Im ANC streiten sieben Strömungen über den richtigen Kurs
In Südafrika wird heftig über den politischen Kurs des Landes gestritten. Diese Debatten finden jedoch nicht im Parlament, sondern innerhalb der dominanten Regierungspartei des African National Congress (ANC) statt. Die Demokratie könnte Schaden nehmen, wenn die Einheit der Partei nur noch durch ein gemeinsames Feindbild zusammengehalten wird.
von Lawrence Schlemmer
Der African National Congress (ANC) macht sich selbst das Leben schwer. Der heftige interne Streit um die Anschuldigungen gegen den ehemaligen Vize-Präsidenten Jacob Zuma wegen Vergewaltigung und Korruption war nur die spektakulärste Auseinandersetzung. Gleichzeitig gab es Proteste gegen schlecht arbeitende Kommunalverwaltungen, Streit über Kandidatenlisten der Partei, Ablehnung einiger vom ANC ernannten Bürgermeister, unerlaubtes Ausspionieren von führenden Parteimitgliedern, fingierte Emails und Vorwürfe von hate speech. Wäre die Partei ein Schiff, dann würde dieses zahlreiche Lecks aufweisen.
Einige Anhänger der Opposition sehen diese Dramen verständlicherweise mit Belustigung, manchmal verbunden mit der Hoffnung, dass sich die Partei spalten und ihre überwältigende Vorherrschaft bei den Wahlen verlieren werde. Dabei sollten wir alle uns eher Sorgen machen, welche längerfristigen Folgen derartige Streitigkeiten auf höchster Ebene der Regierungspartei für die Demokratie haben.
Die erste Frage lautet jedoch: Wird sich die Partei spalten? Falls das geschieht und der ANC einiges von seiner gegenwärtigen überwältigenden Mehrheit von 70 Prozent verliert, wird die Mehrparteiendemokratie gestärkt. Manches deutet darauf hin, dass sich das ANC-Bündnis durchaus spalten könnte. Es gibt jetzt eine recht geeinte und zunehmend aktive Opposition des linken Flügels gegen die Politik des ANC , die von seinen beiden wichtigsten Bündnispartnern, dem Gewerkschaftsverband COSATU und der South African Communist Party (SACP) getragen wird. Die Kommunistische Partei, die außerhalb des ANC bis zum Jahr 2004 praktisch kaum Unterstützung bei den Wählern hatte, hat durch unabhängiges Auftreten die Zustimmung um über 1000 Prozent steigern können, was sie zur drittgrößten politischen Partei mit überwiegend schwarzen Anhängern gemacht hat. Zurzeit sondiert sie bei ihren Mitgliedern, ob sie ihre Wahlkämpfe künftig getrennt führen sollte. Sollte Jacob Zuma schließlich als Kandidat für die Nachfolge von Präsident Mbeki im Jahre 2009 abgelehnt werden, wird sich die Kommunistische Partei vermutlich vom ANC trennen. Das dürfte jedoch nur vorübergehend sein, ein strategisches Manöver, um den ANC zur Aufgabe seiner gegenwärtigen Politik zu zwingen, welche die SACP und COSATU für neoliberal und elitär halten.
COSATU und die SACP wollen eigentlich nicht von außen gegen den ANC opponieren, sondern vielmehr den historischen Charakter des ANC als revolutionäre Kraft zur Befreiung sowohl von weißer Vorherrschaft als auch von kapitalistischer Hegemonie wiederherstellen. Sie wissen sehr genau, welcher enorme Verlust an Ansehen bei der Wählerschaft, an politischer Mitwirkung, an Patronage durch den Staat und in der Parteikasse mit einer dauerhaften Trennung vom ANC verbunden sein würde und werden das nicht riskieren. Ihre Drohung mit der "Spaltung" wäre deshalb mit einem Liebhaber zu vergleichen, der mit dem Lösen einer Beziehung droht, um so einen Partner zu zwingen, sich künftig anders zu verhalten. Die Kommunistische Partei und COSATU werden ihr Ausscheiden aus dem Bündnis als Hebel benutzen, um den ANC unter einer linksgerichteten Führung erneut zu vereinen wenn nicht unter Zuma, dann jemand anderem, der ihrem Programm mit Wohlwollen gegenübersteht.
