiheitskämpfer belobigt.
Der heutige Ramakult ist laut Thapar zentraler Bestandteil der Hindutva-Ideologie und der in ihrem Sinne erfolgenden Neufassung des Hinduismus. Indem die Hindutvawadis das Ramayana quasi zur Bibel erheben und Rama zur zentralen Gottheit hochstilisierten, würden sie die monotheistischen Religionen, die jeweils über einen einzigen heiligen Text und eine Gottheit verfügten, nachahmen und damit das pluralistische Wesen des Hinduismus verleugnen, in dem gerade dessen Stärke liege, betont Thapar. Genau diese Vielfalt aber werde nun gefährdet durch einen Geschichtsstreit, der, wie es die Expertin Nalini Taneja ausdrückt, "zum Kernpunkt für die Konstruktion nicht nur der Vergangenheit der Nation ... geworden ist; er ist ebenso Kernpunkt für den Aufbau der Zukunft der Nation ... und die künftige Projektion eines Hindu Rashtra", eines Reichs der Hindus, mit dem der Anschluss an ein imaginiertes Goldenes Zeitalter der Hindus hergestellt werden solle.
Die im Interesse der Sangh tätigen Autoren folgen in ihrer Periodisierung der indischen Geschichte einer von anderen Forschern längst verworfenen britischen Einteilung aus dem 19. Jahrhundert. Danach kann man die Geschichte in drei Abschnitte einteilen: Die goldene Hindu-ra, die darauffolgende muslimische Epoche, in der islamische Zuwanderer ab dem 12. Jahrhundert teils über weite Regionen des Subkontinents herrschende Reiche errichteten, und die britische Ära. Dabei ist Sarkar sich mit zahlreichen anderen Experten einig, dass der Muslim als Fremder, als Aggressor, als Zerstörer von Tempeln, als der Andere, genau das Bild ist, das propagiert werden solle. Noch sind die Textstellen nicht so schlimm wie in von der RSS geleiteten Schulen (landesweit an die 20.000 mit knapp zwei Millionen Schülern). Passagen aus diesen Texten hat Teesta Setalvad, Gründerin und Leiterin der in Mumbai (früher Bombay) ansässigen Organisation Communalism Combat (Kampf dem Kommunalismus, wie der religiöse Chauvinismus in Indien bezeichnet wird) zusammengetragen. "Die Araber waren Barbaren, die vorrückten, um andere Menschen zu ihrer Religion zu bekehren. ... Gebetshäuser wurden zerstört. Gnade und Gerechtigkeit waren ihnen unbekannt", heißt es da. Oder "Der Islam verbreitete sich in Indien ausschließlich durch das Schwert. ... Zahllose Hindus wurden gewaltsam zum Islam bekehrt."
Die Konstruktion von Hindus und Muslimen als monolithische, einheitliche und permanent in Konflikt miteinander befindliche Blöcke aber widerspreche völlig der Geschichte, betont Thapar. Das Mittelalter respektive die sogenannte muslimische Epoche sei vielmehr eine Zeit, "in der viele heutige Rituale, Praktiken und Mythologien als Bestandteile des Hinduismus formuliert wurden. ... Zu sagen, dass alle Hindu-Praktiken sich von den Veden [den ältesten Texten des Hinduismus] ableiten, ist die künstliche Schaffung einer Uniformität für eine Religion, deren Stärke in ihrer Vielfalt liegt", erklärt Thapar. Andere Experten verweisen auf die wichtige wechselseitige Befruchtung und Synthese von Hinduismus und Islam gerade im Mittelalter.
