Wie können Kubas Kirchen im derzeitigen Klima der vorsichtigen Öffnung arbeiten? Sie dürfen sich nicht auf Gottesdienste beschränken, sagt Reinerio Arce Valentin. Im März 2000 wurde der Theologieprofessor zum Vorsitzenden des kubanischen Kirchenrats gewählt.
Interview mit Reinerio Arce Valentin
Die Fragen an Reinerio Arce Valentin stellte SILKE ARNING
Was würden Sie als die wichtigste Mission der Kirche auf Kuba bezeichnen?
Die wichtigste Mission besteht darin, das Evangelium zu verbreiten. Das muss allerdings konkret sein, das heißt die Kirche muss auch dem Volke in seinen Nöten helfen. Wir arbeiten deshalb in verschiedenen Projekten, etwa im ökologischen Bereich oder im Erziehungs- und Gesundheitswesen. Die Lage auf Kuba ist momentan sehr schwierig. Das hat politische Gründe, denkt man an die Beziehung zwischen Kuba und den USA und an die Blockade von nordamerikanischer Seite. Kuba ist außerdem ein Staat der Dritten Welt. Das Land leidet an den ungerechten Beziehungen zwischen den Ländern im Norden und Süden. Das kubanische Volk braucht Hilfe. Das ist unser Ansatz.
Wie ist die kirchliche Arbeit unter den gegebenen sozialistischen Verhältnissen auf Kuba möglich? Gibt es Einschränkungen?
Ich glaube, die meisten Menschen sind viel zu wenig informiert über die kubanische Realität und die dortige Arbeit der Kirche. Wir hatten immer die Möglichkeit, kirchlich tätig zu sein. Natürlich gab es Momente in den sechziger und siebziger Jahren, da war die Beziehung zwischen Staat und Kirche sehr gespannt. Aber in der letzten Zeit ist diese Beziehung immer lockerer geworden. Das heißt: Wir haben mehr Spielraum. Letztes Jahr zum Beispiel haben wir ein großes evangelisches Fest mit 23 verschiedenen Gottesdiensten auf diversen öffentlichen Plätzen des Landes gefeiert. Zum ersten Mal wurden auch gleich vier Gottesdienste im Fernsehen übertragen. Einmal im Monat gibt es eine Gottesdienst-Übertragung im Radio, nämlich jeden ersten Sonntag im Monat. Und voraussichtlich wird die bald jeden Sonntag stattfinden. Für uns Gläubige erlebt Kuba derzeit einen ganz besonderen Moment, weil Religion und Kirche einen riesigen Zulauf erleben. Die Kirche ist in den letzten Jahren um das Dreifache gewachsen. Das ist für uns auch eine große Herausforderung.
Wie viele Gläubige, wie viele Kirchenmitglieder gibt es derzeit auf Kuba?
Das ist schwer zu sagen. Eine Zahl kann ich nicht nennen. Das kubanische Volk ist ein gläubiges Volk. Es sind nicht nur Christen. Viele gehören vor allem der afro-kubanischen Religion an. Kubanische Kultur und Nationalität - das ist eine Mischung aus spanischer und afrikanischer Kultur. Das hat historische Gründe, weil die Spanier als ehemalige Kolonialmacht Afrikaner zur Sklavenarbeit nach Kuba gebracht haben. Viele Leute auf Kuba gehören aber auch gar keiner Religion an. Sie pflegen einen einfachen Volksglauben. Ich schätze, dass 10 bis 15 Prozent der kubanischen Bevölkerung christlich aktiv sind - entweder katholisch oder evangelisch.
Welche Aufgaben hat der Kirchenrat auf Kuba zu erfüllen?
