Das Heilige wird angetastet
12 Wenn du im dritten Jahr, dem Zehntjahr, den vollen Zehnten deines
Ertrags entrichtet und ihn dem Leviten, dem Fremdling, der Waise und der Witwe
gegeben hast, dass sie sich in deinen Ortschaften satt essen, 13 dann sollst du
vor Adonaj, deinem Gott sagen: Ich habe das Heilige aus dem Hause geschafft und
habe es auch dem Leviten, dem Fremdling, der Waise und der Witwe gegeben
entsprechend dem ganzen Gebot, das du mir geboten hast. Ich habe keines deiner
Gebote übertreten und keines vergessen. 14 Ich habe nichts davon gegessen,
als ich in Trauer war; ich habe nichts davon weggeschafft als ich unrein war;
ich habe nichts davon einem Toten gegeben. Ich war dem Wort Adonajs meines
Gottes gehorsam, ich habe es befolgt, ganz wie du mir geboten hast.
(5. Mose 26,12-14; Übersetzung in Anlehnung an G. v. Rad, Das fünfte Buch Mose. Deuteronomium, ATD 8, 1964)
von Frank Crüsemann
Vermutlich ist dieser Text den meisten von uns unbekannt. Es geht in ihm aber um Themen, die heute heftig diskutiert werden. Er handelt von religiösen Abgaben – das ist bei uns heute vor allem die Kirchensteuer –, ihrer Höhe und ihrer Verwendung. Der Text spricht auch von sozialen Problemgruppen wie den Fremden und ihrer sozialen Sicherung; es geht aber auch um das Eigentliche der Religion, das Heilige, das ja auch in Kirche und Theologie heute wieder in den Mittelpunkt gerückt werden soll. Aber der Text verbindet diese Themen auf eine provozierende Art und Weise und anders als wir es gewohnt sind. Um die Provokation zu verstehen, muss man einen Blick auf die Geschichte des Zehnten werfen.
Zur Geschichte Gottes mit seinem Volk gehört die Abgabe des zehnten Teils von allen Einkünften und Erträgen von Beginn an. Schon von Abraham wird berichtet, dass er den Zehnten nach Jerusalem gibt (Gen 14,20). Vor allem verspricht dann Jakob, der Stammvater Israels, in Bethel: "Alles, was du mir geben wirst, werde ich dir treu verzehnten" (Gen 28,22). Beide Akte sind stellvertretend gemeint und verpflichten alle Nachfahren. Aus solchen Abgaben aller grundbesitzenden Israeliten werden später die Heiligtümer, besonders der Tempel in Jerusalem und sein Personal unterhalten. Wichtig ist gerade heute, die Alternativen dazu im Blick zu haben. Israels religiöser Apparat soll nicht wie sonst vielfach in der Religionsgeschichte aus Spenden der Reichen und Mächtigen und er soll auch nicht aus eigenem Grundbesitz des Tempels – das entspricht heutigen Stiftungen – unterhalten werden. Zwar baut König Salomo den Tempel in Jerusalem, aber der ideale Tempel wird nach Gottes Befehl am Sinai aus den Abgaben aller Israeliten (Ex 25,1ff) gebaut und unterhalten. Diese biblische Institution des Zehnten ist im frühen Mittelalter in der christlichen Kirche wieder aufgenommen worden und daraus hat sich schließlich und endlich, wenn auch durch viele und tiefe Wandlungen hindurch, die heutige Kirchensteuer entwickelt.
