Was bestimmt die Identität der zentralasiatischen Republiken?
Dschingis Khan, Mohammed und Stalin haben Zentralasien geprägt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mussten die Menschen dort in ihren unabhängig gewordenen Staaten auch eine eigene kollektive Identität finden. Dabei wurde das historische Erbe ganz unterschiedlich benutzt.
von Paul Georg Geiß
Bachtior Mamurov (Name von der Redaktion geändert) stammt aus einer angesehenen Familie ethnischer Usbeken. Sein Großvater mütterlicherseits war ein wohlhabender Geschäftsmann, der in der vorrevolutionären Zeit Möbel aus Paris importierte. Sein Großvater väterlicherseits war ein einflussreicher Sufi-Lehrer, der in seinem Leben zweimal auf Hadsch nach Mekka gehen konnte. Bachtior selbst konnte die modernen Bildungseinrichtungen der Sowjetunion besuchen und Diplome einer pädagogischen, einer technischen und einer Pilotenfachschule erwerben. Im Zweiten Weltkrieg diente er in der sowjetischen Luftwaffen, wurde verwundet und kehrte als Lehrer in seine Heimatstadt Kokand zurück. Bis zu seiner Pensionierung war er in verschiedenen Bildungs- und Verwaltungsinstitutionen tätig und in das gesellschaftliche Leben der usbekischen Provinzstadt eingebunden. Heute lebt der über 70-Jährige mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter dort in einem aus der Sowjetzeit stammenden Haus. Die glorreiche Vergangenheit des Ortes er war vor der russischen Eroberung im 19. Jahrhundert Hauptstadt des gleichnamigen Khanats im Ferghana-Tal lassen nur noch die Überreste des Khanpalastes im ehemaligen Vergnügungspark der Sowjetzeit erahnen.
Die Unabhängigkeit Usbekistans betrachtet der alte Mann mit Verbitterung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetwirtschaft gehört er nicht nur zur verarmten Bevölkerungsschicht der Rentner, sondern fühlt sich auch an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die flächendeckende staatliche Wiederbelebung der traditionellen Nachbarschaftsgemeinde (Mahalla) und der damit verbundenen usbekischen Werte und Lebensstile ließen den sozialen Status der europäischen Usbeken als ehemals sowjetische Bildungselite verblassen.
Bachtior kann der zunehmenden Usbekisierung der Gesellschaft wenig abgewinnen. Er selbst spricht kaum usbekisch und lebte mit Russen, Armeniern und Juden in europäischen Wohnvierteln. Das von ihm geschätzte sowjetisch-europäische Kulturleben der Stadt mit seinen Konzerten, Ausstellungen und Vergnügungen gehört seit den neunziger Jahren der Vergangenheit an. Wie auch aus den anderen zentralasiatischen Republiken emigrierte ein Großteil der europäischen Bevölkerung nach Russland, Israel oder Amerika. Sie sahen infolge der Nationalisierung von Staat und Gesellschaft keine Zukunft für ihre Kinder mehr. Neue Sprachgesetze führten nicht nur zur Umbenennung der russisch-sowjetischen Straßen- und Ortsnamen. Sie verstärkten ebenfalls den Einsatz der Sprachen, die zu den neuen Nationalsprachen gekürt worden waren, in den Bildungs- und Verwaltungseinrichtungen und machten den Bildungserwerb von guten Kenntnissen dieser Sprachen abhängig.
Das Mahalla-Gesetz von 1993 verankerte die traditionelle Nachbarschaftsgemeinde als staatliche Selbstverwaltungseinheit, der ein gewählter Aksakal (Weißbart) vorsteht und die staatliches Kinder- und Armengeld verwaltet. Dadurch entstanden auch in den sowjetischen Wohnblockvierteln Mahalla-Komitees. Sie propagieren ihre patriarchalischen Werte und versuchen die soziale Kontrolle auf alle Mitbewohner eines Wohnviertels auszudehnen. Da viele Landbewohner in die freigewordenen Wohnungen der Europäer einzogen, gab es auch neue Kristallisationspunkte für dieses usbekische Mahalla-Leben.
Das hat vor allem auf die Frauen Auswirkungen. Usbekische Mädchen werden wieder zu Haus- und Ehefrauen erzogen, deren Lebensmittelpunkt sich in den nach außen abgeschirmten Innenhöfen der ebenerdigen Einfamilienhäuser befindet. Viele Mädchen besuchen keine weiterführenden Schulen mehr, sondern werden früh verheiratet, um unter der Aufsicht und Anleitung ihrer Schwiegermütter gute Ehefrauen und Mütter zu werden. Bildung gilt dabei als Handicap. Das trifft vor allem Töchter aus europäisierten Familien schwer, da sie wegen ihrer mangelnden Kenntnisse der Benimmregeln des Mahalla-Lebens als Bräute wenig begehrt sind. Alleinstehende berufstätige Frauen werden zunehmend als anstößig und unanständig angesehen.
