"Konkurrierende moralische Werte berücksichtigen"
Im Zentralkomitee des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) wurde während der Tagung in Potsdam im Januar 2001 eine Kontroverse ausgetragen. Der Anlass war ein Dokument, das aus ethischer Sicht zu humanitären Interventionen Stellung nimmt. Der ÖRK-Zentralausschuss hat das Dokument überarbeitet, es unter dem Titel "Der Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt: Ein ökumenischer ethischer Ansatz" verabschiedet und es zur weiteren Diskussion an seine Mitgliedskirchen gereicht. "der überblick" druckt Auszüge aus dem überarbeiteten Text.
16. Den meisten Kirchen verursacht... das Nebeneinander der Wörter "humanitär" und "Intervention" Unbehagen, da in der Praxis nur allzu oft ein Widerspruch zwischen den humanitären Grundsätzen des Mitleids und der Anwendung tödlicher militärischer Macht besteht.
17. Die Frage ist, welche Reaktion der Weltgemeinschaft auf Konfliktsituationen angemessen ist, in denen ganze Bevölkerungsgruppen gefährdet und die Regierungen entweder unfähig oder nicht bereit sind, sie zu schützen? Für die Kirchen in der ökumenischen Bewegung hat die Weltgemeinschaft die Pflicht zur Konfliktprävention, Friedensschaffung, Konfliktbeilegung und Versöhnung. Die Entscheidung, Waffengewalt in Situationen einzusetzen, in denen viele Menschen in Gefahr sind, ist häufig ein Signal dafür, dass die Weltgemeinschaft es versäumt hat, auf frühzeitige Anzeichen von Krisen die notwendigen vorbeugenden Maßnahmen zu ergreifen.
18. Statt des Begriffs "humanitäre Intervention" bietet sich in Diskussionen innerhalb des Ökumenischen Rates der Kirchen die alternative Formulierung "Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt" an.
19. Maßnahmen für diesen Zweck müssen im Rahmen einer langfristigen Strategie geplant und ausgeführt werden, die bei lokalen Maßnahmen zur Konfliktbereinigung beginnen und über diplomatischen Druck und wirtschaftliche Sanktionen bis zum Einsatz einer internationalen Schutztruppe führen können...
21. Zuallererst hat die Weltgemeinschaft... die Pflicht, sich mit den Ursachen der gewaltsamen Konflikte zu befassen. Sie muss, sobald Konflikte entstehen, rechtzeitig wirksame Maßnahmen ergreifen, um eine Eskalation zu verhindern...
24. In der Zeit nach Beendigung eines Konflikts besteht die Herausforderung darin, der Straffreiheit dadurch ein Ende zu setzen, dass diejenigen, die Gewalt angewendet haben, vor Gericht gestellt werden...
26. Allerdings sind in einer sündigen Welt mit ihrer Neigung zur Gewalt die Kirchen und die Weltgemeinschaft selbst bei bestem Willen wohl nicht in der Lage, alle gewaltsamen Krisen zu verhüten. Wenn eine Krise eingetreten ist, stehen eine Reihe von gewaltlosen Reaktionen auf bewaffnete Konflikte zur Verfügung, und diese müssen erprobt werden: Informationsbesuche, Diplomatie und Angebot von Vermittlungsdiensten für eine Schlichtung; Bereitstellung von humanitärer Hilfe zwecks Vertrauensbildlung...
27. Wenn eine Regierung alle Hilfsangebote für die Beilegung eines Konflikts ablehnt oder sich weigert, Entscheidungen der zuständigen internationalen Gremien, wie des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zu befolgen, können gemäß Artikel 41 der Charta der Vereinten Nationen Sanktionen verhängt werden...
28. ... Frühwarnindikatoren machen in manchen Fällen die Dringlichkeit der Situation nicht deutlich. Noch häufiger kommt es vor, dass die frühen Warnzeichen entweder ignoriert oder von der Weltgemeinschaft, die heute in einem nie gekannten Maße mit vielschichtigen internen Konflikten bereits überlastet ist, nicht beachtet werden... Nur allzu oft führt das Scheitern des Versuchs, die unterschiedlichen Standpunkte nach Beendigung des Konflikts miteinander zu versöhnen, zum erneuten Ausbruch der Gewalt. In solchen Fällen hat die Weltgemeinschaft das Recht - oder sogar die Pflicht -, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen, um die gefährdete Bevölkerung zu schützen und ihr zu helfen.
29. Dies kann einen Eingriff in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten notwendig machen...
30. Der Grundsatz der nationalen Souveränität ist seit dem Westfälischen Frieden im Jahr 1648 ein Eckstein des internationalen Systems. Trotzdem haben in der Geschichte die Militärmächte ihre militärischen Eingriffe in die inneren Angelegenheiten anderer Länder immer wieder mit "humanitären" Anliegen gerechtfertigt. Angesichts dieser Tatsache und vor dem Hintergrund zweier verheerender Weltkriege versuchten die Autoren der Charta der Vereinten Nationen, schwächere Staaten vor Aggression zu schützen, indem sie den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staats festlegten...
32. Die ökumenische Bewegung hat diese Grundsätze im Laufe der Jahre konsequent verteidigt, da sie überzeugt ist, dass die Unabhängigkeit von Staaten und ihre territoriale Unversehrtheit für den Frieden und die Sicherheit von entscheidender Bedeutung sind...
36. Die Charta der Vereinten Nationen begrenzt die Befugnis der Organisation zur Intervention zwar streng auf Fälle, in denen der Weltfrieden und die internationale Sicherheit gefährdet werden, bekräftigt aber auch die Universalität der Menschenrechte...
