Es geht um die Weltanschauung
In vielen Ländern sind große Teile der Bevölkerung nach wie vor nicht in der Lage, zu lesen und zu schreiben. So überrascht es auf den ersten Blick, dass groß angelegte staatliche Alphabetisierungskampagnen bei den Zielgruppen nicht immer auf Gegenliebe stoßen: Lokale Gruppen fühlen sich häufig bevormundet und leisten Widerstand, bis hin zu gewalttätigen Angriffen auf staatliche Lehrer. Damit alle Bevölkerungsgruppen erreicht werden, müssen örtliche Bürgerinitiativen an der Alphabetisierungsarbeit beteiligt werden.
von Robert F. Arnove
Jetzt scheint der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, die Alphabetisierungskampagnen zu bewerten. Die neunziger Jahre waren eine Dekade international koordinierter mittel-und langfristiger Strategien und Programme zur Beseitigung des Analphabetentums. Man muss dabei aber weiter zurückschauen als nur auf das letzte Jahrhundert. Denn Alphabetisierungskampagnen sind keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Bedeutende und weitgehend erfolgreiche Alphabetisierungskampagnen hat es seit 400 Jahren gegeben, beginnend mit der protestantischen Reformation.
Alphabetisierungskampagnen waren stets Bestandteil von größeren gesellschaftlichen Umwandlungsprozessen. Dabei wurde versucht, die Einzelpersonen in umfassendere politische und/oder religiöse Gemeinschaften zu integrieren. Die Alphabetisierung und die Verbreitung des gedruckten Wortes waren in Europa seit dem 16. Jahrhundert Gegenstand weltanschaulicher Auseinandersetzungen. Damals wie heute haben Reformer und Idealisten, die die Gesellschaft erschüttert und verändert haben, die Alphabetisierung als Mittel zum Zweck betrachtet: Sei es zur Schaffung einer moralischeren Gesellschaft oder einer stabilen politischen Ordnung. Damals wie heute wurden Alphabetisierungsmaßnahmen immer wieder von bestimmten Gruppierungen instrumentalisiert, die ihre eigenen Ziele befördern wollten. Seit den sechziger Jahren gilt Alphabetisierung auch als Mittel zur Formung eines kritischen Bewusstseins und zur Befreiung des Menschen.
Da Alphabetisierungskampagnen in der Regel in Zeiten der Umwälzungen, inneren Konflikte und revolutionären Umgestaltung initiiert werden, ist es naturgemäß schwierig, die von neuen politischen Regimen häufig angestrebten hohen Bildungsziele zu erreichen und aufrechtzuerhalten. Die Sowjetunion beispielsweise ist das erste Land, in dem die Bekämpfung des Analphabetentums mit einer Art Kriegsmentalität betrieben wurde. Nadezhda K. Krupskaya, Lenins Frau und eine anerkannte Pädagogin, beklagte gleichwohl zehn Jahre nach der Verabschiedung des Alphabetisierungserlasses von 1919, dass nicht ein einziger Artikel umgesetzt worden sei.
Ein Merkmal von Massenkampagnen ist ihr abgesteckter Zeitrahmen, dennoch gibt es im 20. Jahrhundert eine Fülle von Beispielen, in denen sich die Mobilisierungsversuche über ein oder mehrere Jahrzehnte hinzogen: Man denke nur an die Kampagnen in der UdSSR von 1919 bis 1939, in Vietnam von 1945 bis 1977 oder Burma von 1960 bis 1980, aber auch in Brasilien von 1967 bis 1980 und Tansania von 1971 bis 1981. In Kuba hingegen dauerte die Alphabetisierungskampagne nur knapp ein Jahr.