Bachtior begegnet dieser Mahallisierung mit Misstrauen und Distanz. Seine gesellschaftliche Ausgrenzung bringt er selbstironisch auf den Punkt, wenn er sich als eine sowjetische Missgeburt bezeichnet, für die es keinen Platz im unabhängigen Usbekistan mehr gibt. Damit macht er zugleich deutlich, dass sein Land einen starken Trennstrich zur sowjetischen Vergangenheit gezogen hat. Dadurch wurden europäisierte Lebensweisen zurückgedrängt.
Auch in den anderen zentralasiatischen Staaten ist das ähnlich. Im Gegensatz zum südlichen Kaukasus, wo sich vor der Sowjetisierung nationale Bewegungen bildeten, war im Zentralasien das nationale Prinzip weitgehend unbekannt. Vor der zaristischen Eroberung Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Steppe, Wüsten und ein Teil der Gebirgstäler von Stammesgesellschaften besiedelt. Das tribale Gewohnheitsrecht regelte den Alltag, Stammesführer oder Ältestenräte galten als Konflikt- und Streitschlichter. In den Flussoasen hingegen lebte die Bevölkerung nach dem islamischen Recht, der Scharia. Sie erkannten den Emir von Buchara oder die Khane von Kokand und Chiwa so heißen die Städte noch im heutigen Usbekistan als Herrscher an. In den islamischen Patrimonialstaaten galt ihnen und ihren Provinzstatthaltern, den Begs, die politische Loyalität.
Als in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die zaristische Militärverwaltung eingeführt und die ganze Region administrativ in Gebiete und Bezirke aufgeteilt wurde, lösten sich die Horden und Stammeskonföderationen in kleinere Einheiten auf. Sie konkurrierten innerhalb der neuen Grenzen um die besten Winter- und Sommerweidegebiete. Sie waren dabei auf gute Beziehungen mit dem russischen Verwaltungspersonal angewiesen. Auch in den Flussoasen übernahm die Militärverwaltung die politische Kontrolle, sodass Stammesführer und Begs politisch entmachtet wurden. Die auf diese Weise entstandenen Generalgouvernements Turkestan und Steppe sowie die russischen Protektorate Buchara und Chiwa waren sprachlich-kulturell heterogene Staatsgebilde. Nach der Oktoberrevolution wurden sie durch den Einmarsch der Roten Armee sowjetisiert.
Im Gegensatz zu den anderen Republiken der Sowjetunion wurde das russische Zentralasien 1924 administrativ neu geordnet. Gemäß Lenins Grundsatz national in der Form, sozialistisch im Inhalt wurden neue Territorialeinheiten geschaffen, die sprachlich-kulturell möglichst homogene Siedlungsgebiete zusammenfassen sollten. Diese Aufteilung war schwierig, da viele Gebiete bilingual oder gemischtsprachig waren und Nationalität eine bisher in der Region unbekannte Kategorie kollektiver Identität war. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass viele Zentralasiaten zur Zeit der nationalen Teilung keine Angaben über ihre Nationalität machen konnten.
Obwohl die Schaffung von ethnisch möglichst homogenen Verwaltungseinheiten in mehrsprachigen Gebieten nicht ohne Willkür erfolgen kann, berücksichtigten die neuen Verwaltungsgrenzen im Gegensatz zu den Kolonialgrenzen Afrikas die ethnische Struktur der Siedlungsgebiete. Die sowjetische Sprach- und Bildungspolitik der 1920er und 1930er Jahre verlieh der anfänglich relativ künstlichen Neuordnung ein beständigeres Profil. Durch die selektive Förderung und Vereinigung von Lokaldialekten dominanter Bevölkerungsgruppen wurde für jede Republik eine Schriftsprache geschaffen, die landesweit als Unterrichts- und Verwaltungssprache verwendet wurde. Die Einrichtung eines flächendeckenden Pflichtschulwesens auf der Basis dieser gesprochenen Schriftsprachen, eine ehrgeizige Alphabetisierungskampagne, die Verbreitung von Printmedien und die Schaffung von kulturellen Einrichtungen konsolidierten die Sowjetrepubliken, die durch die jeweils bedeutendste Volksgruppe geprägt waren und nach der Unabhängigkeit von ihr das Nationalbild erhalten hatten (Titularnationen). Diese Politik ermöglichte der Sowjetmacht, die Bevölkerung für den Aufbau des Sozialismus zu gewinnen und landeseigene Führungskader aufzubauen.
Dieser Mobilisierungsprozess ging in den 1930er Jahren mit der Zwangsansiedlung von Nomaden, der Kollektivierung der Landwirtschaft und dem Aufbau einer Schwerindustrie einher. Ein Großteil der traditionellen Eliten wie Mullahs, Begs und wohlhabende Bauern diese wurden als Kulaken bezeichnet fiel dabei den Säuberungen durch Stalin zum Opfer. Mit dem Kriegseintritt der Sowjetunion und Stalins nationaler Wende wurde diese Politik der Förderung von Ethnizität durch eine verstärkte Russifizierungspolitik abgelöst, die erst am Ende der 1980er Jahre mit dem Zerfall der Sowjetmacht zurückgenommen wurde.
