Wie der südafrikanische Pathologe Mervyn Manseil Tote zum Reden bringt
Von Fliegen und Käfern kann der Wissenschaftler Mervyn Manseil nicht genug bekommen. In seinem Büro in Pretoria begeistert er sich für eine äußerst widerliche Beschäftigung. Er studiert Insekten, die sich von verwesenden Körpern ernähren - ein wenig bekanntes Gebiet, das forensische Entomologie (gerichtsmedizinische Insektenkunde) genannt wird. Durch die Untersuchung der Insekten, die von Mordopfern angezogen werden, unterstützt Manseil Kriminalermittlungen.
von Bobby Jordan
In seinem Teil der Welt tauchen mehr verwesende Körper unversehens auf als irgendwo anders. Es ist sein Job herauszufinden, wie lange die Leichen dort schon lagen. Manseil kann das besser als jeder andere, obgleich es, wie er einräumt, nicht viele gibt, die auf diesem Gebiet arbeiten. Er hat seine Nische gefunden, wie eine Fliege."Wenn ich jetzt auf der Stelle tot umfallen würde", sagt Manseil mit festem Blick, "würde mich eine Fliege innerhalb weniger Minuten finden. Dann würden mehr Fliegen kommen. Und gäbe es Blut, dann würden sie innerhalb weniger Minuten Eier legen. Es ist absolut erstaunlich", Manseil versucht, nicht zu lächeln, "wohin es Fliegen zieht." Fliegen sind seiner Meinung nach sehr geschickt und hoch entwickelt. Sie leben in Ölquellen oder in den Nasengängen von Schafen und Ziegen." Wenn ein Insekt in andere Tiere eindringen kann, dann eine Fliege", fügt er hinzu.
Mit geneigtem Kopf beugt er sich vor, über den Tisch und deutet vertraulich auf das Summen der Fliege am Fenster seines Büros. "Und wenn mein Körper für eine Weile da draußen liegen würde, kämen Fliegen aus 30 Kilometer Entfernung - sie nehmen die Moleküle in der Luft wahr." Er lächelt breit: "Es ist erstaunlich. Wirklich erstaunlich."
Manseil gehört der wachsenden Zahl südafrikanischer Wissenschaftler an, die für die Schlacht gegen das Verbrechen rekrutiert werden. Seinen Bemühungen und denen anderer Akademiker ist es wenigstens zum Teil zu verdanken, dass die Opferzahlen in der nationalen Kriminalstatistik gesunken sind. Trotzdem hat sich das Land noch keinesfalls erholt.
Manseil, ein schlanker, geheimnisvoller Mann mit einer sanften Stimme, ist schwer im Geschäft - allerdings durch einen Zufall. Er hatte seit 1978 für den South African Agricultural Research Council gearbeitet und sich auf Veterinärentomologie mit dem Schwerpunkt Schmeißfliegen spezialisiert - das Insekt, das am häufigsten mit dem Zusammenbruch von Organismen verbunden wird. Sein leidenschaftliches Interesse an Schmeißfliegen führte zu seiner Beteiligung in einem der schlimmsten Fälle von Serienmord des Landes im Jahre 1995.
"Am 18. September 1995", erinnert sich Manseil widerwillig, "rief mich die Polizei an und bat mich zu einem Tatort am Stadtrand von Johannesburg, wo man neun Leichen gefunden hatte. Die Polizei wollte die Mordzeiten herausfinden. Pathologen können das nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, doch nach ein paar Tagen können sie das nicht mehr exakt." Durch das Studium der Generationenfolge der Insekten war Manseil in der Lage, den Todeszeitpunkt genauer zu bestimmen und darüber hinaus weitere Informationen zu gewinnen: ob die Leichen bewegt wurden oder Fleischwunden aufgewiesen hatten. Seine Arbeit an diesem ersten Tag half schließlich, einen der schlimmsten Serienmörder der Welt, Moses Sithole, für 36-fachen Mord zu verurteilen.