Die nicaraguanische Alphabetisierungskampagne von 1980 währte nur fünf Monate, doch unmittelbar nach dieser Cruzada leitete die Regierung eine weitere Kampagne in den Sprachen der Urvölker für die nicht Spanisch sprechenden Einwohner in der Küstenregion am Atlantik ein. Wie in Kuba wurde ein Programm für die allgemeine Grundschulbildung geschaffen. Seit Anfang der neunziger Jahre hat es in Nicaragua wieder regelmäßig Aufrufe und Mobilisierungen für die Alphabetisierung in einzelnen Regionen oder bei einzelnen Bevölkerungsgruppen gegeben, da sich durch die zuvor erfolgte Gegenrevolution, den wirtschaftlichen Zusammenbruch und den Regierungswechsel das Bildungsangebot für Kinder und Erwachsene wieder erheblich verschlechtert hatte.
Neue politische Regime stellen gerne die Erfolge im Bildungsbereich als ihre eigenen Verdienste heraus und verschleiern damit, dass diese nur im Zusammenspiel mit Bildungsanstrengungen auf lokaler Ebene zustandekommen konnten. Das auffälligste Beispiel für dezentrale Anstrengungen, die zu einer hohen Rate von Lese-und Schreibkundigen führten, ist in den USA im 19. Jahrhundert zu finden. Im Gegensatz zu den deutschen, schwedischen und schottischen Kampagnen des 17. und 18. Jahrhunderts gab es keine zentral verordnete Politik, die das Problem des Analphabetentums mit nationalstaatlicher Autorität anging. Stattdessen förderten mehrere Faktoren die Alphabetisierung gleichzeitig, beispielsweise der Wettbewerb zwischen Religionsgemeinschaften, die rasche Verbreitung der religiösen und säkularen Presse, die Bildungsappelle von säkularen und geistlichen Führungskräften sowie lokale Bürgerinitiativen.
Im 20. Jahrhundert hingegen gab es vor allem zentral organisierte Kampagnen für den "Krieg gegen die Unwissenheit". Diese zentralen Bemühungen hingen jedoch ebenfalls stark von örtlichen Initiativen und Basisorganisationen ab, die die Lehrkräfte anwarben und den Unterricht durchführten. In Kuba wurden im Jahr 1961 rund 271.000 Freiwillige mobilisiert, um 979.000 Analphabeten zu unterrichten, die 12,6 Prozent der Erwachsenenbevölkerung ausmachten. Unter anderem zogen 100.000 Hochschul-und Universitätsstudenten in die Dörfer und brachten der Landbevölkerung Lesen und Schreiben bei. 35.000 Lehrer waren im Einsatz. 25.000 Arbeiter gaben an ihren Arbeitsstätten Unterricht für Kollegen. Und 121.000 Erwachsene unterrichteten freiwillig in ihrer Freizeit. So sank die Analphabetenrate bis Ende 1961 auf 3,9 Prozent.
In Nicaragua gab es 1980 (bei einer Gesamtbevölkerung von damals 2,4 Millionen) rund 717.000 Menschen im Alter von zehn Jahren und darüber, die lesen und schreiben konnten. Von diesen waren über 250.000 bereit, freiwillig Unterricht zu geben, aber nur 90.000 konnten tatsächlich eingesetzt werden und brachten insgesamt 406.056 Nicaraguanern das Lesen und Schreiben bei. Die Kampagne, die im ersten Jahr einer revolutionären Regierung begonnen wurde, hat angeblich die Analphabetenrate in fünf Monaten von 50,35 Prozent auf rund 23 Prozent verringert.
Die Nicaraguanische Alphabetisierungskampagne (Cruzada Nacional de Alfabetizaci n, CNA) glich einer allgemeinen Mobilisierung für einen Krieg. Bildersprache und Wortwahl waren weitgehend dem Militärwortschatz entnommen. Sechs nationale Alphabetisierungsfronten mit über 55.000 brigadistas wurden gegründet. Es waren vor allem Hochschulstudenten, die in ländliche Gebiete zogen, um dort mit den überwiegend analphabetischen Bauern zu arbeiten, sie zu unterrichten und von ihnen zu lernen.
