Wie China mit den Verbrechen der Kulturrevolution umgeht
Am 3.August 1966, bei Einbruch der Dämmerung, zerren Rotgardisten die Eltern des fünfzehnjährigen Wu Xiaoqing aus ihrer Wohnung. Sie zwängen ihre Köpfe in ein hölzernes Joch, setzen ihnen Schandkappen auf, treiben sie mit Schlägen durch die Straßen und verhöhnen sie als "Feinde der Revolution".
von Jutta Lietsch
Wus Mutter stirbt mit gebrochenem Genick. Dem Vater, Leiter der Provinz-Erziehungsbehörde, brechen die Peiniger das Rückgrat, beide Beine und den Schädel und trampeln ihn zu Tode. Er hatte das Verbrechen begangen, einen positiven Artikel über die klassische chinesische Literatur zu schreiben. Der Sohn - in den Sommerferien auf dem Land, um Mao Zedongs Aufruf zu folgen und "von den Bauern zu lernen" - erfährt zufällig vom grausamen Ende seiner Eltern: Ein Schulkamerad aus Nanjing kommt in die Volkskommune und erzählt begeistert von den Ereignissen.
Die Mörder - Lehrer und Studenten der Pädagogischen Hochschule von Nanjing - nennen sich zur Erinnerung an jenen 3. August "Rebellendivision 8-3". Stolz auf ihre Tat errichtet die Gruppe an jener Stelle, an der Wus Vater starb, eine 8,3 Meter hohe Mao-Statue.
Jahre später erzählt der "alte Wu", wie der Sohn des ermordeten Paars jetzt von seinen Freunden genannt wird, diese Geschichte einem 20-jährigen Amerikaner: John Pomfret*, der 1981 zum Studium an die Universität von Nanjing gekommen ist und das Zimmer im Studentenwohnheim mit ihm teilt.
Da liegt Mao bereits seit über vier Jahren als balsamierter Leichnam auf dem Tiananmenplatz in Peking und die Kommunistische Partei hat die Kulturrevolution (1966-76) als "historischen Irrtum" bezeichnet. Sie hat die Parole ausgegeben, die Vergangenheit ruhen zu lassen und "nach vorne zu schauen".
Pomfret erzählt spannend und gut zu lesen von den außergewöhnlichen Schicksalen des Geschichtsstudenten Wu und von vier anderen jungen Chinesen, darunter einer Frau, die er in Nanjing kennenlernte und deren Leben er ein Vierteljahrhundert später aufzeichnet.
Parallel berichtet er von seinen eigenen Erfahrungen: vom rauen und oft absurden Alltag im Acht-Bett-Studentenzimmer, von amourösen Abenteuern mit jungen Chinesinnen und von seiner Zeit als Journalist vor, während und nach dem Tiananmen-Massaker in den achtziger und neunziger Jahren.
Ein ums andere Mal fragt sich Pomfret: "Warum glaubten viele in China, darunter auch einige meiner Mitstudenten, dass es gut für das Land wäre, nicht zurückzublicken?"
Chinese Lessons gehört zu den wichtigsten China-Büchern der jüngsten Zeit. Leider ist es bislang nur in englischer Sprache erhältlich. Das Buch blickt wie wenige hinter die Fassaden Chinas, dieser erstaunlichen Mischung von kapitalistischer Wirtschaftsmacht unter der Führung einer kommunistischen Politiker- und Managergeneration, deren Jugend von mörderischen Kampagnen und scharfen ideologischen Wendungen geprägt ist.
Pomfret beschreibt, wie seine Mitstudenten sich aus bitterster Armut in Funktionäre der Kommunistischen Partei (KP) und Geschäftsleute, warmherzige Mitmenschen, unabhängige Köpfe oder skrupellose Macher verwandeln. Aus ihren Lebensberichten scheint hervor, welche enorme Kraft und Selbstdisziplin, welche Härte, aber auch Flexibilität und Großzügigkeit die Generation der heute fünfzig- bis sechzig-jährigen Chinesen brauchte, um die vielen politischen und persönlichen Wendungen zu überleben und nicht verrückt zu werden.