Alle Partner in der Dreierallianz sehen den ANC nicht nur als eine Partei in einer Mehrparteiendemokratie, sondern vor allem als die "natürliche" und einzig legitimierte politische Führungskraft in Südafrika nach Ende der Apartheid. Die Linksabweichler im ANC vertreten diese Auffassung von der Rolle der Partei sogar noch nachdrücklicher als die Gemäßigten und afrikanischen Nationalisten. Es mag sein, dass sie Präsident Mbeki und die gegenwärtige Führung der Partei vehement ablehnen, doch ihre grundlegende politische Identität macht es erforderlich, dass sie dies als ANC-Kader tun. Paradoxerweise sind ihre Einwände und Proteste und sogar eine mögliche vorübergehende Spaltung eine Bekräftigung ihrer Loyalität zum ANC als einzige wahrer Befreiungspartei.
Was wir deshalb in der Demokratie Südafrikas erleben, ist ein intensiver und anhaltender Streit innerhalb einer Partei. Sowohl die Vertreter des ANC als auch die der Kommunistischen Partei sehen ihren Streit als die wichtigste Debatte überhaupt an. Der Streit unter den verschiedenen Parteien des Mehrparteiensystems ist demgegenüber zweitrangig. Die formale Demokratie ist von geringerer Bedeutung, wenn man um die Seele der einen, wahren Befreiungsbewegung kämpft.
Doch genau das könnte die für eine stabile Entwicklung so wichtige Verankerung und Funktionstüchtigkeit der Demokratie gefährden. Der Streit im ANC marginalisiert die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Parteien und gleichzeitig die konstitutionelle Demokratie. Der Streit im Bündnis tritt an die Stelle einer offenen grundsatzpolitischen Auseinandersetzung, bei der die Wähler das letzte Wort haben.
In einer funktionierenden Mehrparteiendemokratie sollte jede Partei eine erkennbare ideologische Stoßrichtung und erkennbare Interessen vertreten. Diese Funktion erfüllte der ANC in der Vergangenheit, doch seine Stoßrichtung hat sich stark verwischt. Heute sind im ANC fast alle ideologischen Richtungen im Land vertreten. Es ist ein alter Hut, dass der ANC wie eine "große Kirche" ist. Aber die Gemeindeglieder singen heute nicht einmal mehr die gleichen Lieder. Es lassen sich rund sieben politische "Kulturen" und Interessengruppen im ANC ausmachen.
Die erste ist eine Kultur der Solidarität der Arbeiterklasse, die aus einer recht kohärenten Gewerkschaftsbewegung mit sozialistischen Tendenzen hervorgegangen ist. Die zweite ist die Formation der Kommunistischen Partei, von der bereits gesprochen wurde. Eine dritte ist eine Kategorie von Aktivisten, die ein starkes Protestbewusstsein hat und "afrikanistische" und radikale Einstellungen miteinander verbindet, wozu auch starke anti-weiße Einstellungen gehören können. Eine weitere ist eine kleine, doch rasch wachsende Elite von Personen, die von der Politik des black economic empowerment und einer auf Gleichstellung gerichteten Personalpolitik profitiert haben und jetzt zur oberen Mittelschicht gehören. Mit ihr durch ihre Aspirationen aber wenig sonst verbunden ist die ebenfalls stark wachsende Gruppe mittlerer Angestellter im Dienstleistungsbereich, die von der Werbung und den Medien fälschlicherweise als schwarze Mittelschicht bezeichnet werden. Ihr weiteres Wachstum wird von den Konjunkturzyklen der Wirtschaft abhängen. Dann gibt es eine ländliche traditionalistische Gruppierung, die in KwaZulu-Natal entweder dem ANC oder der Inkatha Freedom Party (IFP) zuneigt, jedoch in den anderen Landesteilen fest dem ANC zuzuordnen ist. Die größte Kategorie schließlich ist eine stark von Sozialfürsorge abhängige Unterschicht am Rande des Existenzminimums, die durch die weiterhin hohe Arbeitslosigkeit geschaffen wird.
Das Bestehen dieser verschiedenen Interessengruppen hat den ANC zu einer Politik gezwungen, bei der er allen alles ist was einen ständigen Balanceakt erfordert. Gruppierungen innerhalb des ANC können die Führungskräfte zu Kompromissen zwingen, die ihnen die parlamentarische Opposition unmöglich abringen könnte. Das hat zu einem ganz spezifischen Mangel der ANC-Politik geführt: Er ist vor den harten Entscheidungen zurückgeschreckt, die zur Bekämpfung der stärksten Bedrohungen des Landes erforderlich sind Korruption, Armut, Arbeitslosigkeit und HIV/Aids.