Die Aufstellung, die logistische Unterstützung und der Schutz der "Alphabetisierungsarmee" erforderten die Unterstützung aller Ministerien und Massenorganisationen. Eine aus 25 Ministerien und Organisationen der Zivilgesellschaft zusammengesetzte Nationale Koordinationskommission unter Leitung des Bildungsministeriums wurde deshalb ins Leben gerufen. Beobachter aus dem Ausland stellten fest, dass das Engagement auf kommunaler Ebene dabei am stärksten war. Dort beteiligten sich die meisten Menschen und Organisationen.
Ihren Erfolg verdanken die Massenmobilisierungen häufig Organisationen wie Jugend-, Arbeiter-, Nachbarschafts-, Verteidigungs-oder Frauenverbänden, insbesondere in revolutionären Gesellschaften wie Kuba ab 1959 und Nicaragua zwischen 1979 und 1990. Weil eine nationale Kampagne eine große Anzahl von Menschen mobilisiert und die Massenorganisationen stärkt, ermöglicht sie auch eine breite Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungsprozessen. Andererseits können die dominierenden Gruppen des Staatsapparates solche Massenkampagnen als Instrumente nutzen, eine kulturelle und politische Vorherrschaft auszuüben. Kommt es dann aber zu einer politischen Wende, versuchen die neuen Machthaber, die Programme der Vorgänger rückgängig zu machen.
Als es etwa in Nicaragua im Jahre 1990 nach landesweiten Wahlen zu einem Regierungs-und Politikwechsel kam, schaffte die neue Regierungskoalition aus 14 Parteien (Unión Nacional Opositor, UNO) unter Präsidentin Violeta Barrios de Chamorro viele der populistischen und sozialistisch geprägten Politikprogramme der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (Frente Sandinista Nacional de Liberación, FSLN) ab und führte das Land wieder auf den Weg in die globale kapitalistische Wirtschaft. Die neuen Verantwortlichen im Bildungsministerium lehnten die CNA und die daran anschließenden Grundausbildungsprogramme für Erwachsene ab. Sie betrachteten sie als Versuche der politischen Indoktrinierung mit einer Ideologie, die den traditionellen nicaraguanischen Werten völlig fremd war.
Seit 1990 haben die Programme des Bildungsministeriums deshalb in Einklang mit dem neoliberalen Wirtschaftsprogramm der Regierung die Dezentralisierung gefördert und dabei die Privatisierung des Bildungssystems vorbereitet. Die Alphabetisierung wurde überwiegend zivilgesellschaftlichen Initiativen überlassen, die von internationalen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen aus dem Ausland finanziert wurden. Bis 1994 ist die Zahl der Analphabeten in Nicaragua schätzungsweise auf fast eine Million Jugendliche und Erwachsene gestiegen. Das ist rund die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung über 15 Jahre. In jenem Jahr gab die Regierung weniger als 25.100 Euro aus Steuermitteln für Alphabetisierungs-und Grundausbildungsprogramme für Erwachsene aus. Ab 1998 spielten etliche internationale Hilfsorganisationen, vor allem aus Spanien, eine wichtige Rolle bei dem Versuch, Alphabetisierungs- und anschließende Grundausbildungsprogramme für Erwachsene durchzuführen. Diese Programme enthielten auch einführende Elemente für eine Berufsausbildung, richteten sich aber an höchstens 10 Prozent der möglichen Zielgruppe von über 500.000 Menschen zwischen 16 und 60 Jahren.
Der Fall Nicaragua veranschaulicht ein Problem, das Alphabetisierungskampagnen weltweit betrifft: Die Bemühungen von Staat und Zivilgesellschaft müssen einander ergänzen. Wenn sich wie derzeit die bedeutendsten internationalen Geberorganisationen vor allem auf die ersten vier Jahre der Schulbildung konzentrieren und die Alphabetisierung und Erwachsenenbildung für Personen über 35 Jahre weitgehend aufgeben, kommt es auf die Leistung lokaler Initiativen und auf die Einsatzbereitschaft zentraler Regierungsstellen an. Nur der Staat verfügt über ausreichende Mittel und die Macht, die gesamte Bevölkerung davon zu überzeugen, dass etwas für die am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen getan werden muss. Und Basisorganisationen braucht man, um Bevölkerungsgruppen zu erreichen, die für zentral initiierte Bildungsarbeit nicht empfänglich sind.
