"Ich kann sagen, was ich will"
Nadine Gordimer, J.M. Coetzee, André Brink - es sind die weißen, apartheid-kritischen Schriftsteller, die Südafrikas mehrfach preisgekrönte und international geschätzte Literatur weltweit bekannt gemacht haben. Nach 1990 erblühte jedoch eine Literaturszene, deren oftmals junge Autoren aller Hautfarben längst nicht mehr nur Konflikte zwischen Schwarz und Weiß zum Thema haben. Viele Autoren finden dabei neue Wege, mit der Vergangenheit umzugehen.
von Ann Kathrin Sost
Es ist kein angenehmer Ort für eine Lesung. Eine Handvoll junger Leute hat in den heruntergekommenen Johannesburger Stadtteil Hillbrow gefunden, der als einer der gefährlichsten in Südafrika gilt. In einem kleinen Raum, jenseits der überfüllten Straßen, auf denen heimatlose Kinder im Drogenrausch zu schlafen versuchen, Prostituierte und Drogenhändler ihren Geschäften nachgehen, lauscht das Publikum dem 32- jährigen Schriftsteller Phaswane Mpe. Sein Buch "Welcome to our Hillbrow" (Willkommen in unserem Hillbrow) ist halb Liebeserklärung an diesen chaotischen und grausamen Ort, halb Beschreibung der alptraumhaften Talfahrt, die das Leben eines jungen Mannes aus dem kleinen Dorf Tiragalong im Norden Südafrikas in Johannesburg nimmt.
"Plötzlich wachtest du schaudernd auf", liest Mpe. "Du versuchtest Dich zu überzeugen, dass das Geräusch, dass du eben gehört hattest, ein Traum, ein Alptraum war; aber in deinem wachen Zustand kamen die knallharten Realitäten zurück ... Ein zweiter Schuss hallte durch die Twist-Straße ... Eine Frau schrie nach Hilfe. Polizeisirenen dröhnten los. Wenige Minuten später, als der Lärm verebbte, wurde dir klar, dass sie jemand anderes retten würden, anderswo, und nicht die nahebei schreiende Seele, deren Stimme weiterhin unbarmherzig kreischte."
Es sind die dunklen Seiten des heutigen Südafrika, die Mpe in seinem Buch beschreibt. Es geht um Gewalt, Aids, Hexenglauben und Fremdenfeindlichkeit. Mit der Apartheid, dem bisher alles bestimmenden Thema südafrikanischer Literatur, hat das alles nicht mehr viel zu tun. "Die Welt ist heute komplizierter als einfach nur schwarz und weiß", sagt Mpe. "Wir sind jetzt freier. Wir trauen uns, mit Themen umzugehen, die während der Apartheid als irrelevant gegolten hätten."
Worüber schreibt ihr noch, in einer freien Gesellschaft? Eine Frage, die sich offenbar jeder südafrikanische Autor anhören muss. Den meisten scheint sie absurd. "Da gibt es diese Idee, dass Kreativität aus dem sozialen Konflikt geboren wird, in dem Sinne, das Unterdrückte besser schreiben", sagte Nadine Gordimer gegenüber dem US-Onlinemagazin Atlantic Unbound. "Ich halte das für ein sehr zweifelhaftes Urteil ... Was meine Erfahrung angeht sehr viel, das zu Zeiten der Apartheid geschrieben wurde ... war nicht mehr als Propaganda." Heute eröffneten sich für Schriftsteller neue, spannende Themen. "Was passiert jetzt? Was passiert in den Leben der Menschen? Wie viel Veränderung? Das ist alles faszinierend."
