Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf hat bei Kriegen und Bürgerkriegen meist als einzige Institution von außen Zugang zu den Gefangenen. Die spezielle Arbeitsweise des IKRK basiert auf strikter Neutralität und Vertraulichkeit seiner Berichte. Gerade dadurch gelingt es in vielen Fällen, die Lage der Gefangenen zu verbessern, erklärt Michael Meyer, der seit Jahren Delegierter des IKRK ist. Er hat während des Ersten und Zweiten Golfkriegs im Irak, während der Bürgerkriege im Libanon und im Kaukasus sowie in mehreren afrikanischen Ländern zahlreiche Gefängnisse und Gefangenenlager besucht.
Interview mit Michel Meyer
Die Fragen stellten FRIEDERIKE BÖGE und JÜRGEN DUENBOSTEL
Herr Meyer, wie schafft es das IKRK, Machthaber oder Behörden dazu zu bringen, Ihnen Zugang zu Gefängnissen zu gewähren? Die werden sich doch nicht gern auf die Finger schauen lassen.
So wie wir die Sache betrachten, haben die Parteien keine Nachteile durch unsere Besuche. Wir arbeiten auf einer Vertrauensbasis. Das heißt, wir werden unsere Besuche nicht in die Öffentlichkeit rapportieren. Wir wollen mit den Gefangenen in Kontakt treten und unsere Befunde mit den Behörden in einem konstruktiven Sinne teilen, damit Fehlleistungen, wenn es solche gibt, behoben werden. Das sind vertrauliche Berichte, die wir einzig den zuständigen Behörden unterbreiten. Insofern glaube ich nicht, dass Regierungen von uns etwas zu befürchten haben. In diesem Sinn ist unsere Arbeitsmethode auch nicht zu vergleichen mit der Arbeit jener Menschenrechtsorganisationen, die Publizität suchen und via Publizität Druck ausüben wollen, damit sich eine Regierung oder eine Guerrillaorganisation dem humanitären Völkerrecht oder Menschenrecht unterordnet. Was auch uns allerdings oftmals Schwierigkeiten bereitet, ist, dass Behörden ungern Leute von außen in ihren Souveränitätsbereich eindringen lassen.
Die Behörden mögen zwar keine Nachteile von den IKRK-Besuchen haben, aber können Sie ihnen denn Vorteile bieten?
Eine Regierung kann vielleicht Fakten von uns erfahren, auf Grund derer sie Korrekturen anbringen kann - vorausgesetzt, dass sie den politischen Willen hat, sich mit humanitären Fragen auseinanderzusetzen. Oft kommt es ja vor, dass ein Staatsoberhaupt gar keine volle Kontrolle darüber hat, was in den unteren Rängen geschieht. Es kann sein, dass einzelne Ministerien oder Unterabteilungen von Ministerien eigenständig arbeiten, ohne Wissen einer Regierung. In diesem Fall kann das IKRK gewissermaßen für Machthaber die Situation im eigenen Land widerspiegeln, so dass sie sie besser verstehen und in den Griff bekommen. Das habe ich schon mehrmals angetroffen.
Dann wird es Ihnen doch aber auch passieren, dass die leitenden Behörden Ihnen zwar den Zugang gewähren, aber die unteren Dienststellen Ihre Besuche boykottieren?
Ja, das ist oftmals der Fall, dass sie sich weigern, uns volle Transparenz zu bieten. Auch wenn wir die Erlaubnis von der höchsten Behörde haben. Das geschieht vor allem dort, wo in Krisengebieten Machtstrukturen nicht so fest etabliert sind, wo es etwa Divergenzen gibt zwischen einem Außenminister und einem Armeechef. Oder wo vielleicht die Staatsicherheit andere Interessen vertritt als das Innenministerium und das Justizministerium, welches bewirkt hat, dass wir überhaupt mit dem Staatschef einen Vertrag unterschreiben konnten. Dann steht es an, dass man klare Sprache spricht. Transparenz. Wir müssen klar machen, was unsere Absicht ist. Oft ist es nötig, erst einmal zu erklären, was das humanitäre Völkerrecht und das Mandat des IKRK sind. Das geht bis hin zu Lehrgängen für Polizisten oder Armeeeinheiten.
Wie sehen die Berichte aus, die Sie den Behörden übergeben? Werden da konkrete Verbesserungsvorschläge gemacht? Sind Sie also eine Art Unternehmensberater für Gefängnisse?