Die Geschichte kennt unzählige Beispiele, wie sich Menschen als Einzelne oder gemeinsam den als fremd empfundenen Werten widersetzt haben. So verweigerten sich etwa im 16. Jahrhundert in Deutschland die Bauern den Alphabetisierungsversuchen. In Russland gab es vor und nach der Revolution von 1917 zahlreiche Fälle, wo Bauern ihre eigenen Schulen einrichteten und Lesestoff benutzten, der nicht mit den Plänen der staatlichen Behörden in Einklang stand. Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre griffen sie sogar die vom Staat eingesetzten Lehrer an. In Mexiko wurden Alphabetisierer und andere Angehörige der Misiones Culturales, die von der Regierung ab 1923 aufs Land geschickt wurden, häufig von konservativen Gruppen angegriffen, die sich den vermittelten säkularen und revolutionären Botschaften der Lehrern widersetzten. Auch in Kuba und Nicaragua waren Alphabetisierer und Alphabetisierungszentren die Hauptangriffsziele der konterrevolutionäre Kräfte, die diese als Symbole der neuen Sozialordnung betrachteten. In Nicaragua wurden in den achtziger Jahren über 300 "Volkserzieher" getötet, verwundet oder entführt.
Darüber hinaus gab es in Nicaragua erheblichen Widerstand der an der Atlantikküste lebenden Ureinwohner gegen die nationale Alphabetisierungskampagne in spanischer Sprache, die sie als eine Form kultureller Vorherrschaft ablehnten. Aufgrund starken Drucks aus dieser Region und in Anerkennung ihrer einzigartigen kulturellen Merkmale führte die FSLN eine weitere Alphabetisierungskampagne in den Sprachen Miskitu, Sumu und Englisch durch. Interessanterweise hat das von Spanien finanzierte Erwachsenenalphabetisierungs- und Bildungsprogramm Programa de Alfabetización y Educación Bâsica de Adultos de Nicaragua (PAEBANIC) für die Zeit 1998 bis 2003 die Atlantikküste und die unterentwickelte Region Río San Juan in ihrer Planung ausgespart.
Abgesehen von tätlichen Angriffen auf Alphabetisierer und der Forderung nach Kampagnen in den Sprachen der Urbevölkerung leisten Einzelne und Gemeinden Widerstand gegen nationale Alphabetisierungsbemühungen, indem sie sich weigern, das zentral zur Verfügung gestellte Material zu benutzen. In Nicaragua setzten Alphabetisierer und Studenten in manchen Gemeinden die Bibel statt die nationale Alphabetisierungsfibel als ihren Haupttext ein. Noch häufiger kam es vor, dass die Hauptthemen in der Fibel von den verschiedenen Gemeinden und Lesern unterschiedlich ausgelegt wurden.
Neben dem Widerstand der Menschen gegen das, was sie entfremdet, gibt es noch andere scheinbar unlösbare Probleme. In den letzten 400 Jahren waren regelmäßig und überall ländliche Bevölkerungen, die Arbeiterklasse, ethnische und rassische Minderheiten, Immigranten und Frauen die letzten, die alphabetisiert wurden und Zugang zu höherer Schulbildung erhielten. Es gibt natürlich Ausnahmen (darunter Kuba heute). Doch bei der geschichtlichen Analyse von Fällen, die so verschiedenartig sind wie das vorindustrielle Deutschland, die Sowjetunion, Tansania und Nicaragua, gibt es ein wiederkehrendes Muster. Ungeachtet von Zeitpunkt und Dauer einer Kampagne oder dem Entwicklungsstand des Landes bleiben mindestens 10 bis 20 Prozent der Erwachsenen Analphabeten. Diese Erkenntnis stellt Vorstellungen in Frage, nach denen es möglich sein soll, in fortgeschrittenen Industrieländern eine Alphabetisierungsrate von über 95 Prozent zu erreichen.