Millionen Chinesen leben wie Pomfrets Mitstudenten - der alte Wu, die kleine Guan, Buchidiot Zhou, Tagesanbruch Song und der große Angeber Ye - nicht nur mit der Erinnerung an das Leid, das ihrer Familie im Namen Maos und der KP zugefügt wurde. Sie haben sich selbst auch schuldig gemacht, ihre eigenen Eltern und Lehrer denunziert. Manche haben gemordet und gefoltert.
Als Wu neun Jahre nach der Ermordung seiner Eltern die Chance erhält, in die Partei einzutreten, ergreift er sie mit beiden Händen. Es ist seine einzige Hoffnung auf ein besseres Leben, glaubt er. Deshalb erfüllt er auch die Aufnahmebedingung, die ihm die Parteikader stellen: Er erklärt, der Tod von Mutter und Vater sei "verständlich" gewesen, da sie eine "revisionistische Linie" verfolgt hätten.
Pomfret über den alten Wu: "Bis heute scheint er geradezu heiter zu sein, wenn er sagt, dass er keine Schuld über das empfindet, was er getan hat. Schulterzuckend rechtfertigt er seine Taten und erklärt: Das haben alle damals gemacht, um zurechtzukommen." Eine öffentliche und offene Debatte über das Leid, das Maos Kampagnen - und die seiner Nachfolger - verursachten, verbietet die KP bis heute. Wer Pomfrets Buch liest, ahnt, wie diese Partei es schaffen konnte, sich hinter der Fassade der Kontinuität neu zu erfinden und ihre Macht zu festigen. Von Klassenkampf und Revolution ist inzwischen längst nicht mehr die Rede. Aber die KP-Führung und ihre 70 Millionen Mitglieder verstehen sich weiterhin als politische Elite, die über dem 1,3 Milliarden-Volk steht und es regiert. Unablässig verkünden ihre Medien und Politik diese Botschaft: Partei und Staat seien von jeher untrennbar verbunden. Wer das Recht der KP, über das neue China zu herrschen, in Frage stellt, verrate die Interessen des Vaterlandes und drohe es ins Chaos zu stürzen.
Höchstes politisches Ziel ist inzwischen die vom heutigen Staats- und Parteichef Hu Jintao zur Doktrin erhobene "harmonische Gesellschaft". Das bedeutet unter anderem auch: Große Teile der Geschichte bleiben tabu. Niemand darf zum Beispiel ernsthaft nachforschen, was die Generation um Parteichef Hu 1966 während der Kulturrevolution, als Studenten und junge Parteifunktionäre anderen zufügten oder selbst durchmachten, was die heute Mächtigen seine mächtigen Kollegen taten, die heute im Politbüro und in der Regierung sitzen.
Statt dessen fördert die KP das Vergessen, so gut sie kann. Erst kürzlich verboten ihre Zensoren erneut mehrere Bücher, die sich mit dunklen Perioden der Geschichte befassten. Dazu zählten etwa Berichte über das Schicksal von Stars der Pekingoper, die 1957 als "Rechtsabweichler" verdammt, verhöhnt, gequält und zum Teil über viele Jahre ins Lager gesperrt worden waren.
Rund 550.000 Chinesen - etwa zehn Prozent der gebildeten Schichten Chinas, darunter besonders viele Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle - waren Opfer dieser Kampagnen, mit denen Mao Zedong und seine Leute in der Partei sich gegen Kritiker wehrte, die mehr Demokratie und weniger Korruption forderten.
Die Propagandafunktionäre der Partei, zuständige für Sprachregelungen in den Medien, verbieten nicht nur Bücher, sondern zensieren auch Fernseh-, Rundfunk-, Theaterprogramme und das Internet. Ab und zu aktualisieren sie ihre Tabu-Listen.
Unerwünscht sind derzeit laut Liste neben Berichten über den aristokratischen Lebensstil führender Funktionäre und die Aktivitäten von Bürgerrechtlern unter anderem auch Erinnerungen an die Kulturrevolution und andere politische Kampagnen. Dies könne ein schlechtes Licht auf Mao Zedong und die Partei werfen, hieß es.