Wir sind spezialisiert auf humantiäre Folgen von Inhaftierung in bewaffneten Konflikten. Wir sind nicht die großen Experten, wie man eine Gefängnisverwaltung führen sollte. Aber man muss natürlich für den gesamten Ablauf einer Gefängnisverwaltung ein Verständnis haben. Wir machen wenn möglich konstruktive Verbesserungsvorschläge - je präziser, desto kontrollierbarer und erfolgsversprechender kann das sein. Nur zu sagen "die Leute haben zu wenig zu essen, sie sind unterernährt, gebt ihnen mehr zu essen" ist simpel und wird wahrscheinlich überhaupt nichts nützen. Man muss verstehen, warum die Gefangenen zu wenig zu essen haben: Ist das ein Problem der Finanzen? Ist es ein Problem des Chefkochs unter den Gefangenen, der etwas auf die Seite schiebt? Sind in der Gefängnisverwaltung Engpässe oder Korruptionsmechanismen? Vielleicht ist es auch rein eine Frage fehlender ernährungstechnischer Kenntnisse, sodass es keine ausgewogene Ernährung gibt. Mit dem gleichen Budget wäre es vielleicht möglich, genug Vitamine zu verabreichen.
In jedem Gefängnis gibt es informelle Machtstrukturen unter den Gefangenen selbst. Besteht nicht die Gefahr, dass Ihr Hauptansprechpartner im Gefängnis zugleich der Hauptunterdrücker für andere Gefangene ist?
Wir arbeiten mit Kriegsgefangenen und zivilen Internierten in Kriegen auf der Basis der dritten und vierten Genfer Konvention. Darin ist klar vorgegeben, dass die Gefangenen selbst ihre Vertreter ernennen. Wir werden natürlich mit diesen offiziellen Vertretern sprechen, aber nicht nur mit denen. Wir haben das Recht, jeden Gefangenen unserer Wahl zu treffen. Und das ist in der Regel auch notwendig, um eine möglichst objektive Bestandsaufnahme der Probleme durchführen zu können. Es gibt Fälle, in denen die Führung der Gefängnisse so gestaltet ist, dass rund um die Mauern der Staat, innerhalb der Mauern aber nur die Gefangenen sind. Da geht praktisch kein Wärter in das Gefängnis rein. Dort stößt man dann schon auf Schwierigkeiten, dass innerhalb von Gefangenen eine Machtstruktur entsteht. Hieraus ergeben sich dann gewisse Probleme für einzelne Gefangene, die man nur schwer zu lösen vermag...
... weil Sie für Ihre Besuche die Zustimmung der Führer unter den Gefangenen brauchen.
Ja, sicher. Wenn tausend Leute seit sechs Jahren auf engem Raum zusammen leben, dann sind die viel besser organisiert als jede Schweizer Gemeinde. Da ist die Rolle eines jeden sehr klar definiert. Wir kennen das auch, dass bei einem Putsch, bei einem Regimewechsel die alten Machthaber plötzlich alle im Gefängnis sind. Die werden natürlich mit ihren Ministertiteln benannt und leiten innerhalb des Gefängnisses das soziale Leben oder das wirtschaftliche Leben, falls es so etwas gibt - und wenn es sich einfach nur um Teekochen handelt. Wer ist da verantwortlich? Bezahlt man, bezahlt man nicht? Was macht man mit den Erträgen? Das ist voll durchorganisiert. Dann gibt es natürlich innerhalb dieser Strukturen auch wieder Randgruppen, die dann Schwierigkeiten haben. Aber wir müssen uns mit der realen Struktur unter den Gefangenen auseinandersetzen. Wir haben ihnen nicht vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten haben.
Persönlich habe ich einen Fall mit Kriegsgefangenen erlebt, bei dem die Vertreter gesagt haben, heute wollen wir mit euch nicht mehr sprechen, wir boykottieren das IKRK. Vielleicht wird ein Schreiben mit Forderungen übergeben. Man muss das auch so sehen, dass Gefangene gegenüber den Behörden, von denen sie kontrolliert werden, sehr wenig Spielraum haben. Die Häftlinge haben ein großes Bedürfnis, sich als Mensch selbst belebt, beseelt zu fühlen. Da kann ein IKRK-Delegierter in gewissem Sinne eine Art Sandsack darstellen, an dem Aggression und Unzufriedenheit ausgelebt werden können. Die Forderungen, die dann gestellt werden, können ganz kleine Dinge sein. Ein Lexikon in 30 Bänden etwa oder eine spezielle Rosensorte, die die Gefangenen züchten möchten. Das können sehr kuriose Forderungen sein, die dann aber erbittert ausgefochten werden.
