Eine Organisation in Kinshasa wirkt dem Klima der Gewalt entgegen
von Kirsten Wörnle
Auf der Suche nach dem Flughafen gerieten die ruandischen Soldaten in die Falle. Die Einheimischen in Kinshasa-Masina lockten sie in einen Hinterhalt und nahmen ihnen die Waffen ab. Sie töteten sie mit Stöcken und Macheten, mit bloßen Händen oder verbrannten sie bei lebendigem Leib. Damals, im Sommer 1998, hatte Präsident Laurent-Désiré Kabila der Vater des heutigen kongolesischen Präsidenten die Soldaten aus Ruanda aus seiner Armee geworfen. Er hatte mit Hilfe aus Ruanda die Macht in Kinshasa erobert, wollte aber nun den starken Einfluss aus dem Nachbarland abschütteln. Die geschassten ruandischen Militärs liefen durch die ärmsten Viertel im Osten der Hauptstadt und wollten in Richtung Flughafen. Sie sprachen kein Lingala, die Sprache der Einheimischen, und waren leichte Beute für die aufgestachelte Bevölkerung. Für die Morde an den Ruandern spendierte ihnen die Regierung Strom und Wasser, ein Krankenhaus und einen Supermarkt.
Masina ist im Sommer 2007 eines der am dichtesten besiedelten Gebiete Kinshasas im Osten der Millionenstadt. Zusammen mit N'djili und Kimbanseke gilt es als Zone Rouge, als gefährliche "Rote Zone". Von den 8 Millionen Einwohnern Kinshasas, die sich auf 24 Stadtteile verteilen, leben fast 1,5 Millionen in diesen drei Vierteln. Sie sind Schmelztiegel der Ausgeschlossenen, Arbeitslosen und Analphabeten. Einfach gemauerte Einzimmer-Häuschen drängen sich an staubigen Straßen aneinander, zerbeulte Autos schaukeln über die Lehmpisten, aber die meisten Menschen gehen zu Fuß. Frauen tragen Tüten mit Salz und Tabletts mit Broten auf ihren Köpfen, Männer placken sich mit Karren voller Schrott ab. Dann und wann hockt ein psychisch kranker Mensch am Straßenrand und starrt vor sich hin.
"Was hat der Krieg mit uns gemacht?" Grâce Lula Hamba sitzt in ihrem winzigen Büro in Masina, mitten im Gewühl aus Armut und Überlebenskampf. Die Gründerin von LIFDED (Ligue des Femmes pour le Dévéloppement et l'Éducation á la Démocratie), einer nichtstaatlichen Organisation, die von "Brot für die Welt" unterstützt wird, hat ein Dutzend junger Frauen und Männer um sich geschart, um für Frieden und Demokratie zu werben. "Wir müssen das Erbe des Krieges loswerden", sagt Grâce Lula Hamba. "Die Menschen haben die Gewalt verinnerlicht."
Zu Beginn lud LIFDED Frauen an den Fluss ein, trommelte Jugendliche zusammen oder auch die gesamte Bevölkerung. "Wir wollten mit ihnen Bilanz ziehen: Was hat der Krieg uns gebracht?", erzählt Xavérine Kira Mafikele, die Programmbeauftragte bei LIFDED. "Niemand sollte sich damit brüsten, dass er Rebellen getötet hat", erzählt die junge Frau. Gemeinsam habe man analysiert, warum einer tötet und wie Gewalt entsteht. Die Menschen fanden viele Gründe dafür: Machtgier, Hass, Bestechlichkeit; kein Geld, keine Erziehung, keine Liebe.
"Frieden zu konstruieren, heißt gerechte Beziehungen zu konstruieren", erklärt Grâce Lula Hamba. Mehr als 150 "Handwerker des Friedens" hat LIFDED inzwischen ausgebildet, die ohne Polizei und Richter Streitereien und Konflikte lösen wollen. "Vor Gericht oder bei der Polizei gibt es immer einen Gewinner und einen Verlierer", argumentiert die 47-Jährige. "Die Beziehung zwischen den Konfliktparteien bleibt gestört. Wir wollen die Beziehung wieder herstellen."
In Kimbanseke haben sich gut zwanzig Leute unter einem großen Baum versammelt. Es wird getuschelt. Der Pfarrer des Bezirks soll etwas mit einer Mitarbeiterin angefangen haben. Seine Ehefrau ist sauer. Bei einem Gemeindetreffen hat sie die vermeintliche Nebenbuhlerin geschlagen. Jetzt weigert sich diese samt ihrer Freundin, weiter für die Gemeinde zu arbeiten.
"Wir müssen die Wurzel des Problems finden", erklärt Boniface Yamba den Anwesenden. Der Friedenshandwerker hat zuvor schon mit dem Pfarrer, der Ehefrau und der Beschuldigten gesprochen. "Es gibt nur Gerüchte, kein reales Problem", erklärt er den Anwesenden. "Wir wollen jetzt eine Lösung finden, wie wir ohne Gericht und Schmerzensgeld die Sache aus der Welt schaffen."
