Süße Totenköpfe gehören an Allerheiligen einfach dazu
Särge und Skelette aus Schokolade, bunt verzierte Totenköpfe aus Zucker, laute Musik, Fiestas auf Friedhöfen. "Die Tage der Toten", wie in Mexiko die ersten Novembertage genannt werden, sind ein fröhliches Fest. Und Zuckerbäcker haben alle Hände voll zu tun.
von Kirsten Einfeldt
Jedes Jahr im Oktober halten auf Mexikos Märkten, in den Geschäften und Kaufhäusern kleine Totenschädel und quicklebendig-wirkende Skelette Einzug: Gerippe aus Pappmaché oder Holz werden angeboten und kleine Guckkästen, in denen Skelette Alltagsszenen - sei es ein Arztbesuch oder ein Essen im Familienkreis - frech grinsend darstellen. Schwere Weihrauchwolken hängen über den Kunsthandwerkerbasaren und volkstümlichen Märkten. An den Ständen flattern bunte Papiergirlanden, in die "La Catrina" gestanzt ist: jene elegant gekleidete Skelettdame, der der Populärgraphiker José Guadalupe Posada (1851- 1913) um 1900 in seinen Karikaturen zu bis heute andauerndem Ruhm verhalf.
Neben dem üblichen Naschwerk aus exotischen Früchten türmen sich auf Tischen und Regalen süßes Brot, pan de muerto, und die farbenfroh verzierten Totenschädel aus Zucker - calaveritas de alfeZique. Noch heute erinnert der pyramidenartige Aufbau der Totenköpfe auf den Märkten an die tzompantlis in den Azteken-Tempeln, Steinwände, in die die vorspanischen Herrscher zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert Schädelreihen einmeißeln ließen, um ihrer gefallenen Krieger zu gedenken. Die modernen Totenkopfrepräsentationen aus strahlend weißem Zucker haben Gesichter aus buntem Stanniolpapier und sind mit rotem, blauem und gelbem, manchmal grell pinkfarbenem Zuckerguss verziert. Die mexikanischen Kunden kaufen sie als Opfergaben oder einfach zur Dekoration zum Día de Muertos, dem mexikanischen Allerseelenfest am 2. November.
Das alfeZique-Handwerk ist eine Symbiose aus präkolumbischen und spanischen Traditionen. Die Herstellungstechnik des alfeZique, dessen Name im Arabischen "zerbrechliche Süßigkeit aus Zucker" bedeutet, wurde von den Spaniern während der Eroberung Mexikos im 16. Jahrhundert zusammen mit dem Zucker eingeführt. In der Azteken-Kultur existierten neben den tzompantlis bereits essbare Totenschädel: Die Bäcker schufen die Votivgabe aus Körnern der Amarantpflanze und Honig. Mit der Einführung des Zuckers stellten sie ihre Produktion auf die fragilen alfeZiques um.
Wenn heutzutage am 2. November die letzten calaveritas über den Verkaufstisch gehen, endet eine bis zu sechsmonatige Produktionsphase für ihre Hersteller, die artesanos de alfeZique. Ab Mai arbeiten überwiegend Familienbetriebe in Zentralmexiko an den Zuckerköpfen, die Jahr für Jahr millionenfach verkauft werden. Einige Kunsthandwerker, die artesanos, sind echte Meister ihrer Zunft und in Mexiko schwer zu treffen: Sie stellen ihre skurrilen Arbeiten in Museen für Populärkunst in den USA aus und sind umworbene Workshop-Leiter in Los Angeles, San Francisco und New York.
Alejandro Mondragón ist einer der produktivsten und gefragtesten in dem traditionsreichen Berufszweig. Der 53-Jährige lebt und arbeitet in der Hauptstadt des Bundesstaates Mexiko, Toluca. Die Industriestadt mit 700.000 Einwohnern ist berühmt für ihre kunstvollen calaveritas und die größte alfeZique-Messe im Land, die jedes Jahr im Oktober stattfindet. Über 80 Händler verkaufen dann ihre Waren für den Día de Muertos. Alejandro Mondragón beliefert rund 50 von ihnen.
