Kein Konsens über humanitäre Interventionen im Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen
Können Christen militärische Interventionen, die dem Schutz von bedrohten Zivilisten dienen, unter bestimmten Umständen billigen? Mit dieser Frage hat der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) im Januar gerungen. Der Streit setzte eine lange Debatte über das Verhältnis der Christen zum Krieg fort. Sie wird so bald nicht zum Abschluss kommen, denn Kriege stellen die Kirchen vor Dilemmata, die ethisch nicht eindeutig entschieden werden können. Umso wichtiger ist, dass sie ihre Differenzen darüber konstruktiv austragen.
von Dwain Epps
Bei der Eröffnung der Tagung des ÖRK-Zentralausschusses in Potsdam waren die Meinungen sehr geteilt, ob es richtig war, dem Ausschuss den Entwurf eines Memorandums und einer Empfehlung über "Die Anwendung von Waffengewalt zur Unterstützung humanitärer Ziele: ein ökumenischer ethischer Ansatz" vorzulegen. Schließlich wurde genau zu diesem Zeitpunkt die Dekade zur Überwindung von Gewalt offiziell eröffnet, die von der Vollversammlung des ÖRK in Harare beschlossen worden war. Viele Mitglieder des Zentralausschusses hielten es für völlig unangemessen, auf der gleichen Tagung ein Papier zu erörtern, das vorschlug, Kriterien zu verabschieden, nach denen die Anwendung von Waffengewalt - allerdings unter streng umrissenen Bedingungen - akzeptiert wird. Der Zweck der Dekade sei ja, Christen weltweit dazu zu bewegen, dass sie jede Form von Gewalt ablehnen und Konflikte gewaltfrei zu überwinden lernen. Dies sei weder die Zeit noch der Ort für eine weitere Debatte zwischen denen in den Kirchen, die an den theologischen Grundsätzen eines "gerechten Krieges" festhalten, und denen, die Gewalt und den Einsatz von Waffen unter allen Umständen ablehnen.
Andere Mitglieder des Zentralausschusses hielten das jedoch für ein dringendes Thema, das nicht verschoben werden könne. Denn die Großmächte rechtfertigten ständig die Einmischung in die Angelegenheiten anderer Nationen und Völker mit dem Argument, ihre militärischen Eingriffe dienten "humanitären Gründen". Damit verletzten sie das Völkerrecht und die UN-Charta und riskierten, dass die internationale Rechtsordnung noch weiter ausgehöhlt wird und stattdessen das Gesetz des Dschungels herrscht, wo die Mächtigen die Oberhand behalten. Vielleicht noch schlimmer sei, dass bei der internationalen Reaktion auf humanitäre Krisen doppelte Standards gälten und Millionen nicht den dringend benötigten Schutz erhielten. Vor allem in Afrika sind viele Zivilisten heute Opfer von Bürgerkriegen. Tausende werden getötet oder verkrüppelt, während die internationale Staatengemeinschaft zuschaut und entweder nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, die Menschen zu schützen.
Diese Fragen sind schon auf der Vollversammlung des ÖRK in Canberra im Jahre 1991 und seither auf jeder Tagung des Zentralausschusses debattiert worden - häufig sehr hitzig. Der Zentralausschuss beschloss 1999, hierzu eine Studie in Auftrag zu geben. Dies geschah vor dem Hintergrund einer fast einstimmigen Verurteilung der NATO-Intervention im Kosovo aus der Ökumene und eines Gefühls von Scham und Hilflosigkeit angesichts der Tragödie von Sierra Leone. Der Zentralausschuss stellte den Beschluss "in den Kontext" der Dekade zur Überwindung der Gewalt, bedachte jedoch nicht sorgfältig genug den Zeitpunkt der Vorlage der in Auftrag gegebenen Studie.
Das Führungspersonal und die Amtsträger des ÖRK und auch der Exekutivausschuss waren sich durchaus bewusst, dass sie widersprüchliche Signale aussenden könnten. Am Ende kamen sie jedoch zu dem Schluss, dass es nicht nur angemessen, sondern vielleicht sogar notwendig war, ein Papier vorzulegen, von dem alle wussten, dass es umstritten sein würde. Der Vorsitzende des Zentralausschusses, seine Heiligkeit Catholicos Aram, legte die Dilemmata in seinem Bericht auf dramatische Weise dar und forderte den Ausschuss auf, ethische Richtlinien für die Überwindung von Gewalt auszuarbeiten, die sowohl "dem Evangelium treu" als auch "realistisch und praktikabel" seien. Mit Vorbehalten stimmte der Zentralausschuss einer Debatte zu.