Stoßen da nicht unterschiedliche Interessen aufeinander? Die Gefangenen haben ja wahrscheinlich vor allem unmittelbare Bedürfnisse, während das IKRK langfristigere und grundsätzlichere Veränderungen anstrebt, die Strukturen auf Dauer auch in anderen Gefängnissen verbessern.
Das hängt davon ab, was die echten Bedürfnisse sind....
... und wer sie definiert.
Ja, richtig. Wir definieren sie zu einem gewissen Teil schon. Wir haben unsere Vorstellungen von menschlicher Würde. Es kann vorkommen, dass unser Verständnis davon nicht dem der Gefangenen entspricht. Das ist vielleicht ein bösartiges Beispiel, aber es kann vorkommen, dass eine Handlung eines Wärters für uns eine Misshandlung darstellt, für den Gefangenen aber eine ganz normale Geste. Das heißt, der Grad der Empfindung, was weh tut, kann sehr verschieden sein von einem Kulturkreis zu einem anderen. Obschon der Begriff der Verletzung da ist, aber die Reizschwelle liegt woanders als bei uns.
Eine körperliche Verletzung kann als weniger schlimm empfunden werden als eine Beleidigung?
Ja. Oder auch wenn man sagt, ein Gefängnis ist überbelegt. Wenn Leute auf einem Quadratmeter zu dritt liegen. Sicher ist das schlecht, aber es ist vielleicht nicht das Hauptproblem dieser Leute, während es für mich wahrscheinlich das Hauptproblem wäre. Da muss ich gucken, welche Probleme Vorrang haben sollen. Wo liegt die Schwierigkeit für die Gefangenen selbst? Und dann gehen wir Probleme an, die dem Gefangenen vielleicht gar nicht so bewusst sind, zum Beispiel Hygiene und Gesundheit. Da gibt es Auswirkungen, die der Gefangene in den Bereichen oder sogar die Behörden nicht kennen. Dann müssen wir auf Gesundheitsschutzmaßnahmen drängen, die vielleicht den Gefangenen nicht so wichtig erscheinen.
Haben Sie erlebt, dass Gefangene, die ihnen gegenüber Missstände preis gegeben haben, daraufhin gefoltert wurden?
Ich habe Gefangene getroffen, die uns gebeten haben, die Informationen aus unserem Gespräch zu verwenden und namentlich zu kennzeichnen. Obwohl sie sich der Gefahr bewusst waren, waren sie bereit, das Schweigen zu brechen. Ich habe erlebt, dass diese Gefangenen nachträglich aufgrund der Berichte bestraft wurden. Das ist geschehen. Wir haben daraufhin an höherer Stelle vorgesprochen und erwirkt, dass der Gefängniswärter zwar nicht inhaftiert, aber zumindest versetzt worden ist. Wir werden solche Informationen nur dann mit oder ohne Namen weiterleiten, wenn der Gefangene seine Einwilligung erteilt. Es ist auch vorgekommen, dass Gefangene bereit waren, dieses Risiko einzugehen, ich persönlich aber das Ganze anders formuliert habe. Weil ich Informationen hatte, die darauf hinwiesen, dass der Betreffende bestraft worden wäre. Da muss man abwägen.
Lassen Sie uns noch einmal auf den Zugang zu den Gefangenen zurückkommen. Ein Problem bei Ihren Verhandlungen wird doch sicher sein, dass es unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, welche Gefangenen unter Ihr Mandat fallen und welche nicht?
Genau. Das ist nicht immer einfach. In einem internationalen bewaffneten Konflikt ist die Frage meist schnell geregelt. In einem Bürgerkrieg oder sogar außerhalb eines Bürgerkrieges, wo das IKRK mit seinem Recht auf humanitäre Initiative Gefangenenbesuche vorschlägt, ist es oftmals schwierig, übereinstimmend mit einer Regierung festzustellen, welcher Häftling in den Interessensbereich der IKRK als schutzbedürftiger Gefangener fällt und welcher nicht. Wenn wir von Sicherheitsgefangenen sprechen oder von politischen Gefangenen, werden die anderen sagen: Das sind gemeine Straffällige, die gehen euch ja nichts an. Da braucht es von vornherein in den Verhandlungen eine klare Absprache.