In Kuba haben wir 52 verschiedene evangelische Kirchen. Davon sind 25 Mitglieder im Kirchenrat. Der Kubanische Kirchenrat ist eine Organisation, der nicht nur Kirchen angehören, sondern auch ökumenische Bewegungen - zum Beispiel die studentische christliche Gemeinde oder das Theologieseminar von Matanzas. Wir haben im Kirchenrat elf verschiedene ökumenische Gruppen zusätzlich zu den 25 verschiedenen evangelischen Kirchen. Der Kirchenrat ist ein Versuch, alle diese Kirchen und Institutionen in einer gemeinsamen ökumenischen Arbeit zusammenzubringen. Wir versuchen, uns gegenseitig zu helfen. Für unsere Arbeit haben wir verschiedene Abteilungen im Kirchenrat eingerichtet: etwa eine, die sich um die Belange der Frauen kümmert oder eine Abteilung für christliche Erziehung zum Beispiel in der Sonntagsschule. Da bereiten wir das Lehrmaterial vor.
Welche Akzente wollen Sie ganz persönlich in Ihrem Amt als Vorsitzender des kubanischen Kirchenrats setzen?
Die Kirche wächst - wie gesagt - sehr stark, und das stellt den Kirchenrat vor große Aufgaben. Wir müssen uns verändern. In meiner Amtszeit wird das Hauptziel die innere Reform der Kirche sein. Wir müssen uns besser organisieren, um eine Antwort auf die neue Situation geben zu können. Dazu gehört, dass wir den Kontakt zu den Pfingstkirchen suchen. Die Pfingstkirchen sind eine nicht zu übersehende Realität auf Kuba. Das sind große, starke Bewegungen überall im Land, in ganz Lateinamerika. Sie stehen dem Volk in der Art und Weise, wie sie ihre Liturgie feiern, näher. Die Beliebtheit der Pfingstkirchen ist vor allem aber auch ein Ergebnis unseres eigenen theologischen Problems: Wir haben zu wenig über den Heiligen Geist gesprochen, wir sind zu christo-zentrisch. Der Kirchenrat sollte daher in den Dialog mit den Pfingstkirchen treten. Außerdem sollten wir lernen, effektiver unter den 50 verschiedenen evangelischen Kirchen zusammenzuarbeiten.
Die Katholische Kirche ist in ganz La-teinamerika traditionell sehr stark. Der Papstbesuch auf Kuba hat die besondere Rolle der katholischen Kirche noch einmal deutlich gemacht. Wie verhält sich die Evangelische Kirche dazu?
Wenn man die Pfingstkirchen beispielsweise als evangelische Kirchen zählt - und davon haben wir mehr als 20 auf Kuba -, dann sind evangelische und katholische Kirche zahlenmäßig gleich. Für uns war im Zusammenhang mit dem Papstbesuch vor allem eines wichtig: es gab ein Treffen mit den Mitgliedern der evangelischen Kirche. Wir haben gute Beziehungen zur katholischen Kirche. Doch nun wollen wir versuchen, Gebiete zu finden, auf denen wir mehr und konkret zusammenarbeiten können. Bislang haben wir das nicht gemacht.
Welche Wirkung ging von dem Papstbesuch aus?
Für mich gab es ein ganz besonders positives Signal, das vom Papstbesuch ausging: Von diesem Moment an war Religion auf Kuba keine Privatsache mehr. Zum ersten Mal wurde ein Gottesdienst im Fernsehen gezeigt. Es gab viele Bekundungen des Glaubens ganz offen auf der Straße. Und das ist so geblieben. Die Menschen, die sonst nichts mit der Kirche zu tun hatten, haben plötzlich angefangen, den Glauben zu entdecken. Sie sind in den Gottesdienst gegangen, haben nachgefragt. Das war für uns sehr positiv.
Kann die Kirche auf Kuba auch als politisch Handelnde auftreten, auf Missstände aufmerksam machen, die Einhaltung der Menschenrechte einklagen?