Die ersten Reaktionen im Ausschuss auf den Bericht des Vorsitzenden machten deutlich, dass die Ansichten über die mit dem Thema verbundenen Grundsätze weiterhin sehr geteilt sind. Als erstes gab es pazifistische Stimmen - vor allem, aber nicht nur aus den historischen Friedenskirchen. Ausschussmitglieder aus dem Süden hielten sich in den ersten Diskussionsrunden zurück. Auf einem Pressegespräch mit drei Ausschussmitgliedern aus Ländern, die von Gewalt erschüttert werden - unter anderem aus Ruanda -, waren deren Auffassungen jedoch eindeutig. Als ein Journalist fragte, ob es nicht ein Widerspruch sei, diesen Text zu einem Zeitpunkt zu erörtern, da die Dekade eröffnet werden sollte, kam die Antwort rasch und eindeutig: Nein! Die Dekade zur Überwindung von Gewalt werde eröffnet, weil die Gewalt in den Heimatländern der Kirchenführer zunimmt. Die Dekade sei kein Spaziergang auf den Champs Elysées, sondern eine Pilgerschaft im Tal des Todesschattens. "Wenn wir nicht in allen Situationen neben den Opfern der Gewalt einhergehen können, wird nichts, was wir sagen, für die Welt glaubwürdig sein", fasste ich die Ansicht der drei Ausschussmitglieder aus dem Süden zusammen.
Die Debatte ist natürlich nicht neu. Christen, die Waffengewalt als letztes Mittel und im engen Rahmen der Grundsätze des gerechten Krieges akzeptieren, und Christen, die glauben, als Christ müsse man jegliche Gewaltanwendung ablehnen, haben schon seit Beginn der modernen ökumenischen Bewegung gegensätzliche Positionen bezogen. Die Argumente haben sich kaum geändert, seit sie die Weltkirchenkonferenz von Oxford über Kirche, Volk und Staat im Jahre 1937 in ihrem Bericht dargelegt hat.
Doch kaum eine Diskussionsgrundlage ist in den letzten Jahren so sorgfältig vorbereitet worden wie die in Potsdam erörterte Studie. Zunächst führte die Kommission der Kirchen für Internationale Angelegenheiten (CCIA) eine erste Diskussion über das Thema und feilte einen in der ÖRK-Zentrale erstellten Entwurf aus. Eine geänderte fassung ging den Kirchen zur Reaktion zu und wurde auch Sachverständigen vorgelegt. Im Frühjahr 2000 fand dann am Ökumenischen Institut in Bossey eine umfassende Konsultation statt; daran nahmen Theologen, Experten des Völkerrechts und der Konfliktlösung sowie andere Experten teil. Der Entwurf wurde noch erheblich umgearbeitet und Elemente für eine neue Erklärung vorgeschlagen. Anhänger beider christlicher Auffassungen zur Anwendung von Waffengewalt nahmen an dieser Debatte teil.
Interessanterweise zählten auf dieser Konsultation Vertreter der historischen Friedenskirchen zu denen, die am nachdrücklichsten für einen "realistischen" Ansatz eintraten mit dem Argument, man müsse davon ausgehen, dass Waffen nun einmal eingesetzt würden. Könnten wir nicht etwas dazu beitragen, dass ihr Einsatz begrenzt und eine angemessene Antwort auf die Nöte von Menschen gefunden werde, die von Massenmord bedroht seien?
Der überarbeitete Entwurf wurde dann mit Diplomaten und Führungskräften der Vereinten Nationen (UN) in Genf und New York beraten. Sie traten einstimmig dafür ein, dass der ÖRK die Sache verfolgte, da sich die Erörterung der "humanitären Intervention" in internationalen diplomatischen Kreisen in einer Sackgasse befinde. Dringend benötigt würden moralische, ethische und theologische Erwägungen, die in der internationalen Diskussion eindeutig fehlten, meinten sie.
Im Zentralausschuss lautete die Frage deshalb: Können wir auf unsere eigenen Meinungsunterschiede die Methoden anwenden, die wir mit dem Programm zur Überwindung von Gewalt und insbesondere mit der internationalen Kampagne "Frieden für die Städte" fördern? Können wir einen Weg finden, den Konflikt unter uns zu transformieren, und Kompromisslösungen finden, die die verschiedenen Sichtweisen und Erfahrungen ohne Verzicht auf die Substanz zum Ausdruck bringen?
Der vom Zentralausschuss eingesetzte Ausschuss für öffentliche Angelegenheiten hat eben das versucht. Nach stundenlangen Debatten wurde der Entwurf nachts gründlich umgearbeitet, und am folgenden Tag wurde beschlossen, einen einvernehmlichen und geänderten Text mit einem neuen Titel vorzulegen. Dabei wurde die Stoßrichtung umgekehrt. Statt sich auf die Anwendung von Waffengewalt zu konzentrieren, zielt er nun auf den Schutz der Zivilbevölkerung, die von Waffengewalt bedroht wird. Und statt einer Erklärung, die entschieden die Politik des ÖRK in dieser Sache darlegt, ist es nun eine Studie, die den Kirchen "zur weiteren Prüfung, Reflexion und Verwendung - nach eigenem Gutdünken - in ihrem fortgesetzten Dialog mit Entscheidungsträgern, Regierungen, internationalen Organisationen, Forschungseinrichtungen, Bürgerbewegungen für gewaltlose Interventionen, Friedensinitiativen sowie der Zivilgesellschaft insgesamt" empfohlen wird.