Von Mai bis August widmen sich er und seine Ehefrau Elvira ganz der Zuckerschädel-Herstellung. Sie sind die ersten in der Familie, welche seit drei Generationen alfeZique produziert, die weitgehend von dem Kunsthandwerk leben können. Den September und Oktober verbringen Alejandro und Elvira in Chicago. "Seit acht Jahren lädt uns das Mexican Fine Arts Center Museum ein", erzählt Alejandro. "Man stellt uns ein Apartment, in dem wir die calaveritas anfertigen, da sie für den Transport im Flugzeug zu zerbrechlich sind." Anschließend zeigen und verkaufen sie ihre Zuckerarbeiten im Museum. "Wir werden häufig gefragt, warum wir grellbunte Farben zur Verzierung verwenden", sagt die 51-jährige Elvira. "Wir versuchen dann zu erklären, dass die Farben uns Leben geben und wir uns mit Freude an die Toten erinnern." Alejandro ergänzt: "In Mexiko schenken wir uns an den Totentagen unter Freunden und in der Familie calaveritas. Wir kleben ein kleines Papier mit dem Namen desjenigen, den wir beschenken, auf den Totenkopf. Die gringos, die Fremden glauben, das bedeute, dass die benannte Person sterben wird. Wir machen das aber, um uns daran zu erinnern, dass sowohl wir den Toten nahe sind, als auch sie unter uns weiterleben."
Das für westliche Augen befremdliche und zugleich faszinierende Verhältnis der Mexikaner zum Tod ist von Forschern und Intellektuellen immer wieder gedeutet worden. Der deutsche Kunsthistoriker Paul Westheim kam in seinem anthropologischen Werk "Der Tod in Mexiko" zu dem Ergebnis, dass die prähispanischen Kulturen Leben und Tod als einen Kreislauf ansahen. Das Leben war für sie eine Übergangsphase zu weiteren Daseinsformen.
Der Literaturnobelpreisträger Octavio Paz charakterisierte die Mexikaner und ihr Verhältnis zur pelona, der "Kahlköpfigen", wie der Tod auch liebevoll genannt wird, in seinem berühmten Essay "Das Labyrinth der Einsamkeit" folgendermaßen: "Der Mexikaner sucht, streichelt, foppt, feiert den Tod, schläft mit ihm. Vielleicht quält ihn ebenso die Angst vor ihm wie die anderen, aber er versteckt sich nicht vor ihm noch verheimlicht er ihn, sondern sieht ihm mit Geduld, Verachtung oder Ironie frei ins Gesicht." Wie zutreffend dieser Deutungsversuch ist, wird an Alejandros lakonischer Haltung deutlich. "La muerte nos pela los dientes", sagt er. "Der Tod will uns schließlich nichts Böses."
Familie Mondragón stellt ihre calaveritas im eigenen Haus her. Knapp sieben Quadratmeter ist die Zuckerbäckerstube groß. In dem mit gelbem Hartplastik überdachten Anbau stehen die Arbeitsutensilien: ein einflammiger Gaskocher, immense kupferne Töpfe, ein großer Holztisch und Dutzende Schädelformen aus Ton. Hier verarbeitet das Ehepaar eine Tonne Zucker jährlich zu Totenköpfen, mit denen sie außer den Händlern in Toluca auch Konditoreien in den nordwestlich gelegenen Bundesstaaten Guanajuato und Guadalajara beliefern. Beim Dekorieren der calaveritas helfen ihre erwachsenen Kinder Nancy, Alejandro und Elvira mit - der Kleinbetrieb ist ein echtes Familienunternehmen.
Seit Alejandro senior Anfang der siebziger Jahre an der Wirbelsäule operiert wurde und seine Arbeit als Verkäufer in einem kleinen Lebensmittelgeschäft nicht fortsetzen konnte, produzieren die Eltern hauptberuflich alfeZiques. "Das viele Kistentragen war zu schwer", sagt er. Als er berentet wurde, bauten sich Alejandro und seine Familie mit dem Kunsthandwerk zunächst aus Geldnot eine zweite Existenz auf. Heute stehen Elvira und er während der Herstellungsphase täglich zehn bis zwölf Stunden am Herd, um die vielen Aufträge bewältigen zu können.
Für die süßen Abgüsse bringen sie Wasser und reinen, raffinierten Zucker zum Kochen, fünf Liter Wasser auf zehn Kilogramm Zucker. Das Gemenge wird drei Stunden lang erhitzt, bevor die artesanos es zu 100 bis 150 calaveritas verarbeiten können. Dazu füllen sie die weiße Masse in verschieden große, angefeuchtete Tonformen - von cráneos, die am menschlichen Schädel orientiert sind, bis hin zu Miniaturen, die kaum drei Zentimeter messen.