Dass Erwachsene widerspenstig sind und nicht so lernen wollen, wie staatliche Behörden es vorschreiben, oder nicht zu anderen Überzeugungen bekehrt werden wollen, ist eine allgemeine Erfahrung. Ein wichtiges Vermächtnis der Kampagnen zur Zeit der deutschen Reformation ist Luthers Haltung; dieser wandte sich zunächst an alle Mitglieder des Gemeinwesens, konzentrierte sich später jedoch auf die Unterweisung junger Menschen. Das Dilemma, vor dem Luther stand, nämlich ob er sich bei seinen Alphabetisierungsbemühungen auf die Jugendlichen (die vielleicht weniger unwillig und stärker formbar sind) oder auf Erwachsene konzentrieren sollte, blieb eine strategische Frage in fast allen nachfolgenden Massenkampagnen.
In Kampagnen des 20. Jahrhunderts kam es trotz zunächst umfassender Bemühungen, die auf große Bevölkerungsgruppen abzielten, schließlich zu einer Verengung. Man konzentrierte sich nun auf die schulische Ausbildung der jungen Menschen. Insbesondere nach der raschen Ausweitung des Grundschulbesuchs nach dem zweiten Weltkrieg ging die Zahl der Analphabeten unter Jugendlichen spürbar zurück. In Lateinamerika waren die Analphabetenraten in der Altersgruppe der 15-bis 19-Jährigen um über die Hälfte niedriger als in der Altersgruppe der ab 50-Jährigen.
Es überrascht nicht, dass Alphabetisierung und Sozialisierung mit der Zeit zusammenfielen und in staatlichen Schulsystemen institutionalisiert wurden. Seit den frühesten Kampagnen wurde mit der Alphabetisierung die Verbreitung eines bestimmten Glaubens oder einer Weltanschauung bezweckt, was durch die Lektüre von vorgeschriebenen Texten und unter Aufsicht von Lehrkräften erfolgte, die bestimmten moralischen Auffassungen anhingen und eine Vorbildfunktion einnahmen. In der geschichtlichen Entwicklung hat die religiöse Orientierung der Schulsysteme einem stärker säkularen Glauben an den Nationalstaat und/oder der Verbreitung einer Weltanschauung wie der kapitalistischen oder kommunistischen Platz gemacht. Der Vorteil von bürokratischen Bildungssystemen ist, dass die Abläufe standardisiert, Entschlüsse zentral getroffen und Lehrpläne vereinheitlicht werden können. Der Nachteil ist, dass solche Systeme auch zu Entfremdung und akademischen Fehlschlägen führen können, da sie das Analphabetentum von Personen fördern, die in solche Strukturen nicht hineinpassen.
Daten aus Lateinamerika zeigen die Schwierigkeiten, vor denen Bildungsreformen stehen, wenn sie versuchen, die schrittweise Beseitigung des Analphabetentums vor allem durch die Grundausbildung für junge Menschen zu erreichen. In Lateinamerika werden in den ersten Schuljahren, in denen die Kinder lesen lernen, 25 bis 30 Prozent von ihnen nicht in die nächste Klasse versetzt. So ist für sehr viele junge Menschen die erste Erfahrung mit der schulischen Ausbildung die des Scheiterns. In etlichen Ländern schließen die meisten Kinder, die armen, ländlichen Familien oder ethnischen Minderheiten angehören, die ersten fünf oder sechs Grundschuljahre nicht ab. Da die Mittel für die Bildungsarbeit immer knapper werden, und die Eltern sich zunehmend an den Kosten für die Schulbildung ihrer Kinder beteiligen müssen, gehen viele Kinder entweder gar nicht erst zur Schule, oder sie verlassen diese vorzeitig, um zu arbeiten.
