Am Rande des Weltsozialgipfels
Herrscht in Argentinien Hunger? Das wollte eine Mission des EED und des Food First International Action Network (FIAN) am Rande des Weltsozialgipfels herausfinden. Eingeladen hatten das für soziale Dienste zuständige Projektbüro der kleinen evangelischen Kirchen in Argentinien, ein Partner des EED, sowie die Menschenrechtsorganisation CELS und die Bauernorganisation MOCASE, zwei Partner von FIAN. Jürgen Reichel vom EED hat an der Mission teilgenommen und schildert die Ergebnisse.
Nachgefragt bei Jürgen Reichel.
von Bernd Ludermann
Ist das Recht auf Nahrung in Argentinien nicht mehr gewährleistet?
Nein. An vielen Stellen können sich die Menschen nicht mehr ausreichend ernähren. Wir haben uns in Buenos Aires, in der Stadt Tucuman und in der Provinz Santiago del Estero umgesehen und mit Menschenrechtsgruppen, Basisgruppen und Kirchen gesprochen. In einem Stadtrandgebiet von Tucuman gibt es zum Beispiel fast keine Arbeitsplätze im formellen Sektor mehr, außer saisonale und schlecht bezahlte als Zitronenpflücker. Die Menschen sind auf Sozialhilfe angewiesen.
Hat der Staat denn das Geld, die zu leisten?
Nein. Der Staat ist pleite. Die Auslandsverschuldung lässt ihm keinerlei Spielraum. Aber selbst das verfügbare Geld wird schlecht genutzt. Es gibt keine kohärente Sozialpolitik, sondern nur kleine Hilfsprogramme, und die sind chaotisch angelegt und greifen viel zu kurz. Viele sind von außen und über Kredit finanziert, etwa von der Weltbank oder ihrer Tochter, der Interamerikanischen Entwicklungsbank. Ein Beispiel: Zwar haben alle Familienoberhäupter Anspruch auf 50 Euro Unterstützung pro Monat. Aber das ist erstens für Familien ohne Einkünfte viel zu wenig und berücksichtigt überhaupt nicht, wie groß die Familie ist. Zweitens ist die Verteilung willkürlich. Da spielen politische Präferenzen eine Rolle: Hat die Wohnsiedlung mehrheitlich für die in der jeweiligen Provinz oder Stadt regierende Partei gestimmt? Die Parteien unterhalten so etwas wie Emissäre, sogenannte punteros, die überall die Lage beobachten. Von denen scheint die Verteilung der Hilfe abzuhängen. Die staatliche Verwaltung wird im Grunde ausgeschaltet. Das wurde uns in einer Siedlung in Tucuman geschildert: Als der dortige puntero erfuhr, dass die Bevölkerung sich an Streiks beteiligt hatte, wurde die Verteilung der 50 Euro eingestellt.
Wie versuchen die Argentinier sich zu helfen?
Sie bauen kleinste Wirtschaftskreisläufe an der Geldwirtschaft vorbei auf - etwa Arbeit gegen Nahrung. Auf dem Land können sie mehr Lebensmittel für den Eigenbedarf anbauen. Aber 80 Prozent der Argentinier leben in der Stadt. Uns wurde allerdings von einem Trend zur Rückwanderung aufs Land berichtet. Viele sind ja erst in der ersten oder zweiten Generation Städter und wissen noch, wie man Land bewirtschaftet. Das könnte helfen, die Lage zu entspannen. Nur die Regierung unterstützt die Rückwanderung nicht, sondern behindert sie. Der Großgrundbesitz ist hier ein Problem.
Und in den Städten - wie funktioniert Tauschwirtschaft da?
In Buenos Aires haben allein vergangenes Jahr an die 200 Fabriken aufgegeben. Es gibt große Industriegebiete, da fährt man nur an geschlossenen Betrieben vorbei, die Straßen sind leer. Das ist gespenstisch. Aber auf dem Fabrikgelände leben Familien. Sie versuchen entweder, die Produktion weiterzuführen; das soll funktionieren, aber wir haben dafür kein Beispiel gesehen. Oder sie organisieren Nachbarschaftshilfe, etwa um Sozialhilfe zu bekommen. Und sie fangen an, mitten in der Stadt Nahrungsmittel anzubauen. Und das in einem Land, das noch immer zehnmal mehr Nahrung produziert, als die Bevölkerung braucht. Ehemalige Fabrikarbeiter ziehen Gurken und Tomaten oder legen ein kleines Maisfeld an - zum Teil für die Eigenversorgung und zum Teil für Schulspeisungen, die überall eingeführt werden. Denn die Kinder sind häufig so unterernährt, dass sie im Unterricht zusammenbrechen. Man hat uns aber auch immer wieder gesagt, dass die Krise zu einem neuen Erwachen von politischem Bewusstsein führt.
Haben Sie unterernährte Kinder gesehen?
Ja. Und die Not ist gut dokumentiert. Denn früher besaß Argentinien ein kostenloses Gesundheitssystem. Die Gesundheitsstationen existieren noch, haben aber nichts mehr - kein Heftpflaster, kein Aspirin, nichts. Doch die sehr gut ausgebildeten Ärzte kommen noch so einmal pro Woche, selbst aufs platte Land. Nur können sie nichts tun, als die Massen der unterernährten Kinder vorbeiziehen zu lassen und den Grad der Unterernährung zu registrieren. Das ist eine perverse Situation.
Wer trägt die neue Politisierung?
Arbeitslose organisieren sich und protestieren - sie besetzen etwa kurzzeitig Straßen. Auch Bauernbewegungen nehmen zu. Ihnen schließen sich inzwischen Studierende an. Das Problem in Argentinien ist ja, dass die Mittelschicht völlig verarmt ist. In deren Vierteln finden Demonstrationen statt, bei denen die Leute mit Kochtöpfen Lärm schlagen. Das ist insofern ein neuer Aufbruch, als die Argentinier noch von der Militärdiktatur traumatisiert sind und zum Rückzug ins Private gezwungen worden waren. Die junge Generation bricht da jetzt aus.
Uns haben viele junge Leute erzählt, sie werden von ihren Eltern eindringlich gewarnt, nichts zu tun, was die Aufmerksamkeit von irgendeiner Staatsgewalt auf sich ziehen könnte. Aber sie sagen, das geht nicht, wir müssen uns jetzt zeigen. Studenten arbeiten jetzt mit Bauern- oder Arbeitslosenbewegungen zusammen.
In Santiago del Estero leisten zum Beispiel Jura-Studenten Rechtsbeistand, wenn Gebiete einer Vorstadt geräumt werden sollen. Der Staat war in Argentinien schon immer schlecht angesehen, aber jetzt sind alle politischen Parteien und staatlichen Institutionen völlig diskreditiert. Auch die Banken, denn viele Argentinier führen die Misere weitgehend auf die jüngste Schuldenkrise zurück.
Was erwarten die Basisorganisationen von ausländischen Partnern?
Die OCP, unser Partner, dringt darauf, die Legitimität der Schulden des Landes zu hinterfragen: Was geht auf die Militärdiktatur zurück, wo hat nie ein Parlament mitbestimmt? Wo wussten die Kreditgeber von vornherein, dass das Geld sofort in die Finanzspekulation fließen würde? Da sollen wir in Europa mehr tun.
aus: der überblick 01/2003, Seite 114
AUTOR(EN):
Bernd Ludermann :
Bernd Ludermann war viele Jahre Redakteur beim "überblick". Er arbeitet jetzt als freier Journalist in Hamburg und betreut unter anderem als Redakteur die Forum-Seiten im "überblick".