An Murli Manohar Joshi aber prallt solche Kritik nicht bloß ab. Als "giftiges Elfenbein" bezeichnete der Bundesminister für Menschliche Ressourcen und Entwicklung erst Anfang Oktober 2002 die linken Historiker und bezichtigte sie "antinationaler Aktivitäten" und des Verrats . Die "Marxisten", unterstellte er, würden ein "Indien unter den Mogulen bevorzugen". Die Linken, die Marxisten, die Roten Brigaden, die Pseudosäkularisten - das sind die Begriffe, mit denen Angehörige der Sangh Parivar die etablierten und international anerkannten Geschichtswissenschaftler abtun. Kinder im zarten Alter sollten mit nationalem Stolz erfüllt werden, eine Analyse der Geschichte sollte erst auf einer höheren Schulstufe Platz finden, erklärte der Minister zum Jahresende 2001 und betonte: "Die indische Geschichte sollte durch indische Augen gesehen werden und nicht durch die Brille der Marxisten." Die beschuldigte er damals zugleich eines "intellektuellen Terrorismus, der wie ein langsam wirkendes Gift und damit gefährlicher ist als der grenzübergreifende Terrorismus", womit er den von Pakistan ausgehenden Terrorismus meint. Von Indisierung, Nationalisierung und Spiritualisierung des Bildungswesens sowie von werte-orientierten Lehrplänen sprechen Vertreter der Sangh Parivar; ihre Kritiker sehen in diesem Projekt die Verleugnung des in der Verfassung verankerten Bekenntnis zum Säkularismus und eine weitere Kommunalisierung.
Dass einige der bedeutendsten indischen Historiker in ihrer politischen Überzeugung links der Mitte anzusiedeln sind, steht außer Zweifel. Ebenso unbestritten ist, dass jene, die in der Vergangenheit verwendete Schulbücher verfasst haben, stets zu Revisionen bereit gewesen sind, allerdings unter der Voraussetzung, dass diese in Einklang mit den neuesten Forschungserkenntnissen und in vereinbarungsgemäßer Absprache mit ihnen erfolgen.
Das NCERT, das wie auch einige andere Institutionen seit der Machtübernahme der BJP auf Bundesebene neu besetzt wurde, aber habe sie, so beschuldigen es die Historiker, weder konsultiert noch einbezogen. Die neuen Lehrinhalte seien überhaupt nicht öffentlich debattiert und die Namen der neuen Schulbuchautoren lange geheim gehalten worden. Letzteres wurde von offizieller Seite damit begründet, dass man die Verfasser ungestört habe arbeiten lassen wollen. Ob ein Konsultationsprozess stattgefunden hat oder nicht, ist ein strittiger Punkt. Die Zusendung einiger Unterlagen, die viele der angeblichen Adressaten nach ihren Worten gar nicht erhalten haben, erfülle nicht die Kriterien, beharren die Kritiker. Zwist gibt es auch um die (je nach Version ungenügende, gar nicht erfolgte, hinreichende, oder nicht zwingend erforderliche) Einbeziehung des Central Advisory Board of Education (CABE), einem aus den Bildungsministern aller Bundesstaaten sowie zahlreichen Experten zusammengesetzten Beratungsorgan.
Ein schwerer Schlag für die Kritiker der neuen Schulbücher war das Urteil des Obersten Gerichtshofs, in dem dieser im September 2002 eine Monate zuvor von Bürgern eingebrachte Klage zurückwies und damit grünes Licht für den Einsatz der neuen Werke gab. Schon aber haben sich unter dem Banner der Delhi-Historiker-Gruppe Wissenschaftler, Künstler, Pädagogen und Aktivisten zusammengefunden, um eine neue Kampagne gegen die Lehrbücher zu lancieren. Sie wollen das Gerichtsurteil nicht hinnehmen und sind entschlossen, die Debatte über die Verzerrung der indischen Geschichte und Kultur nicht einschlafen zu lassen. Das für das Bildungswesen zuständige Gremium der Kongresspartei empfahl Mitte Oktober Parteichefin Sonia Gandhi, die Bildungsminister in den vom Kongress regierten vierzehn Bundesstaaten anzuweisen, die neuen Schulbücher abzulehnen. Weitere von linksgerichteten Parteien regierte Bundesstaaten, so die Hoffnung, würden sich diesem Boykott der "Safranisierung des Bildungswesens" anschließen. Der ideologische Kampf um Indiens Geschichte und die Definition dessen, was indisch ist und was die indische Kultur ausmacht, ist noch keineswegs ausgestanden.
aus: der überblick 04/2002, Seite 62
AUTOR(EN):
Brigitte Voykowitsch:
Brigitte Voykowitsch ist freie Journalistin mit dem Themenschwerpunkt Asien und lebt in Wien.