Der politische Regionalismus und Klientelismus hat zwar starke subnationale Identitäten in der Region verankert, die wie im tadschikischen Bürgerkrieg von 1992 auch die staatliche Einheit gefährden konnten. Jedoch brachte die sowjetische Nationalitätenpolitik ein beachtliches Ausmaß an nationalem Bewusstsein hervor. In allen unabhängig gewordenen Republiken übernahmen die Titularnationalitäten die Rolle als staatstragende Bevölkerung. Da sie nur zwischen 40 Prozent (Kasachstan) und 72 Prozent (Usbekistan) der Republikbevölkerung stellten, bemühten sich die zentralasiatischen Präsidenten darum, eine politische Identität zu propagieren. Dazu diente auch die Einbindung ethnischer Minderheiten als Staatsbürger und in ein Schulsystem, das mehr und mehr in der Sprache der Titularnationalität unterrichtete. Aufgrund der Migrationsprozesse und der Assimilierungspolitik erhöhte sich in den 15 Jahren der Unabhängigkeit der Anteil der Titularnationalität auf über 52 Prozent in Kasachstan, beziehungsweise 80 Prozent in Usbekistan.
Der Zusammenbruch des Kommunismus als Herrschaftsordnung und die Unabhängigkeit am Anfang der 1990er Jahre führten in allen zentralasiatischen Republiken zu konkurrierenden neuen Deutungen der nationalen kollektiven Identität: Sollte sie stärker säkular oder islamisch geprägt sein? War das sowjetisch-europäische Erbe ein Teil dieser Identität, oder sollten vielmehr die Werte und Normen der traditionellen Gesellschaft als nationales Erbe wiederbelebt werden?
Usbekistan entschied sich - wie die Geschichte von Bachtior zeigt - für eine Retraditionalisierung des gesellschaftlichen Lebens und propagiert die patriarchalischen Werte der usbekischen Mahalla und ein säkulares Islamverständnis. Daraufhin werden sowohl die europäisierten Usbeken wie auch die stärker islamisch orientierte Bevölkerung gesellschaftlich ausgegrenzt. In Tadschikistan entzündete sich der Bürgerkrieg am Streit zwischen Befürwortern und Gegnern der Demontage von Leninstatuen in der Hauptstadt und an der Frage der Rolle des Islam im unabhängigen Staat.
Die letztlich erfolgreiche Regierungspartei setzte ein säkulares Staatsverständnis durch, drängte die im Friedensprozess offiziell anerkannte tadschikische Partei der Islamischen Wiedergeburt an den gesellschaftlichen Rand und bemühte sich darum, das vorislamische persisch-zoroastrische Erbe (der von Zarathustra gegründeten monotheistischen Theologie) für die junge Nation zu erschließen. Turkmenistan hingegen steht ganz im Bann des Präsidenten Turkmenbaschi und der ihm angeblich von Allah offenbarten Ruhnama, eines turkmenisch Sittenkodexes und geistigen Vermächtnisses. Das Buch beschreibt die Nationalgeschichte des 5000-jährigen turkmenischen Volkes und reglementiert das gute turkmenische Leben bis hin zu Kleidungsvorschriften für Mädchen. An allen Schulen und Hochschulen wurde Ruhnama ein verpflichtendes Unterrichtsfach, welches nun viele europäisierte Turkmenen mit den nationalen Sitten und Gebräuchen ihrer Väter Bekanntschaft schließen lässt.
Einzig in Kirgisistan und Kasachstan hält sich die Retraditionalisierung der Gesellschaft in Grenzen. Zwar erlangten auch dort die Titularsprachen eine größere Bedeutung und die europäisch-russischen Städte wurden durch den Zuzug von Landbevölkerung viel kirgisischer oder kasachischer. Jedoch bildeten sich dort keine Nachbarschaftsgemeinden, welche die Stadtbevölkerung einer sozialen Kontrolle unterworfen hätten. Modebewusste europäisch gekleidete Kirgisinnen und Kasachinnen verteidigen die Errungenschaften der sowjetischen Emanzipation, sind berufstätig und nicht selten geschieden oder unverheiratet. Die Europäisierung der Kasachen und Kirgisen erfolgte auch viel nachhaltiger. Diese ehemaligen Stammesgesellschaften verfügten in der vorsowjetischen Zeit über keine eigene Schriftkultur. Europäische Lebensweisen verankerten sich daher über die Alphabetisierung viel stärker in der Gesellschaft, als dies in den südlichen Flussoasen der Fall war. Dort waren in der vorrevolutionären Zeit die Vorfahren der Usbeken und Tadschiken in einer islamisch geprägten Schriftkultur verwurzelt.
Aus diesem Grund ist der Blick aus Almaty oder Bischkek nach Moskau oder Europa ein anderer als etwa aus Duschanbe oder Taschkent, wo die politischen Eliten den Modellcharakter der westlichen Demokratie und europäischen Kultur viel skeptischer beurteilen. Der alte Usbeke Bachtior hat die neue Sichtweise nicht übernommen. Das macht ihn zum Opfer staatlicher Identitätspolitik.
aus: der überblick 01/2006, Seite 28
AUTOR(EN):
Paul Georg Geiß
Dr. Paul Georg Geiß ist Lektor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.