Doch der Balanceakt ist nicht so ausgewogen, wie Slogans wie "ein besseres Leben für alle" nahelegen könnten. Die Führung des ANC hat, nachdem sie ihr Gewissen durch eine Ausweitung der Sozialfürsorgeleistungen beruhigt hat, eine entschlossene Umgestaltung in Bezug auf die Behandlung der Rassen vollzogen und gleichzeitig eine schwarze obere Mittelschicht gefördert. Das hat zu einer raschen Zunahme der Ungleichheit zwischen seinen eigenen Anhängern geführt, was die Konflikte in der Partei nährt.
In jeder Demokratie legen sich die politischen Parteien nicht eindeutig fest, um möglichst viele Wähler für sich zu gewinnen, doch die wahre Kunst und das Erfolgsgeheimnis liegt in einer Mehrparteienlandschaft in der Fähigkeit, dabei gleichzeitig die Grundwerte der Partei hervorzuheben. Was sind heute die grundlegendsten Werte des ANC? Innerhalb der Partei besteht eine echte und spürbare Ungewissheit, ob er vor allem eine gemäßigte sozialistische Partei, eine neoliberal-kapitalistische Partei oder eine verdeckt ethnisch ausgerichtete Partei mit einer typischen afrikanisch-nationalistischen Stoßrichtung ist.
Der ANC kann mit dieser unklaren Haltung bestehen, indem er die kritischsten grundsatzpolitischen Debatten in seinen eigenen Reihen geschickt für seine Zwecke nutzt und sie unter Kontrolle hält. Er wagt nicht, die Meinungsunterschiede im Parlament laut werden zu lassen. Bisher hat er die Reihen noch schließen können, nicht in Fragen der Grundwerte, sondern paradox für eine nicht-rassistische Partei indem er das weitverbreitete Gefühl ausnutzt, dass er die "natürliche" Wahl der afrikanischen Mehrheit ist. Auf genau die gleiche Weise hat die National Party vor Ende der 1980er Jahre die Identität der Afrikaaner (Buren) angesprochen.
Diese Situation nimmt der Mehrparteiendemokratie nicht nur ihre Vitalität, sondern sie enthält auf längere Sicht auch den Keim einer zukünftigen Katastrophe. Wenn die kritischsten politischen Streitfragen nicht in der von der Verfassung dazu bestimmten Arena ausgetragen werden, haben die Protagonisten schließlich keine andere Wahl, als ihre Anliegen mit außerparlamentarischen Mitteln voranzutreiben. Vor den jüngsten Kommunalwahlen hat sich die Unzufriedenheit über miserable Behörden in mehr als 50 Fällen in Aufruhr niedergeschlagen. Es gibt aber keine Anzeichen dafür, dass sich diese Kritik am Wahltag im Votum für eine andere Partei niedergeschlagen hat.
In anderen Teilen Afrikas war es genau diese Tendenz, die Putschversuche und Widerstandsbewegungen zur Folge hatte. Sie hat auch dazu geführt, dass die in die Enge getriebenen politischen Führungen entweder autoritär und diktatorisch wurden oder destruktive Taktiken anwandten, um die Einheit ihrer Parteien zu bewahren. Die bekannte Strategie der "schmutzigen Tricks" bestand dann darin, einen gemeinsamen Feind für die Partei zu erfinden. Für Südafrikas Nachbarn in Simbabwe, Robert Mugabe, war der gemeinsame Feind der britische Imperialismus und was von ihm in Gestalt der weißen Farmer noch übrig geblieben war. In Südafrika gibt es bereits viele Anzeichen, dass der angebliche weiße "Rassismus" der gemeinsame Feind sein wird. Auch die Entfesselung des Tribalismus und des ethnischen Extremismus hat den zweifelhaften Interessen von unsicheren Führern in Afrika sehr gut gedient.
All das scheint recht weit entfernt zu sein für ein Südafrika, das sich in einem anhaltenden Wirtschaftsboom sonnt. Doch Konjunkturzyklen und die guten Zeiten gelangen immer auch an ein Ende. Wird es dem Land mit seiner ausgezeichneten formalen Verfassung und Demokratie und seiner gegenwärtigen Stabilität gelingen, einer solchen Entwicklung zu begegnen?
aus: der überblick 03/2006, Seite 67
AUTOR(EN):
Lawrence Schlemmer
Lawrence Schlemmer ist Professor emeritus und Geschäftsführender Direktor des Forschungsunternehmens "MarkData in Pretoria und arbeitet freiberuflich als Berater.