Zu den viel gelobten jungen Autoren, bei denen Apartheid nur noch mittelbar eine Rolle spielt, gehört neben Mpe auch der 29-jährige K. Sello Duiker, der in diesem Sommer ein Stipendium der Sylter Kultur-Quelle hatte. Sein Erstling "Thirteen Cents" (Dreizehn Cent), der das Leben eines Straßenjungen in Kapstadt beschreibt, erhielt 2001 den Commonwealth-Autorenpreis für das beste schriftstellerische Debüt. In seinem zweiten Buch "The Quiet Violence of Dreams" (Die leise Gewalt der Träume) lässt Duiker einen schwarzen jungen Mann gegen seine Geisteskrankheit ankämpfen. Ausgerechnet als Prostituierter findet er schließlich inneren Frieden. "Wir sind normale Leute mit Gefühlen und Wünschen und all dem Drama, das mit dem Versuch einhergeht, ein normales Leben zu leben", beschreibt Duiker die Situation seiner Altersgenossen. "Die schwarzen Autoren, die es vor mir gab, mussten über all die Ungerechtigkeit schreiben. Ich kann sagen, was ich will. Ich bin frei."
Doch nicht einmal zehn Jahre nach den ersten freien Wahlen ist das Thema Apartheid am Kap noch lange nicht vorbei. Es sind nur die ganz jungen sowie die alteingesessenen Literatur-Ikonen wie Gordimer, die sich von diesem Thema mittlerweile freimachen. Für die meisten bestimmt die Aufarbeitung des Geschehenen, das einen Großteil ihres Lebens geprägt hat, immer noch die Arbeit.
Literaturwissenschaftler entdecken bei südafrikanischen Autoren die Neigung, auf neue und kreativere Weise mit alten Themen umzugehen. Flora Veit-Wild, Professorin für afrikanische Literatur an der Berliner Humboldt-Universität, nennt den jetzigen Prozess eine "Um-Schreibung der südafrikanischen Literaturgeschichte".
In den siebziger und achtziger Jahren sei noch die so genannte Soweto-Literatur in voller Blüte gewesen, sagt sie: Bücher, in denen Kunst vor allem als Mittel zum Protest genutzt wurde, und literarische Qualität oft zugunsten von starken Schematisierungen auf der Strecke blieb eben Propaganda-Lektüre, wie Gordimer sie bezeichnet. Heute dagegen finden viele Autoren zu neuen, oft weniger realistischen Stilen und zur Erforschung individueller Schicksale unter dem rassistischen Regime.
Eine unerschöpfliche Vorlage für diesen neuen Umgang mit der Vergangenheit liefert die Wahrheits- und Versöhnungskommission. Was sie aufdeckte, gilt vielen Autoren als hoch konzentriertes Spiegelbild einer zerrütteten Gesellschaft. Dabei rückt ein Thema in den Vordergrund, das über den südafrikanischen Kontext hinaus weltweite Bedeutung hat: Die Suche nach der Wahrheit.
Im Roman "Bitter Fruit" (Bittere Frucht) des 55-jährigen Achmat Dangor trifft der ehemalige Untergrundaktivist und jetzt hochrangige Mitarbeiter im Justizministerium Silas Ali im Supermarkt auf einen weißen Ex-Polizisten, der vor 20 Jahren seine Frau vergewaltigt hat. Für Ali kein großes Thema mehr seine Frau jedoch bringt sich selbst Wunden bei, als sie von diesem Treffen hört. Und während Silas sich im Justizministerium mit dem offiziellen Bericht der Wahrheitskommission beschäftigt, erforscht sein 19- jähriger Sohn zuhause die persönliche Apartheidsgeschichte der Familie. Im Tagebuch seiner Mutter liest er, dass er selbst das Ergebnis der damaligen Vergewaltigung sei die "bittere Frucht", von der der Buchtitel spricht.
Dangor geht die schmerzhafte Aufarbeitung der Vergangenheit in Südafrika mit viel Ironie an ebenfalls ein neuer Zug in der Literatur nach der Apartheid, der vorher so nicht denkbar war. "Wir müssen jetzt lernen, wie man normal wird", lässt Dangor eine Protagonistin sagen. "Lernen, wie wir uns selbst und andere belügen, wenn das heißt, dass wir den Frieden erhalten können, Misstöne vermeiden und so leben, wie jedes andere Volk irgendwo auf der Welt." Eine sarkastische Absage an die Wahrheit, wenn sie scheinbar dem Fortkommen der Gesellschaft nicht nützt. "Der Schmerz und die Wut über die Vergangenheit sind noch vorhanden", sagt Dangor. Doch mit dem Ende der Unterdrückung könne diese von Schriftstellern besser genutzt werden: "Was aus der Wut entstand, ist eine sehr poetische Form des Protests. Ich finde, dass unsere Wut mittlerweile von Kreativität gemildert wird."