Um vielleicht ein Beispiel aus früheren Zeiten zu schildern: In einem Fall ging es darum, erst einmal juristisch festzustellen, ob in dem Land überhaupt ein bewaffneter Konflikt im Gange war. Der Staatschef behauptete, dass kein Bürgerkrieg existiere; es gäbe nur terroristische Anschläge. Auf der anderen Seite sprachen Oppositionsgruppen von Befreiungskampf; von der Befreiung eines Landes, also vergleichbar mit einem internationalen bewaffneten Konflikt. Hätten wir die Version "bewaffneter Konflikt" übernommen, wären wir wahrscheinlich des Landes verwiesen worden. So waren wir fast gezwungen, keine juristische Qualifikation des Konflikts vorzunehmen. Folglich war die Möglichkeit, aufgrund des humanitären Völkerrechts und des IKRK-Mandats auszuhandeln, wen wir sehen wollen, sehr reduziert, und es kam nicht zu einer eigentlich gesunden Aktion.
Ihre Arbeit setzt also den guten Willen der anderen Seite voraus. Das heißt aber auch: Die schlimmsten Fälle bekommen Sie gar nicht zu sehen.
Das ist durchaus möglich. Wenn ein Staat überhaupt kein Interesse zeigt, humanitär einzulenken oder Menschenrechte zu befolgen, dann wäre eine IKRK-Präsenz wenig fruchtbar. Eine Regierung kann aber durchaus motiviert sein, das IKRK bei sich zu behalten, um der Staatengemeinschaft zu beweisen, dass sie humanitär engagiert ist - vielleicht ohne es wirklich zu sein.
Dann kommen Sie ja in eine schwierige Rolle, weil Sie als Aushängeschild missbraucht werden können.
Das ist eine mögliche Gefahr. Wenn tatsächlich in den Gefängnissen sehr Schlimmes geschehen sollte und wenn auf Dauer unsere Präsenz keine Verbesserung bringt, dann kommt der Punkt, wo das IKRK auch nicht weiter macht. Das kann soweit gehen, dass das IKRK vielleicht sogar der Öffentlichkeit bekannt gibt, dass wir eine Aktion unterbrechen. Zum Beispiel hat das IKRK während des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien der Öffentlichkeit humanitäre Missstände bekannt gemacht, weil wir zu keinem Erfolg gekommen waren. Das ist dann wirklich die Notbremse, wo wir uns unserer Schweigepflicht enthoben fühlen.
Warum zieht sich das IKRK nicht öfter mit entsprechendem öffentlichen Echo aus einem Land zurück, wenn die Machthaber Ihren Rat missachten?
Die Frage dabei ist, was bedeutet ein solcher Rückzug für die Gefangenen? Müssen sie dann nicht weitere Verschlechterungen fürchten? Dann gibt es noch andere Erwägungen: Gibt es neben den Gefangenen vielleicht weit größere Probleme für die Zivilbevölkerung? Gibt es Hungersnöte, die mit dem bewaffneten Konflikt zusammen schwersten Schaden anrichten? Da muss dann das IKRK abwägen: Wenn wir Gefangene sehen, aber nur die Hälfte, sollen wir uns dann zurückziehen, wenn gleichzeitig eine große Aktion läuft, um bedrohten Zivilisten Schutz zu bieten? Wir können nicht wegen einer Gruppe von zehn Gefangenen das Ganze abblasen. Hundertprozentige humanitäre Aktionen sind ja in der Regel schwierig zu erreichen.
Sie müssen also immer Kompromisse eingehen. Sie dürfen nicht Partei ergreifen. Sie müssen sich brav verhalten, damit Sie wiederkommen dürfen. Wo ziehen Sie die Grenze? Wo sind für Sie Prinzipien nicht mehr verhandelbar? Zum Beispiel stellt das IKRK Regeln auf, die bei der Inhaftierung von Kindern beachtet werden sollen. Warum beharren Sie nicht darauf: "Kinder dürfen nicht verhaftet werden; basta!"?
Es gibt Situationen, in denen man pragmatisch vorgehen sollte. Man muss akzeptieren, dass man nicht von heute auf morgen eine Situation umkehren kann. Von Bedeutung dabei ist, zu prüfen, ob wir einen Partner haben, der uns anhört. Können wir davon ausgehen, dass unsere Vorschläge mittelfristig angenommen werden? Dann kann das vielleicht schon ein Neubeginn sein. Nicht von heute auf morgen, aber mittelfristig kann eine Sensibilisierung innerhalb von Regierungsstellen oder im Parlament stattfinden. Es ist nicht so, dass wir das Böse akzeptieren. Aber es ist ein Prozess, bis sich Behörden ihrer Verantwortung bewusst werden und ihr Verhalten ändern. Also müssen wir überzeugen und möglichst breitfächrig innerhalb einer Machtstruktur unsere Botschaft verbreiten.