Die Kirche beschränkt sich keinesfalls auf Gottesdienste und religiöse Aktivitäten. Wir engagieren uns zum Beispiel im ökonomischen Bereich. Durch die Arbeit der Kirche kommen viele Spenden nach Kuba. Das Geld fließt in Krankenhäuser, in Polikliniken auf dem Land, die große Schwierigkeiten haben. Auch im ökologischen Bereich sind wir aktiv. Wir werden da zum Beispiel auch von der deutschen Kirche unterstützt. "Brot für die Welt" fördert einige Projekte der Solarenergie und auch der "grünen Medizin". Im politischen Bereich arbeitet der Kirchenrat mit dem National Council of Churches of Christ in den USA zusammen, um die Blockade gegen Kuba zu einem Ende zu bringen. In der Nationalversammlung sind drei christliche Abgeordnete vertreten. Drei Pfarrer, die drei verschiedenen Kirchen angehören. Der eine ist Baptist, der andere gehört der Presbyterianischen Kirche an, der Dritte der Anglikanischen. Sie versuchen in der Nationalversammlung, christliche Werte, Aspekte, bei bestimmten Entscheidungen durchzusetzen. Die Pfarrer haben sich beispielsweise gegen die Todesstrafe ausgesprochen und ihre christliche Überzeugung dargelegt, unbeeindruckt davon, dass sich der Rest der Nationalversammlung für die Todesstrafe entschieden hat.
Sie zeichnen ein überraschend positives Bild von den Möglichkeiten der Kirche auf Kuba. Das scheint nicht zu den Meldungen über die Verletzung von Menschenrechten, über die Verfolgung auch Geistlicher auf Kuba zu passen.
Es gibt sehr viel Propaganda gegen Kuba im Ausland. Natürlich gibt es Gesetze und wie in allen Ländern gibt es Repressionen. Jede Regierung hat ihre Art, die Gesetze durchzusetzen. Vieles ist übertrieben. Meines Erachtens kann man so abstrakt auch nicht über die Demokratie sprechen. Wenn ich sehe, was Demokratie in den lateinamerikanischen Ländern bedeutet, dann dann sehe ich das kritisch. Die Mehrheit des Volkes in Lateinamerika lebt unter dem Existenzminimum. Theoretisch können die Menschen an der Veränderung der Gesellschaft teilnehmen, indem sie ihre Stimme zur Wahlurne tragen. De facto bewirkt das aber gar nichts. Der Wahlgang ist in vielen Ländern nur eine Show. Die Diskussion um mehr Demokratie ist nicht nur eine Diskussion für Kuba, sondern für alle Länder in der Dritten Welt. Es gilt andere, demokratischere Strukturen zu finden, um das Volk tatsächlich zu beteiligen und die Entscheidungen der Wähler auch wirklich zur Geltung zu bringen. Kuba wird als ein sozialistisches Land nur allzu gern wegen seiner Demokratiedefizite kritisiert. Ich denke, dass vieles übertrieben wird, was über das Unrechtssystem auf Kuba, über die Repressionen, gesagt wird. Die Kirche in Kuba muss sich ungeachtet dessen aber für eine größere Beteiligung, eine Partizipation der Gesellschaft stark machen. Daran arbeiten wir.
Sie haben die jüngere Generation angesprochen. Sind die jungen Menschen überhaupt an der Kirche interessiert?
Ja. Viele junge Leute kommen derzeit zu uns - das ist auch eine Chance für die Kirche, ihren Einfluss geltend zu machen. In moralisch-ethischer Hinsicht können wir in Kuba heute eine große Rolle spielen. Die junge Generation wird durch vieles verführt, durch den Tourismus zum Beispiel. Der Tourismus wächst und das ist in wirtschaftlicher Hinsicht auch sehr wichtig. Aber das bringt auch viele Probleme mit sich, Prostitution zum Beispiel. Und Drogen. Die gab es bislang in der kubanischen Gesellschaft nicht. Die jungen Leute denken außerdem, dass das Geld in den reichen Ländern leicht zu verdienen ist, dass man nur in die USA zu gehen braucht, um reich zu werden. Und dann wollen sie ins Ausland gehen. Der Kirchenrat aber möchte, dass die jungen Leute auf Kuba bleiben.
aus: der überblick 02/2000, Seite 96