Bereits nach zehn Minuten löst das Ehepaar die Formhälften von dem Naschwerk. Zum Trocknen werden die zunächst weiß belassenen Totenköpfe in hölzernen Obstkisten aufbewahrt, die das Esszimmer der Familie Mondragón von Mai bis November in ein verlockendes Süßigkeitenlager verwandeln. Mit dem Verzieren müssen die Zuckerbäcker mindestens zehn Tage, am besten jedoch zwei Monate warten, damit der farbige Guss nicht in die feuchten Schädel einzieht.
Ab Anfang Oktober bieten Alejandro und Elvira wie andere artesanos die calaveritas zum Verkauf an. Die eigentlichen Totenfeiern beginnen erst am Ende des Monats. Ab dem Morgen des 28. Oktober fangen die Menschen besonders auf den Dörfern damit an, in ihren Häusern großreinzumachen und sich mit festlich geschmückten Altären auf die Ankunft der angelitos, der als "Engelchen" bezeichneten toten Kinder, in der kommenden Nacht vorzubereiten. Kerzen, orange leuchtende cempasúchil-Blumen, Weihrauch, ein Glas Wasser, Salz, die Totenköpfe aus Zucker und die Lieblingsspeisen der Kinder sind unabkömmliche ofrendas, wie die Opfergaben im Spanischen genannt werden. In der Nacht auf den 30. Oktober wird der Seelen der Toten gedacht, die bei Unfällen ums Leben gekommen sind, und derer, die keine Angehörigen haben. Für sie wird eine Kerze zusätzlich aufgestellt. Die Seelen der Toten, die ohne Taufe oder letzten Segen gestorben sind, sind in der darauffolgenden Nacht willkommen.
Trotz der Gemeinsamkeiten des Festrahmens sieht kein Hausaltar wie der andere aus. Je nach Region und Gusto des Verstorbenen werden ein Foto von ihm, Heiligenbilder, Zigaretten für Erwachsene, manchmal sogar Tequila oder Pulque, ein milchiger Agaven-Schnaps aus der Zeit vor der spanischen Eroberung, dazugestellt. Auch die Speisen und das Wasser, die der Stärkung dienen, der Weihrauch, der Krankheiten und böse Geister fernhalten soll, und die cempasúchil-Blumen - in der Indiosprache Nahuatl "Blumen der 400 Blüten"-, sind bereits seit prähispanischen Zeiten feste Bestandteile des Totenkults.
"Die Azteken glaubten an dreizehn verschiedene Stufen im Jenseits, die jeweils bestimmten Bevölkerungsgruppen zugedacht waren", erklärt die Ethnohistorikerin Amparo Rincón. Um die zum Teil lange Reise bis in das entsprechende Jenseits möglichst bequem zu gestalten, legte, wer es sich leisten konnte, neben den wichtigsten ofrendas auch neue Sandalen und einen Beutel für den Transport der Gaben mit ins Grab.
Nach Ablauf eines Jahres streute die Familie für den Toten die orangefarbenen cempasúchil-Blüten vom Haus bis zum Grab. Die Blumen repräsentierten die zwanzig Tage, an denen die Hinterbliebenen für den Verstorbenen beteten, und die zwanzig Monate, die nach aztekischem Kalender ein Jahr bildeten. Sie sollten der Seele des Toten den Weg zurück nach Hause weisen. Ab dem zweiten Trauerjahr fügte sich der Ritus in einen übergeordneten Rahmen ein und wurde einmal jährlich zu einem Zeitpunkt, der nach heutigem Kalender Ende Oktober/Anfang November liegt, zelebriert.
"Die prähispanischen Kulturen - Tolteken, Azteken und Maya - ehrten ihre Toten am Ende des landwirtschaftlichen Zyklus, bevor das Land in die Trockenperiode eintritt", sagt Amparo Rincón. "Bevor sie die Erde und die Toten ruhen ließen, teilten die indígenas ihre Ernte mit den Verstorbenen. Diese Tradition, auch wenn sie sich mit dem katholischen Allerseelen und Allerheiligen vermischt hat, wird bis heute im Wesentlichen beibehalten."