Für Nicaragua wird geschätzt, dass bei heute etwa 5 Millionen Einwohnern, von denen die meisten in Armut leben, über eine Million Kinder im schulpflichtigen Alter entweder keine Schule besucht oder die Grundschulausbildung nicht abgeschlossen haben. Zwar lernt in den Entwicklungsländern eine wachsende Anzahl von Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch den Schulbesuch lesen und schreiben, ein Teil verlässt die Schule jedoch, ohne richtig oder ohne überhaupt lesen und schreiben zu können.
Diese Entwicklungen legen nahe, dass politische Entscheidungsträger weiterhin Alphabetisierungsprogramme auflegen müssen, um auch die Bevölkerungskreise zu erreichen, die nie in die Schule gegangen sind oder nur eine schlechte schulische Ausbildung erhalten haben. Es zeigte sich auch, dass Alphabetisierungsbemühungen langfristig angelegt sein müssen, damit sie wirken.
In den vergangenen drei Jahrzehnten schlossen internationale Bildungsreformprogramme und Visionen, wie Bildungssysteme aussehen sollten, Konzepte der Alphabetisierung ein. Die Idee lebenslangen Lernens und der Anspruch, eine Vielfalt von Talenten entwickeln zu können, verändern den Stellenwert von Alphabetisierung. Es ist klar, dass mit der technologischen Entwicklung auch die Anforderungen an die Lese-und Schreibfähigkeit immer weiter zunehmen werden. Um Texte und Inhalte audio-visueller Medien richtig verstehen und einordnen zu können, wird immer mehr Wissen über den nationalen oder internationalen Hintergrund, aus dem diese stammen, benötigt.
Das gilt auch für die Bildungsprogramme in weniger entwickelten Länder wie Kuba und Nicaragua. In Kuba folgte auf die nationale Alphabetisierungskampagne ein Programm für Erwachsenenbildung. Nacheinander war das der "Kampf um die 6. Klasse" und der "Kampf um die 9. Klasse". Auch die Grundausbildung für Erwachsene wurde verändert und zunehmend auf Fachwissen ausgerichtet, damit die Menschen sich besser den neuen Anforderungen anpassen konnten, die die Mechanisierung der Landwirtschaft und die Veränderungen der Arbeitsbedingungen in den Fabriken mit sich brachten. Doch auch die Bildungsinhalte änderten sich und spiegelten zunehmend internationale Entwicklungen und interne Umgestaltungen in der kubanischen Gesellschaft wider, was auch mit der Notwendigkeit einer stärkeren Integration in die globale Wirtschaft zu tun hatte.
In Nicaragua entwickelte die sandinistische Regierung Texte für die Grundausbildung nach der Alphabetisierung. Sie sollten die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, die man zum Organisieren von Genossenschaften braucht, oder um seine Mitspracherechte am Arbeitsplatz und im Gemeinwesen besser wahrnehmen zu können.
Im November 2002 sprach der nicaraguanische Bildungsminister von der Notwendigkeit, neue Ansätze der Alphabetisierung und Erwachsenenbildung zu entwickeln, die die Situation äußerster Armut, in der sich die zu Alphabetisierenden befinden, stärker berücksichtigen. Die Ansätze sollten darauf ausgerichtet sein, das Ausbildungsniveau einer vierjährigen Grundausbildung sowie berufliche Fertigkeiten für eine Gesellschaft zu vermitteln, in denen der Großteil der Menschen selbstständig und in der Schattenwirtschaft erwerbstätig ist.