38. Es gibt jedoch selbst hier keine Prinzipien mit absoluter Geltungskraft. Regierungen in einigen Teilen der Welt, besonders in Asien, stellen die Universalität der Menschenrechtsnormen in Frage, und zwar mit der Begründung, sie beruhten auf westlichen Vorstellungen von Individualrechten, nicht auf den Rechten der Völker. Innerhalb der orthodoxen Tradition der Christenheit wird zuweilen das ausschließliche Bemühen um das irdische Leben in Frage gestellt und der Primat der Erlösung hervorgehoben. Zwar ist alles Leben heilig, so wird argumentiert, aber auch heilige Orte, Gegenstände der Verehrung und sogar Land werden von der Glaubensgemeinschaft als heilig betrachtet, und ihr Schutz kann in einigen Situationen Vorrang haben. Es wird auch gefragt, welche Arten von Menschenrechtsverletzungen so schwerwiegend sind, dass sie eine Intervention rechtfertigen. Soll die Weltgemeinschaft nur als Reaktion auf Verletzungen der bürgerlichen und der politischen Rechte handeln, oder verlangen auch Verletzungen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte eine internationale Antwort?
39. ... Die Frage der Intervention steht also in einem Spannungsfeld zwischen nationaler Souveränität und einem sich entwickelnden Bewusstsein für die universale Natur der Menschenrechte. Dies sind nicht nur Fragen des Völkerrechts, es sind auch ethische Fragen, zu denen die theologischen Perspektiven der Kirchen viel beitragen können...
50. ... Es stellt sich die Frage, ob ... die Weltgemeinschaft selbst dann von der Anwendung von Waffengewalt Abstand nehmen sollte, wenn es darum geht, gefährdete Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt zu schützen oder diejenigen zu verteidigen, die von den zuständigen internationalen Instanzen zu diesem Zweck entsandt worden sind. Hier müssen konkurrierende moralische und ethische Werte berücksichtigt werden... Die Verantwortung für unbeabsichtigte Folgen muss sowohl von jenen akzeptiert werden, die sich für Waffengewalt entscheiden, als auch von jenen, die dies nicht tun.
51. Vor diesem Hintergrund ... ist der Zentralausschuss der Auffassung, dass im Kontext der Dekade zur Überwindung von Gewalt die folgenden Erwägungen und Kriterien in und unter den Kirchen weiter geprüft und erörtert werden sollten...
1. Erwägungen
1. Bei einer Intervention zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt besteht die Gefahr, dass zusätzliche Gewalt erzeugt wird, die der betroffenen Bevölkerung weiteres Leid zufügt.
2. Das Unterlassen von sofortigem und rechtzeitigem Handeln, einschließ-lich des Einsatzes der Anwendung von Waffen zur Selbstverteidigung in bestimmten schweren Krisen, kann jedoch ebenfalls zu weiterem massiven Verlust von Menschenleben führen...
4. Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen müssen im Rahmen des Völkerrechts erfolgen...
5. ... Eine Intervention muss eindeutig darauf begrenzt sein, Nationen und Bevölkerungsgruppen vor unzulässigen Eingriffen zu schützen, und die Entscheidung zur Intervention muss der Notlage entsprechen...
7. In der Praxis hat der Sicherheitsrat - gemäß seiner gegenwärtigen Struktur, die seinen ständigen Mitgliedern ein Vetorecht einräumt - nur selten einem Staat, einer Gruppe von Staaten oder "regionalen Einrichtungen" erlaubt zu intervenieren. Das hat zu Interventionen von regionalen Organisationen oder Gruppen von Staaten geführt, die die Bestimmungen der Charta mehr oder weniger eindeutig verletzt haben.
8. Zwar haben einige dieser bewaffneten Interventionen der gefährdeten Bevölkerung echte Erleichterung gebracht, aber andere haben zu unverhältnismäßigen Zerstörungen und fragwürdigen Ergebnissen geführt...
2. Kriterien
2.1 Wann können Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt genehmigt werden?
Der Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen, der eine Intervention auf dem Territorium eines souveränen Staates erfordert, sollte auf die folgenden Situationen beschränkt werden:
2.1.1. Es bestehen nachweisliche akute oder lang anhaltende Bedrohungen von Menschenleben in einem Umfang, dass von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesprochen werden kann, die von staatlichen Behörden oder anderen organisierten Kräften oder mit deren Duldung und Unterstützung begangen werden oder die begangen werden, weil die Behörden unfähig oder nicht bereit sind, solche Gräueltaten zu verhindern.
2.1.2. Verbrechen gegen die Menschlichkeit resultieren aus anarchischen Zuständen in einem souveränen Staat, dessen Regierung oder Behörden nicht in der Lage sind, diese Verbrechen zu beenden und sich weigern, die Weltgemeinschaft anzurufen, oder deren Hilfsangebote ablehnen...
2.3. Wer darf intervenieren?
2.3.1 Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt sollten grundsätzlich von einem geeigneten Gremium der Vereinten Nationen oder einer Gruppe von Staaten durchgeführt werden, die berechtigt sind, im Namen der Vereinten Nationen zu handeln; alle derartigen Maßnahmen sollten vom Sicherheitsrat oder mit Zustimmung der UN-Generalversammlung von einer anderen multilateralen internationalen Instanz streng überwacht werden.
2.3.2 Die zum Schutz intervenierenden Kräfte sollten hinsichtlich desjenigen Staates, in dem die Intervention stattfindet, eindeutig neutral sein, und die Entscheidung für die Intervention sollte auf keinen Fall als Vorwand für die Verfolgung der spezifischen eigenen Interessen der ausländischen Mächte dienen...
aus: der überblick 03/2001, Seite 98