Seitdem die Spanier ein Datum für den Totentag in Mexiko festgelegt haben, finden die Hauptfeiern am 2. November statt. Nachdem in der Nacht auf den 1. November die Seelen aller Toten im Haus empfangen wurden, streuen die Menschen wie schon ihre prähispanischen Vorfahren in der Folgenacht cempasúchil-Blüten vom Haus bis ans Grab. Sie nehmen die ofrendas der Hausaltäre mit auf den Friedhof und verbringen dort oftmals die ganze Nacht. Besonders in dem Städtchen Pátzcuaro und auf der Insel Janítzio im Bundesstaat Michoacán sowie in dem kleinen Ort Mixquic im Bundesstaat Mexiko werden die Toten ausgiebig besucht. Dort sind die Kulturen der indígenas, die heute nur noch knapp 14 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, noch sehr lebendig. Die Menschen beten für ihre Toten und erinnern sich mit der gesamten Familie bei heißem Kaffee gegen die frischen Herbstnächte an die guten und schweren Momente, die sie mit den Verstorbenen zu Lebzeiten geteilt haben. Manch einer bestellt eine scheppernde Marimba-Darbietung oder eine blechern-dröhnende Mariachi-Band ans Grab - genau so, wie der Verstorbene es sein Leben lang mochte. Die Mexikaner verwandeln dann ihre Totenfeier in eine echte Fiesta mit Hochprozentigem und Tanzmusik bis in den Morgen.
In den Städten dagegen sieht sich die Tradition des Día de Muertos zunehmend mit der Konkurrenz aus den USA konfrontiert. "Das US-amerikanische Halloween wird in den Metropolen immer sichtbarer", bedauert Amparo Rincón. Besonders Kinder scheinen von den importierten Gespensterkostümen und orangefarbenen Plastikkürbissen, in denen sie ihre in der Nachbarschaft erbetenen Süßigkeiten sammeln, fasziniert zu sein.
Auch die Anzahl der artesanos de alfeZique hat in den letzten Jahren leicht abgenommen. Da rund 40 Prozent der mexikanischen Wirtschaft im informellen Sektor liegen, gibt es jedoch weder zur Zahl der artesanos noch zu ihren Umsätzen präzise Zahlen. Die Einnahmen mit Süßigkeiten, Musik, Feuerwerk und anderen unabkömmlichen Artikeln für die vielen mexikanischen Feste schätzen Wirtschaftsexperten mit immerhin 3 Prozent des Bruttosozialprodukts recht hoch ein.
Das Geschäft der Familie Mondragón läuft so auch weiterhin sehr gut: Der Jahresgewinn aus den calaverita-Verkäufen von durchschnittlich 80.000 Pesos (rund 7000 Euro) ist in Mexiko, wo der Tagesmindestlohn 43 Pesos (unter vier Euro) beträgt, ganz beachtlich. Die Familie zählt sich mit diesem Einkommen zur dünnen mexikanischen Mittelschicht. Dennoch sind Alejandro und Elvira auf Nebeneinkünfte und die Unterstützung ihrer Kinder angewiesen. "Wir handeln auf der Messe außer mit den Zuckertotenschädeln auch mit anderen Süßigkeiten", sagt Elvira. "Die dürfen allerdings nur ein Viertel unserer Gesamtwaren ausmachen - zum Schutz der alfeZique-Tradition."
Diese Maßnahme, die die Stadtverwaltung von Toluca und die lokale Händlervereinigung Mitte der neunziger Jahre beschlossen, war für den Erhalt dieser Besonderheit des mexikanischen Totenkults und des qualitativ hervorragenden Zuckerkunsthandwerks notwendig. Denn zu dem Zeitpunkt boten dort die meisten Händler fast gleich viele Halloween-Accessoires wie traditionelle calaveritas an. Die Historikerin Rincón sieht solche Erlasse positiv: "Die jahrhundertealte Totentradition ist so tief in unserer Kultur verwurzelt, dass sie unbedingt geschützt werden sollte - damit auch weiterhin 70 Millionen Mexikaner den Día de Muertos feiern."
aus: der überblick 02/2003, Seite 76
AUTOR(EN):
Kirsten Einfeldt:
Kirsten Einfeldt arbeitet als freie Journalistin und Kunstkritikerin in Mexiko. Sie schreibt für die "Süddeutsche Zeitung" und "Geo special".