Es gibt geteilte Meinungen darüber, worauf Bildung denn abzielen sollte. Die veränderte (wirtschaftliche) Situation eines Landes, kann den Kanon der zu vermittelnden Fähigkeiten verschieben. So wird es sowohl in Industrieländern als auch in Entwicklungsländern immer wieder neue Forderungen geben, was - und auf welchem Niveau - zusammen mit der Lese-und Schreibfähigkeiten zu vermitteln sei. Beispielsweise benötigen Arbeitnehmer in Ländern wie den Vereinigten Staaten nicht mehr das gleiche Wissen wie früher. Wenn die am schnellsten wachsenden Bereiche der Volkswirtschaft aber nicht die der Roboter-Technologie und der Informatik sind, sondern der Dienstleistungssektor und dort insbesondere Fast-Food-Restaurants und Sicherheitsdienste, dann dürfte es nicht genügend wirtschaftliche Anreize für die Menschen geben, Kommunikations-und Computerkenntnisse auf höherem Niveau zu erwerben. Eine radikale Kritik der lateinamerikanischen Länder würde ähnlich lauten: Ihre Volkswirtschaften mit ihren Abhängigkeiten und Verzerrungen sind wohl kaum geeignet, langfristig Wachstum herbeizuführen und qualitativ hochwertige Arbeitsplätze oder genügend Wirtschaftskraft zu schaffen, die es nötig machen, das Bildungssystem ständig auszuweiten und die Qualität der schulischen Ausbildung zu verbessern.
Auf einer Konferenz in Managua, Nicaragua, im November 2002 ließ der Bildungsminister des Landes in einem Vortrag über die begrenzten Möglichkeiten, die im modernen Sektor der Volkswirtschaft für Absolventen von Alphabetisierungs-und Grundausbildungsprogrammen für Erwachsene bestehen, die ironische Bemerkung fallen, dass selbst die Fähigkeit, eine andere Machete zur Zuckerrohrernte zu benutzen, als Form der Alphabetisierung betrachtet werden könnte, die die wirtschaftlichen Erträge verbessert.
Wie der Bildungswissenschaftler John C. Cairns einst bemerkt hat, ist Alphabetisierung im Wesentlichen ein politisches Anliegen, bei dem es um folgende Fragen geht: Welche Art von Gesellschaft wollen wir haben? Sind wir ernsthaft daran interessiert, die Fähigkeiten und die Ausbildung der schlecht Ausgebildeten zu verbessern? Werden wir dem Vorrang geben und dafür Mittel und Fachwissen in einer Zeit knapper Staatsfinanzen bereitstellen? Das führe letztlich zu der Frage, welche Werte wir Menschen vermitteln wollen und wie wir dazu beitragen, dass sich ihre Fähigkeiten voll entfalten können.
Um es mit eigenen Worten zu sagen, wollen wir allen Menschen ermöglichen, ein Leben in Menschenwürde zu führen?
Literatur
Robert F. Arnove and Harvey J. Graff (Hrsg.): National Literacy Campaigns: Historical and Comparative Perspectives. New York 1987
H.S. Bhola: Campaigning for Literacy: A Critical Analysis of Some Selected Literacy Campaigns of the 20th-century, with Memorandum to Decision Makers. Paris 1982
Charles L. Stansifer: The Nicaraguan National Literacy Crusade. American University Field Staff Reports, South America, No. 41. 1981
Gerald Strauss: Luthers House of Learning: Indoctrination of the Young in the German Reformation. Baltimore 1978
AnalphabetenWer, wie viele, wo?In den letzten drei Jahrzehnten hat die Zahl der Erwachsenen, die lesen und schreiben gelernt haben, zwar erheblich zugenommen, doch gleichzeitig hat sich auch die absolute Zahl der erwachsenen Analphabeten im Alter von 15 Jahren und darüber erhöht: Während die Quote der Analphabeten unter den Erwachsenen zwischen 1970 und 2000 von 37 auf 20 Prozent sank, stieg deren Zahl von 847 auf 862 Millionen. Die meisten der erwachsenen Analphabeten leben in der Volksrepublik China und Indien. Regional haben Süd-und Westasien mit 45 Prozent die höchste Analphabetenrate, es