Ähnlich kompliziert wie bei Dangor gestaltet sich Wahrheit für die Autorin Gillian Slovo, Tochter des Untergrundaktivisten und Kommunistenführers Joe Slovo und der Anti-Apartheid-Journalistin Ruth First, die 1982 ermordet wurde. In ihrem Roman "Red Dust" (auf deutsch erschienen unter dem Titel "Roter Staub") lässt sie einen weißen Täter und sein schwarzes Opfer bei der Wahrheitskommission zusammentreffen (vergl. Rezension in "der überblick" 2/2002). Die "Wahrheit" erscheint dem Opfer schließlich gefährlicher als das Schweigen: Denn er hat unter Folter jemanden verraten. Als nunmehr hochrangiger ANC-Parlamentarier könnte sein Image dadurch leiden. "Das ist es, was die Zukunft für mich bereithält, dachte er. Menschen, die wissen wollen ..., ob mein Verrat bei Steves Tod endete. Eine Frage, die einzige Frage. Eine, die er ehrlich nicht beantworten konnte, weil er es nicht wusste."
Einer der, um mit Dangor zu sprechen, kreativsten poetischen Protestler unter südafrikanischen neuen Autoren ist Zakes Mda, dessen Bücher mittlerweile international Beachtung finden. Der 54-Jährige, der mit leichter Hand und dennoch bissiger Satire das neue und alte Südafrika beschreibt, wird oft mit Gabriel García Marquez verglichen. Zuletzt schrieb er in seinem Buch "The Madonna of Excelsior" (Die Madonna aus Holzwolle) über einen realen Fall aus den siebziger Jahren, bei dem eine Reihe von Kleinstädtern, darunter der Bürgermeister und der Pfarrer, wegen Affären mit schwarzen Frauen angeklagt wurden unter den strikten Rassengesetzen verboten. "Die Sünden unserer Mütter verursachten wundervolle Umwälzungen im Land", konstatiert Mda genüsslich, während er beschreibt, wie der Fall weltweit Schlagzeilen machte und die Regierung wanken ließ.
In seinem Buch "The Heart of Redness" (Das Herz der Röte) aus dem Jahr 2000 bedenkt Mda auch die neuen Entwicklungen in Südafrika mit viel Ironie. Materialismus ergreift manchen Dorfbewohner in seinem Buch so sehr, dass er seine Kinder nach Handys und Satellitenschüsseln benennt. Mda kritisiert auch die neue Vetternwirtschaft, in der die herrschende Elite und ihre Familien die besten Positionen besetzen. "Gesell dich zu den Aristokraten der Revolution" rät ein Regierungsmitglied einem Südafrikaner, der keinen Job findet. "Ich bin sicher, wenn Du es nur genug versuchst, kannst du dich qualifizieren. Natürlich wirst du am Anfang zum Club der Speichellecker der Aristokraten der Revolution gehören..."
All diese Bücher könnten Südafrikas Bevölkerung bei ihrer mühevollen Suche nach sich selbst in der neuen Gesellschaft behilflich sein. Doch so viel südafrikanische Autoren auch zur Aufarbeitung der Vergangenheit und Beschreibung aktueller Probleme beitragen könnten: Literatur findet weitgehend unter Ausschluss der heimischen Öffentlichkeit statt. "Südafrika ist nicht gerade wild auf Romane", sagt Shaun de Waal, Literaturchef bei der renommierten Wochenzeitung Mail and Guardian. Die wenigsten könnten Geld für ein Taschenbuch ausgeben, das im Durchschnitt 100 Rand (rund 12 Euro) kostet. Und wer es kann, greift höchstens zu einem britischen oder US-amerikanischen Bestseller oder einem Sachbuch.