All das geht von formellen Machtstrukturen aus. In vielen Konflikten gibt es aber zunehmend informelle Gefangenenlager von Warlords oder Banditen. Haben Sie neue Strategien entwickelt, wie Sie vorgehen, wenn Sie nur mit solchen oft wechselnden Machthabern verhandeln können?
Wenn wir mit Warlords in Kontakt kommen, sind ihre Machtbereiche oftmals auch sehr strukturierte Gebilde - oft nicht einfach zu verstehen, aber Strukturen gibt es. Denn wenn ein Warlord versteht, was man sagt, und entsprechende Maßnahmen trifft, dann kann sich die Situation von heute auf morgen ändern. Dort, wo keine Struktur besteht, bei reiner Anarchie, ist es wahrscheinlich schon rein aus sicherheitstechnischen Überlegungen für uns äußerst schwierig, überhaupt tätig zu werden und als humanitäre Institution anerkannt zu werden.
Ist es denn schwieriger, solchen nichtstaatlichen Machthabern universelle Regeln nahe zu bringen?
Das kommt ganz drauf an. Es gibt Machthaber, die überhaupt keine Kenntnisse über diese Regeln haben. Solchen Anführern muss man etwas erzählen, von dem sie noch nie gehört haben. Andere wiederum sind extrem geneigt, von humanitären Organisationen umgeben zu sein, weil es für sie eine Art inoffizielle Anerkennung darstellt. Man lädt das IKRK ein und bietet ihm Möglichkeiten, sein Mandat zu erfüllen. Es kann also sein, dass diese Gruppierungen manchmal viel effizienter mit uns zusammenarbeiten als ein Staat, der von uns weniger erwartet.
Können Sie sich solchen Zugang manchmal auch mit Reis und Medikamenten erkaufen?
Das spielt eine völlig untergeordnete Rolle. Es geht ja nicht darum, dass wir aufgrund von ein paar Reissäcken Zugang kriegen. Das wäre Selbstbetrug. Wichtig ist die Transparenz gegenüber den Behörden, dass sie wissen, was wir ihnen und was wir den Gefangenen bringen. Eine Kaufaktion würde sie vielleicht während eines Monats oder ein Jahr hinhalten, aber dann fehlt anschließend doch die Bereitschaft, auf die Probleme einzugehen.
Und Ihre perönlichen Empfindungen bei dieser Arbeit? Ist es nicht schwierig, sich immer völlig zurückhalten zu müssen, der neutrale Beobachter sein zu müssen, ohne eigenes Engagement?
Der Grund, weshalb ich diese Arbeit so gelassen tun kann, sind gerade die Arbeits-prinzipien, die Methode des IKRK: in Krisengebieten mit sämtlichen Akteuren in Kontakt zu stehen - und eben die Neutralität. Das ist für mich ein Gerüst, das es mir erlaubt, langfristig zu arbeiten in eine Richtung, die, wie ich hoffe, meistens sinnvoll ist. Natürlich gibt es auch Rückschläge, wo unsere Geduld sehr strapaziert wird. Natürlich haben wir manchmal auch Emotionen, die wir für uns behalten müssen.
Wie schaffen Sie es, mit einem Folterer Tee zu trinken und nett zu plaudern?
Es gibt doch nichts Motivierenderes als Probleme da, wo sie eben sind, angehen zu können. Jeder, ob schlecht oder gut, bleibt ein Mensch und ist ein ansprechbarer Partner. Wenn man mit einem Gefängnisdirektor spricht, von dem man weiß, dass er seine Gefangenen misshandelt, ist das vielleicht nicht einfach. Aber auf der anderen Seite ist es unwahrscheinlich herausfordernd, mit einem solchen Mann überhaupt über seine Arbeit sprechen zu können und einen Dialog zu entwickeln, der vielleicht dazu führt, dass er seine Methoden hinterfragt. Vielleicht kommt es nicht so weit. Aber vielleicht hat man dann stattdessen mit einem Bericht an ein Ministerium einen gewissen Erfolg. Es ist schon vorgekommen, dass wir Gefängnisdirektoren oder Wärter anschließend als Gefangene besucht haben, weil vorgesetzte Behörden eingeschritten waren. Das zeigt doch auch, dass durch Dialog, durch Berichterstattung - vertraulich behandelt -, gewisse Korrekturen stattfinden.
aus: der überblick 01/2000, Seite 66