Der überarbeitete Entwurf stellte einige derer, die entschieden an der pazifistischen Position festhielten, immer noch nicht zufrieden. Einige weitere Änderungen wurden eingebracht und akzeptiert. Dennoch wurde vorgeschlagen, nur den Teil zu verschicken, der sich mit dem Hintergrund befasst, und den Teil "Zur Diskussion gestellte Erwägungen und Kriterien für den Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt" an verschiedene Ausschüsse des ÖRK zur weiteren Bearbeitung zu verweisen. Die Mehrheit meinte hingegen, damit weiche man lediglich den moralisch ambivalenten Situationen aus, vor denen die Kirchen und die ganze Welt zu diesem Zeitpunkt der Geschichte stünden. Die Kirchen müssten sich mit den unangenehmen Fragen befassen und in ihrem Zeugnis und theologischen Denken eine Haltung dazu finden. Der Antrag zur weiteren Verweisung wurde schließlich abgelehnt und die gesamte Erklärung angenommen. Von den 150 abstimmenden Mitgliedern des Zentralausschusses kamen nur zwei Gegenstimmen und drei Enthaltungen.
Das Ergebnis wurde mit Erleichterung aufgenommen, aber nicht mit Begeisterung. Es war nicht der Augenblick, den Sieg einer Position über eine andere zu feiern. Beide Seiten sind Kompromisse eingegangen. Nach der Abstimmung waren sich beide einig, dass der Dialog in einem konstruktiven Geist stattgefunden hatte, dass sie daraus gelernt hätten und dass sie die ehrlichen Bemühungen aller würdigten, eine Lösung zu finden, die von der großen Mehrheit getragen werden könnte.
Die Debatte ist natürlich noch nicht beendet. Sie wird noch jahrzehntelang weitergehen. Hoffen könnte man auf das Ergebnis, das der Zentralausschuss 1994 in Johannesburg anstrebte, als er das Programm zur Überwindung von Gewalt beschloss: Können alle, denen der Frieden ein Herzensanliegen ist und die für gewaltfreie Konfliktlösungen eintreten, praktisch zusammenarbeiten, um Gewalt in der Gesellschaft zu überwinden, ohne dass sie durch theologische Differenzen daran gehindert werden? Kann ein solches gemeinsames Handeln in der ökumenischen Kirchengemeinschaft ein Klima schaffen, in dem diese Differenzen konstruktiv erörtert werden können, während wir das Ziel der christlichen Einheit verfolgen? Die Erfahrung zeigt - selbst in den schwierigen Debatten in Potsdam -, dass wir in diesem Sinne Fortschritte machen können.
Die moralisch ambivalenten Situationen werden sicherlich noch eine Zeit lang weiterbestehen. Unser Zeugnis als Christen und als Kirchen wird nur dann an Glaubwürdigkeit zunehmen, wenn wir zeigen können, dass wir in unserer "Pilgerschaft im Tal des Todesschattens" zusammenzubleiben vermögen. Dazu ist jedoch eine echte Umkehr von Denken und Geist nötig. Wir sind das Produkt einer jahrzehntelangen Denkweise in Kategorien des Kalten Krieges, bei der Fragen nur in absoluten Begriffen gestellt werden konnten: gut und böse, recht und unrecht, Sieger und Besiegte. Heute sind die Gegebenheiten anders. Gut steht häufig gegen gut. Das Gute kann böse werden, wenn es sich als etwas Absolutes sieht.
Wir müssen neue und komplexere Denkweisen lernen. Das bedeutet nicht, dass wir Grundsätze aufgeben, dass wir uns von den klaren Geboten des Evangeliums lösen. Doch es bedeutet, dass wir unsere Analyse der Gegebenheiten verfeinern müssen und auch die Anleitung, die wir Christen einer Gesellschaft vor schwierigen Entscheidungen geben.
Wir haben einige gute Lehrer. Dietrich Bonhoeffer ist sicher einer von ihnen. Sein Name und Zeugnis wurden in Potsdam häufig von denen genannt, die alle Formen der Gewalt ablehnen, und das mit Recht. Bonhoeffer hat jedoch keine absoluten Positionen vertreten. Vor allem in seinem Werk "Ethik" hat er erörtert, dass in bestimmten Situationen, wenn man Gemeinschaft in der Nachfolge Christi nicht aufgeben will, entschieden werden muss, ohne dass dabei Gut und Böse eindeutig voneinander zu trennen sind. Zu einer solchen Entscheidung gehört das Wagnis, Schuld zu übernehmen. Potsdam hat gezeigt, dass wir immer noch lernen können!
aus: der überblick 03/2001, Seite 95
AUTOR(EN):
Dwain Epps :
Dwain C. Epps ist Koordinator für Internationale Beziehungen beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf und Pastor der Presbyterianischen Kirche in den USA.