"Seit 1994 herrscht hier das goldene Zeitalter des Sachbuchs", sagt de Waal. "Nelson Mandelas Biographie "Long Walk To Freedom" (auf deutsch erschienen unter dem Titel Der lange Weg zur Freiheit) war der größte Bestseller, den wir je hatten. Und das sagt nicht nur etwas darüber aus, wie beliebt unser erster demokratischer Präsident ist." Mit der Vergangenheit wollten sich Südafrikaner schon beschäftigen aber bitte nicht auf künstlerische Art und Weise. Denn jedem Roman, der sich mit Apartheid befasst, hafte der Ruch der ungeliebten Protestkunst an. Eine Ausnahme sei nur "Disgrace" (auf deutsch erschienen unter dem Titel Schande) von J.M. Coetzee, wofür er 1999 den Booker-Preis bekam. Das Buch des Autors, der den Literaturnobelpreis 2003 gewann, aber von Präsident Mbeki eher als Unperson betrachtet wird (siehe den Artikel von R. W. Johnson in diesem Heft), habe in Südafrika mittlerweile eine sechsstellige Auflage aber nur, weil es in Schulen verteilt worden sei. "Nadine Gordimer kann hier dagegen selten mehr als 1000 gebundene Ausgaben von einem ihrer Bücher verkaufen", so de Waal.
Also bleibt das Ausland der größte Abnehmer für südafrikanische Literatur. Hier verkauften sich die meist ohnehin außerhalb Afrikas verlegten Bücher großer Autoren wie Coetzee und Gordimer im Vergleich zu ihrem Herkunftsland blendend. Ein bisschen pessimistisch müssten die Werke jedoch sein, um Anklang zu finden. Für eine Alltagsliteratur, wie sie in Südafrika oft gefordert werde, sei kein Markt vorhanden, vermutet de Waal. Das zeigten zum Beispiel die Nominierungen für den diesjährigen Booker-Preis. Das nominierte Buch "The Good Doctor" (Der gute Doktor) des Südafrikaners Damon Galgut gilt vielen Kritikern in seinem Land als zu freudlos und schwarzmalerisch. Ähnliche Kritik erhielt auch Coetzees "Schande", in dem eine junge weiße Frau ihre Vergewaltigung durch eine Gruppe Schwarzer quasi als Sühneopfer für begangene Untaten der Weißen empfindet.
Für de Waal ein gutes Beispiel für Literatur, wie sie nicht-afrikanische Leser aus dem Kontinent erwarten. "Man könnte die Begeisterung für diese Bücher als 'Herz der Finsternis-Syndrom' bezeichnen", sagt er. Eine Anspielung auf Joseph Conrads gleichnamiges Buch "Heart of Darkness", das bei vielen oft als Synonym für das finstere, grausame Afrika herhält. Gerade davon können und wollen die meisten Afrikaner aber nichts mehr hören.
Doch Alltagsliteratur wollen südafrikanische Verlage auch in Zukunft nicht in großem Stil finanzieren. Ohne eine Lesekultur sei in Südafrika mit Fiktion kein Geld zu machen, heißt es unisono. Die könne aber nicht geschaffen werden, wenn immer mehr Bibliotheken aus Geldmangel schließen müssten und in den Township-Schulen wie zu Apartheid-Zeiten vor allem "nützliche Sachbücher" stünden. Noch schlechter steht es um Bücher in anderen südafrikanischen Sprachen, die wegen der geringen Kaufkraft überhaupt keinen Markt finden. Lediglich afrikaanssprachige Bücher können sich einer gleich bleibenden kleinen Leserschar erfreuen.
Viele Bücherfans hoffen nun auf 2005. Mit Unterstützung der Frankfurter Buchmesse plant der südafrikanische Verlegerverband dann am Kap die größte internationale Buchmesse, die es bisher in Afrika gegeben hat. Damit bestünde auch eine große Chance für südafrikanische Literatur, die heimische Öffentlichkeit zu gewinnen.