"Wir nehmen erst einmal die Brisanz aus den Konflikten heraus", erklärt der Mediator später. "Je weiter die Menschen auseinander sind, je mehr übereinander geredet wird, desto größer sind die Spannungen." Also bringe man sie zusammen: "Setzen wir uns an einen Tisch und reden wir frei nicht wie vor Gericht. Dann finden wir Optionen für eine Lösung." Nicht nur vergleichsweise harmlose Eifersuchtsdramen lösen die Friedenshandwerker, sondern auch Erbstreitigkeiten, Nachbarschaftskonflikte oder Unruhen im Zusammenhang mit Wahlen. Im Büro sitzen die Mitarbeitenden von LIFDED an der Vorbereitung der Lokalwahlen 2008. Eine schwierige Sache: Die Kongolesen haben im Sommer 2006 zum ersten Mal halbwegs frei den Präsidenten und das Parlament gewählt, und im November 2008 ist die neue Regierung ein Jahr im Amt. Aber von gelebter Demokratie ist nicht viel zu erkennen.
Mehr als 60 Minister blockieren sich im Kabinett gegenseitig, dazu kommen Dutzende Provinzminister. Es herrschen weiter Vetternwirtschaft und Korruption. Und im Osten des Landes bekämpfen sich verschiedene Milizen sowie die Armee diese Region gleitet wieder in den Kriegszustand ab.
"Die Menschen sind enorm entmutigt", sagt Xavérine Kira Mafikele. Hinzu kommt, dass bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Sommer 2006 einiges schief gelaufen ist. "Kurz nach dem Krieg eine Wahl vorzubereiten, war schwer", erinnert sich Grâce Lula Hamba, die damals offizielle Wahlbeobachterin war.
"Der Kongo hat die Dimensionen eines Kontinents, aber keine funktionierende Infrastruktur", sagt die einstige Lehrerin. Eine Wahl mit einem Volk zu machen, das 40 Jahre Diktatur, Krieg und Kleptokratie erlebt hat, dessen Mehrheit ohne Strom und Telefon lebt und keine intakten Straßen kennt, sei ein enormer Aufwand gewesen. "Allein die erklärenden Texte zur Wahl unters Volk zu bringen, war unmöglich. Viele Menschen haben gewählt, ohne je eine Erklärung bekommen zu haben wegen Geldmangels und Transportschwierigkeiten."
Aus Unverständnis für eine demokratische Wahl entstanden Missmut und Gewalt. "Viele dachten, wenn ein Kandidat T-Shirts verteilt, muss er auch gewählt werden", erzählt Grâce Lula Hamba. War ein Kandidat entsprechend aufgetreten, hatten Konkurrenten keine Chance mehr. In Kinshasa riss eine Truppe "Sauberes Kinshasa" Plakate von Gegnern ab. Am Tag der Wahl ärgerten sich junge Frauen, die schon Mutter, aber noch nicht 18 Jahre alt waren, dass sie als Minderjährige nicht wählen durften. Menschen, die sich in diesem stark religiös geprägten Land mit ihrem Taufschein ausweisen wollten, waren erbost, dass sie ihre Stimme mit diesem Ausweis nicht abgeben durften.
Hinzu kamen technische Pannen: 30 bis 40 Kilometer waren viele Kongolesen gelaufen, um ihre Stimme abzugeben. War dann an der Wahlstation das Stromaggregat ausgefallen, konnten sie keinen digitalen Daumenabdruck abgeben. Die Menschen mussten Stunden, manchmal Tage warten, um zu wählen. Das führte zu Spannungen und Frustration.
"Wenn Leute das Gesetz verstehen, dann sinkt die Spannung", sagt Grâce Lula Hamba. Viel erklärt habe man damals mit Theatertruppen, die vormachten, wie ein Kandidat auftritt, mit Dichtern, die Texte übers Wählen deklamierten. Bestätigt sieht sich die LIFDED-Truppe durch die Ereignisse im Sommer 2007. Als es zur Stichwahl zwischen Präsident Joseph Kabila dem Sohn des 2001 ermordeten Präsidenten Laurent-Désiré Kabila und seinem Herausforderer Jean-Pierre Bemba kommt, richten sich alle Augen auf die östlichen Stadtviertel von Kinshasa. 70 Prozent der Bewohner von Kinshasa wählten Bemba. Doch landesweit liegt Kabila vorn. "Alle waren sicher, dass es hier bei uns kracht", erzählt Grâce Lula Hamba.
Doch es blieb ruhig. "Unsere Anti-Gewalt-Kampagne hat funktioniert", sagt sie. "Die Leute wussten, dass Gewalt nichts bringt", ist sich die Friedensaktivistin sicher. "Sie wussten: Wir brauchen jetzt Frieden." Immer wieder hatten die LIFDED-Mitarbeiter erklärt, was Demokratie heißt: "Ihr müsst die Spielregeln einhalten. Es gibt Gewinner und Verlierer. Die Opposition muss konstruktiv sein. Nach fünf Jahren startet das Spiel neu."
aus: der überblick 04/2007, Seite 98
AUTOR(EN):
Kirsten Wörnle
Kirsten Wörnle ist Journalistin der Reportageagentur Zeitenspiegel und hat LIFDED im August
2007 in Kinshasa besucht.