Doch eigentlich gilt diese Abgabe ja, wie Jakob es versprochen hat, "Dir", also Gott selbst. Der Geber allen Reichtums erhält aus Dankbarkeit einen symbolischen Teil zurück. Wo aber ist Gott zu finden und wie begegnet er uns? Etwa nur im Heiligtum und der religiösen Organisation? Nicht der Zehnte an sich, den es so oder ähnlich in manchen Religionen gibt, ist das eigentümlich Biblische, sondern erst die Form, den diese religiöse Abgabe in den spezifischen Bestimmungen des Deuteronomiums bekommt. Dem Zehnten gilt das erste aller Sozialgesetze, das in Dtn 14,22ff gleich nach den grundlegenden religiösen Verpflichtungen in Kapitel 12f steht, und ihm gilt das letzte, eben unser Text. Alles was sonst geboten ist, wird so umrahmt und in seinem Sinn bestimmt. Nach diesen Regeln soll der traditionelle Zehnte in zwei von drei Jahren an das zentrale Heiligtum gebracht und dort vom Überbringer selbst verzehrt werden. Aus ihm werden die großen Opfermahlzeiten der Feste bestritten, an denen alle teilnehmen sollen (z.B. 16,11). Er dient damit zwar auch dem Unterhalt des Tempels, aber das Heiligtum dient vor allem der Freude der Israeliten. In jedem dritten Jahr dagegen soll der Zehnte an die Menschen ohne eigenen Landbesitz gegeben werden, die ohne eigene Lebensgrundlage sind, also die sozial Schwächsten. Genannt werden neben Witwen und Waisen die Leviten – grundbesitzloses niedriges Kultpersonal – und die Fremdlinge. Das sind Flüchtlinge, die durch Hunger und Krieg aus ihrer Heimat vertrieben wurden und in Israel Zuflucht finden sollen und gefunden haben. Sie können aus Israel selbst oder aus anderen Völkern kommen. All diese sozialen Problemgruppen bekommen durch das Drittel des Zehnten eine rechtlich gesicherte Lebensgrundlage. Das ist die erste bekannte Sozialsteuer der Weltgeschichte, das Modell jeden Sozialstaates und zentraler Teil eines umfassenden sozialen Netzes, das die Wirtschafts- und Sozialgesetze der Tora und besonders des Deuteronomiums entwickeln.
Um dieses soziale Drittel des Zehnten geht es in unserem Text. Dass man es ordnungsgemäß abgeliefert hat, soll in der eidesähnlichen Erklärung bindend und öffentlich versichert werden. Das Jahr, in dem das geschieht, und nur dieses wird "Zehntjahr" genannt, denn in der Tat in den beiden anderen Jahren kommt der Zehnte zwar auch ins Heiligtum, kommt aber im Heiligtum dem Geber und seinem ganzen Anhang zugute. Von besonderem theologischen Gewicht ist es, dass nur und ausgerechnet dieses Drittel "das Heilige" heißt. Es hat damit den Namen bekommen, den vermutlich die sakrale Abgabe an das Heiligtum immer hatte. Aber indem nun das als heilig gilt, was denen gehört, die für ihr Leben darauf angewiesen sind, wird der Begriff des Heiligen völlig neu bestimmt.
Und überraschenderweise und vielleicht auf Anhieb gar nicht durchsichtig, werden nun mit diesem neu bestimmten Begriff Heiliges religiöse Regeln verbunden, die zeigen, dass es nicht um einen bloßen Namen geht, sondern dass all das traditionelle Spezifikum des Heiligen, des mysterium tremendum et fascinosum tatsächlich auf diese Sozialhilfe übertragen wird. Denn nach v. 14 darf dieses Heilige in keinem Falle angegriffen werden und schon gar nicht durch Berührung mit dem, was extrem verunreinigt, mit dem Tod. Deshalb der Schwur, nichts davon weggeschafft und nichts davon verunreinigt zu haben.
Wenn es in vielen biblischen Texten heißt, dass Gott bei den Erniedrigten und Beleidigten wohnt, dass er dort zu finden ist, dann wird das hier in finanzielle Regelungen umgesetzt. Was man an Gott selbst geben will, wie es Jakob versprochen hat, muss gerade auch den sozial Schwächsten gehören. Der letzte Vers macht deutlich, dass die Weitergabe des Segens, die Teilhabe aller am Reichtum des Landes Bedingung dafür ist, dass dieser Segen auch künftig wirken wird. Gott segnet das Land, in dem der Zehnte so aussieht.
In den deutschen Kirchen hat es bekanntlich eine vergleichbare feierliche Verpflichtung, einen festen Teil der Kirchensteuereinnahmen an die Armen dieser Welt weiterzugeben, auch gegeben – wenigstens ansatzweise. Der Prozentsatz allerdings lag immer weit unter diesem Drittel des Zehnten. Und seit die kirchlichen Einnahmen schrumpfen und der Verteilungskampf härter geworden ist, ist es um solche Festlegungen stiller geworden. Eigentlich schade, dass ein solcher Text weitgehend unbekannt ist, denn eine entsprechende Versicherung, das Heilige nicht angetastet zu haben, könnte die vielen gegenwärtigen Bemühungen, dem Heiligen wieder seinen Stellenwert in unserem religiösen Leben zu geben, auf biblische Füße stellen.
aus: der überblick 01/2001, Seite 120
AUTOR(EN):
Frank Crüsemann :
Prof. Dr. Frank Crüsemann ist Prorektor und Inhaber des Lehrstuhls für Altes Testament an der Kirchlichen Hochschule Bethel