An der Krise der südafrikanischen Verlage zeigt sich auch, warum sich im literarisch erfolgreichsten afrikanischen Land nach wie vor verhältnismäßig wenige junge schwarze Autoren einen Namen machen können. "Es gibt viele davon, aber es ist schwer, veröffentlicht zu werden", sagt "Welcome to our Hillbrow"-Autor Mpe. "Es kann drei bis fünf Jahre dauern, bis du dein Buch gedruckt siehst, wenn du Glück hast. Manchmal auch zehn. Bis dahin bist du schon wieder ein alter schwarzer Autor." Viele talentierte Schreiber zieht es deshalb in den Journalismus oder in die Werbeindustrie, wo ihnen ein geregeltes Einkommen sicher ist.
Andere schaffen sich abseits des finanziellen Erfolges eine Nische in der Off-Kultur, die zunehmend erfolgreicher wird. Ein Blick zurück nach Hillbrow: Im Kunstzentrum Windybrow, einer skurrilen Fachwerk-Oase inmitten des verfallenden Viertels, treffen sich jeden Mittwoch junge Südafrikaner zum Poetry Slam. Hier mischen sie vor begeistertem Publikum HipHop mit Sprechgesang auf Sotho, Gesellschaftskritik mit Liebesgedichten. Und manche werden auch berühmt: So Lesego Rampolokeng, der im Rap-Stil und im Slang der Townships weltweit seine knallharten Gedichte vorträgt. Oder die erst 24-jährige Lebogang Mashile, die ihre Texte oft ins Publikum hinausschreit und nun gemeinsam mit der deutschen Journalistin Jana Simon an einem Theaterstück schreibt.
Mag es mit der Lesekultur auch noch dauern: Eine Dichtkultur hat Südafrika bereits.
Afrikas 100 beste BücherVisionen erhaltenDer Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Ali Mazrui aus Kenia, der als einer der führenden Akademiker des Kontinents gilt, sagt: "Afrikas Bücher führen selbst zuhause eine Randexistenz. Und das, obwohl Afrika drei Literaturnobelpreisträger vorweisen kann: Nadine Gordimer aus Südafrika, Wole Soyinka aus Nigeria und Naguib Mahfouz aus Ägypten." Mazrui beschloss deshalb, afrikanische Schriftsteller innerhalb und außerhalb des Kontinents bekannter zu machen. Zusammen mit einer 17-köpfigen Jury von Wissenschaftlern und Autoren aus Afrika und Europa stellte er 2002 eine Liste mit Afrikas 100 besten Büchern des 20. Jahrhunderts zusammen. Vorausgegangen waren zwei Jahre Arbeit und heftige Diskussionen der Jury-Mitglieder. Die Bücher wurden in die Kategorien Kinderliteratur, kreatives Schreiben und Sachbuch aufgeteilt. Nominiert werden durfte jeder, der in Afrika geboren ist oder die Staatsbürgerschaft eines afrikanischen Landes besitzt. In der Auswahl finden sich nun unter anderem ein Werk des Nigerianers Chinua Achebe, der 2002 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat, sowie Bücher der genannten Nobelpreisträger. Rund 20 Prozent der Werke stammen aus südafrikanischer Feder. Einen Sonderpreis erhielt Nelson Mandela, der mit seiner Biographie "Long Walk To Freedom" (auf deutsch erschienen unter dem Titel: Der lange Weg zur Freiheit) ebenfalls einen Platz unter den besten 100 Büchern Afrikas bekam. "Afrikas Schriftsteller haben uns durch alle Zeiten hindurch geholfen, unsere Visionen zu erhalten", sagt der Schirmherr der Aktion, Kapstadts früherer Erzbischof Desmond Tutu. Dies soll auch weiter so bleiben: In vielen Ländern, so auch in Südafrika, haben Schüler nun die Möglichkeit, kostenlos Exemplare aus dem afrikanischen Bücher-Kanon zu bekommen