2007 ist ein schwieriges Datum, nicht nur wegen des bevorstehenden 17. Parteitags im Herbst, vor dem sich entscheidet, wer an der Macht bleibt, wer stürzt und wer aufsteigt. Es stehen heikle Jahrestage bevor, die Rechtsabweichler-Kampagne gehört dazu.
In den Schubladen vieler älterer Chinesen liegen noch Memoiren. Ende der siebziger und in den achtziger Jahren, als die Kulturrevolution in frischer Erinnerung war, erschienen zahlreiche Romane, Lebensgeschichten und Dokumentensammlungen, die sich mit der jüngsten Vergangenheit beschäftigten.
Eines der ersten, die in deutscher Sprache erschienen, hieß "Ach!" und stammte aus der Feder des Schriftstellers Feng Jicai, der zu den wichtigsten Chronisten jener Zeit wurde. Solche - relativ - offenen Berichte waren bis Ende der achtziger Jahre möglich. Nach dem Tiananmen-Massaker vom Juni 1989 änderte sich das politische Klima grundlegend.
Heute bezeichnen manche chinesische Intellektuelle die achtziger Jahre als die "freiesten" seit der Kulturrevolution. Manche der in China verbotenen oder unterdrückten Schriftsteller publizieren offen und unter Pseudonym in Hongkong oder Taiwan und schmuggeln ihre Werke dann ins Land.
Die junge Generation weiß so gut wie nichts davon. Ihre Schulbücher übergehen diese Zeiten mit vorsichtigen Allgemeinheiten. Wer will schon die alten Klagen der Eltern - soweit diese überhaupt drüber reden - von den harten, hungrigen Zeiten hören?
Trotzdem tauchen vielerorts immer wieder Leute auf, die sich nicht ans verordnete Vergessen halten wollen - innerhalb und außerhalb der Partei. Der berühmte Schriftsteller Ba Jin, hatte bis zu seinem Tod 2005 im Alter von hundert Jahren ein "Museum für die Kulturrevolution" gefordert. In einigen Gegenden - in Südchina und in Sichuan - haben unternehmungslustige Geschäftsleute solche Museen bereits in Eigeninitiative eröffnet, immer so weit unter dem Radar, dass die Pekinger Regierung nicht eingreift.
In einem Artikel über "Einige Probleme in Bezug auf die historischen Aufgaben im Anfangsstadium des Sozialismus und Chinas Außenpolitik" vom 26. Februar erwähnte Premierminister Wen Jiabao die Kulturrevolution als "10-jährige Katastrophe", die Schuld daran gewesen sei, dass China "wichtige Entwicklungschancen" verpasst habe.
Im Jahr 2003 erhielt ausgerechnet Pomfrets Kommilitone Wu den Auftrag der Geschichtsfakultät von Nanjing, ein Kapitel über die Kulturrevolution für ein neues Lehrbuch zu schreiben. In Nanjing hatte sie mit dem Mord an seinen Eltern begonnen.
Der alte Wu will "etwas schreiben, was der Wahrheit nahe kommt", berichtet Pomfret. Doch Wu darf es nicht. Im Lehrbuch erscheint statt dessen ein Text, der die Ereignisse übertüncht. Die Schuld wird, wie üblich, nicht der KP, sondern der so genannten "Viererbande" um Maos Ehefrau zugewiesen.
Als Pomfret Wu fragt, wie er diesen Eingriff der Zensoren empfindet, lächelt der
schmerzlich, nimmt ein Stück Papier und schreibt das chinesische Schriftzeichen "ren" -
("erleiden") . darauf. Es besteht aus zwei Symbolen: unten ein Herz und darüber ein Messer.
Literatur: John Pomfret: Chinese Lessons., Five Classmates and the Story of the New China, Verlag Henry Holt, New York, 2006, 352 S.
*John Pomfret hat in den späten achtziger Jahren - während der Proteste auf dem Tiananmen-Platz - sieben Jahre als Auslandskorrespondent über China berichtet. Von 1998 bis Ende 2003 war er Leiter des Büros der "Washington Post" in Peking.
aus: der überblick 01/2007, Seite 116
AUTOR(EN):
Jutta Lietsch
Jutta Lietsch ist freie Journalistin und lebt als Auslandskorrespondentin in Peking, Volksrepublik
China.