folgt Afrika südlich der Sahara mit 40 Prozent. Deutliche Unterschiede bestehen zwischen reichen und armen Ländern sowie zwischen Männern und Frauen. Die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation (UNESCO) und viele Lehrkräfte in der Erwachsenenausbildung haben darauf hingewiesen, dass die Weltkarte des Analphabetentums gleichzeitig auch die Karte der Armut ist - und man könnte hinzufügen, der Machtlosigkeit. Daneben zeigen die Analphabetenquoten die Diskriminierung von Frauen, vor allem der armen Frauen. Sie haben geringe Chancen, an Alphabetisierungskursen teilzunehmen und weisen folglich auch die höchsten Analphabetenquoten auf. Die UNESCO schätzt, dass im Jahre 2000 rund 549 Millionen der 862 Millionen Analphabeten im Alter von über 15 Jahren Frauen waren. Trotz solcher generell zutreffenden Aussagen gibt es regionale Unterschiede: Lateinamerika und die Karibik haben die niedrigsten Analphabetenrate von den Entwicklungsregionen der Welt. Sie ist von 26 Prozent im Jahre 1979 auf 11 Prozent im Jahre 2000 zurückgegangen (in Mexiko sogar auf nur noch 10 Prozent). In dieser Zeit hat es auch einen Rückgang der absoluten Zahlen von erwachsenen Analphabeten gegeben, und zwar von 43 auf 39 Millionen. Im Vergleich zu anderen Entwicklungsregionen sind auch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Lateinamerika nicht so ausgeprägt. Im Jahre 2000 betrug die Analphabetenrate von Männern 10 Prozent gegenüber 12 Prozent bei Frauen. Allerdings bestehen zwischen und innerhalb von Ländern erhebliche Unterschiede. Die Auswirkungen von sozialer Klasse, Region und Geschlecht zusammengenommen führen zum Beispiel dazu, dass die Analphabetenrate bei armen Frauen in ländlichen Gebieten am höchsten liegt. Berücksichtigt man die ethnische Zugehörigkeit, sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern noch größer. Weltweit ist die Analphabetenrate bei ethnischen Minderheiten und Landbevölkerungen unverhältnismäßig hoch. Laut einem Bericht aus dem Jahre 1990 an die Interagency Commission for the World Conference on Education for All leben über 800 Millionen Analphabeten in Gebieten, in denen es zahlreiche Sprachen und komplexe Sprachformen gibt . Robert. P. Arnove |
AlphabetisierungB wie BrasilienDie Aufbruchsstimmung in Brasilien hat auch die Pädagogen erfasst, die sich seit langem in der Erwachsenenbildung engagieren. Esther Grossi, Bundesabgeordnete für Porto Alegre, erarbeitet im Auftrag des neu gewählten Präsidenten Lula ein Konzept, nach dem in den kommenden vier Jahren 20 Millionen Brasilianer alphabetisiert werden sollen. Den Kern des Plans "Analfabetismo Zero", den sie im Februar bei der Unesco in Paris vorstellt, bilden Drei-Monats-Kurse, in denen jeweils ein Lehrer 20 Erwachsenen das Lesen und Schreiben beibringt. Die bevorzugte Methode des "Post-Piaget-Konstruktivismus" setzt beim Alltagsleben der Schüler an. Sie wurde in den letzten Jahren von der nichtstaatlichen Organisation Geempa entwickelt und erfolgreich in der Praxis erprobt. Pro Kurs können die Lehrer des öffentlichen Schulwesens ihr Gehalt um 600 Euro aufbessern. Die Kosten für die Bezahlung der Pädagogen, ihre Fortbildung, einen Transport-, Essens-und Materialzuschuss sowie ein einmaliges Stipendium beziffert Grossi auf etwa 100 Euro pro Schüler, also insgesamt zwei Milliarden Euro. Gerhard Dilger Der Autor berichtet als freier Journalist aus Porto Alegre für "die tageszeitung" , den "Evangelischen Pressedienst" und andere deutschsprachige Medien. |
aus: der überblick 04/2002, Seite 47
AUTOR(EN):
Robert F. Arnove:
Robert F. Arnove ist Rektor und Pädagogikprofessor Emeritus an der Indiana University.