und im Unterricht zu besprechen. Doch das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, weiß auch Jury-Vorstand Mazrui. Für die Mehrheit der Bewohner des Kontinents bleiben Bücher unerschwinglich. Nach der Bekanntgabe der Hitliste hagelte es auch Kritik: Einige der ausgewählten Bücher werden seit Jahren nicht mehr verlegt und haben deshalb wenig Chancen, noch eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Fast alle Werke sind zudem im Ausland verlegt worden. Mazrui erhofft sich durch die Auswahl dennoch ein neues Interesse an afrikanischer Literatur und damit auch einen Aufschwung des heimischen Verlagswesens. Wenn diese mehr Erfolg hätten, würden auch die Buchpreise sinken und mehr Afrikaner könnten sich das Lesen leisten, glaubt er. Vor allem aber soll die Auswahl afrikanischen Autoren wieder mehr Selbstwertgefühl und Optimismus verleihen. Denn 1998 gab es bereits eine Bücher-Hitliste für englischsprachige Werke, zusammengestellt vom Modern Library Board in den USA. James Joyce' "Ulysses" bekam damals den ersten Platz. Kein einziges afrikanisches Buch schaffte es unter die ersten hundert. Manche Kritiker befürchteten eine "literarische Apartheid"; andere vermuteten, dass afrikanischer Literatur trotz Nobel- und Booker- Preisträgern zu viel Exotisches anhafte. Die Schriftstellerin Veronique Tadjo warnt, im Umkehrschluss vorauseilenden Gehorsam gegenüber den internationalen Märkten zu üben. Denn zu viele afrikanische Autoren versuchten bereits, vermeintliche Erwartungen der Verleger der westlichen Welt zu erfüllen. Schriftstellerische Qualität erlangten sie so nicht immer. "Sie wiederholen nur immer wieder das altbekannte Klischee vom apokalyptischen Kontinent", sagt sie. "Aber Afrika ist mehr als ein hoffnungsloses Drama. Deshalb brauchen wir eine Literatur des Alltags", fordert sie. Diese wünschten sich nicht nur die Bewohner des Kontinents B sie ist überzeugt, dass mit Geschichten aus dem normalen Afrika auch ein internationaler Erfolg machbar sei. Ann Kathrin Sost
Die Jury hat sich gegen eine Rangliste entschieden, hat aber aus den 100 Büchern die besten zwölf ausgewählt. Die Jahreszahl gibt das Ersterscheinen an, in Klammern sind die Titel wiedergegeben, unter denen die Bücher auf deutsch erschienen sind. Chinua Achebe: Things fall apart (Okonkwo oder Das Alte stürzt), 1958 Meshack Asare: Sosu's Call (Als Sosu sein Dorf rettete), 1999 Mariama Bâ: Une si longue lettre (Ein so langer Brief. Ein afrikanisches Frauenschicksal), 1979 Mia Couto: Terra Somnambula (Das schlafwandelnde Land), 1992 Tsitsi Dangarembga: Nervous Conditions (Der Preis der Freiheit), 1988 Cheikh Anta Diop: Antérorité des Civilisations NPgres, 1955 Assia Djebar: L'Amour, la fantasia (Fantasia), 1985 Naguib Mahfouz: The Cairo Trilogy, (Die Kairo-Trilogie), 1945 Thomas Mofolo: Chaka (Chaka Zulu), 1925 Wole Soyinka: Ake: The Years of Childhood (Ake: Eine afrikanische Kindheit), 1981 Ngugi wa Thiong'o: A Grain of Wheat (Freiheit mit gesenktem Kopf), 1967 Leopold Sedar Senghor: Oeuvre Poétique, 1961 |
aus: der überblick 04/2003, Seite 109
AUTOR(EN):
Ann Kathrin Sost:
Ann Kathrin Sost war von 2002 bis August 2003 freie Korrespondentin für den Evangelischen Pressedienst und verschiedene Zeitungen in Südafrika und arbeitet jetzt als freie Journalistin in Berlin.