Seit jenem Zeitpunkt ist er eine wichtige Informationsquelle für zahlreiche Ermittlungen von Serienmorden oder für kompliziertere Fälle, in denen die Polizei zusätzliche Informationen benötigt. Sein Büro liegt, nicht weit entfernt vom südafrikanischen Regierungssitz, den historischen Union Buildings in Pretoria. Es ist in jeder Hinsicht unspektakulär, abgesehen von den grässlichen Dingen, die der Pathologe dort aufbewahrt. Auf dem Tisch, der vor ihm steht, gefangen in einer durchsichtigen Petrischale, befinden sich mehrere Schmeißfliegen in einer Lache menschlicher Überreste. Für Manseil das tägliche Geschäft: "Das hat die Polizei heute gebracht. Ich werde es mir später ansehen."
An der Wand seines Büros hängen nette Buntstiftzeichnungen seiner Kinder: Strichmännchen in einem grünen Feld, eine lächelnde Sonne mit blauen Augen. Versteckt auf dem Bildschirm seines Computers hat er seine Arbeit als Fotogalerie dokumentiert: eine enthauptete Prostituierte, nach drei Wochen in der freien Natur aufgedunsen; die Überreste eines Skeletts in einer flachen Grube außerhalb von Pretoria. "In diesem Fall bekam ich niemals eine Rückmeldung", sagt Manseil, während er eine neue Bilddatei öffnet. "Die hier wurde einfach in ein Maisfeld geworfen."
Obwohl er ein Spezialist für Schmeißfliegen ist, arbeitet Manseil an über 100 Insektenarten, einschließlich Maden, Haar-, Haut- und Fellkäfern. "Jeder Fall ist absolut einmalig: Ein Körper mag im Schatten liegen, in einem Gebäude oder in einer flachen Grube gefunden werden, das Klima variiert. Jedes Mal, wenn wir einen Fall bekommen, lernen wir etwas dazu."
Manchmal nimmt er direkt am Tatort Proben, manchmal liefern ihm die Ermittler Plastiktüten mit Proben in sein Büro. Dann arbeitet er unter dem Mikroskop, sortiert und dokumentiert, was er findet. "Jedes Insekt hat einen Grund, an einem Tatort zu sein.
Wie in der Geschäftswelt, wo die Firmen versuchen, im Markt eine Lücke zu finden und diese zu nutzen. So ist es in der Tierwelt, in der wir alle nach einer Nische suchen, die wir für Nahrung nutzen können."
Einige Insekten - Abbauer biologischer Stoffe wie die Fliegen - interessiert nur der Körper, während räuberische Insekten es auf andere Artgenossen abgesehen haben. Einige Insekten machen beides - erst versorgen sie sich an der Leiche, dann wenden sie sich in einer kannibalischen Orgie gegeneinander.
Obwohl ihm die psychologischen Belastungen seines Berufes bewusst sind, sei er darum bemüht, sich auf die Entomologie zu konzentrieren. "Ich betrachte das wissenschaftliche Szenario, das stattfindet. Man muss sich von den lebendigen Aspekten der Szene abkapseln." Selbst den fauligen Geruch eines verwesenden Körpers erklärt er ganz pragmatisch, ist er doch nur der Zusammenbruch der Körpergewebe durch Fettsäuren. "Die Leute kommen zu den Tatorten und essen Süßigkeiten oder tragen Gasmasken. Ich gehe einfach hin. Die einzige Sache ist, dass dir der Geruch in den Kleidern hängt. Und manchmal esse ich nach einem Fall für eine Weile keinen Käse mehr", sagt er.
Gelegentlich muss Manseil vor Gericht aussagen. Er hat seit dem Serienmord von Sithole 1995 intensiv an 200 Fällen gearbeitet. "Unglücklicherweise haben wir hier die meisten Fälle für forensische Insektenkundler", sagt er. Vielleicht zwangsläufig hat er eine philosophische Sicht auf die kriminelle Epidemie: Wie bei den Insekten, so meint er, gäbe es eine Reihe von Akteuren, die sich von der Leiche der Apartheid in Südafrika ernähren würden. "Das ist eine Phase, die wir durchlaufen müssen - wir müssen uns an die Geschichte dieses Landes erinnern. Die weiße Bevölkerung wurde von der Polizei beschützt, doch seit dem Ende der Apartheid erleben wir, wie das, was im Land seit längerer Zeit geschah, überschwappt. Viele der Schwarzen sagen, sie hätten damit jahrelang gelebt", meint der Wissenschaftler.
Inspiriert durch den Optimismus, der durch die Nobelpreisträger Nelson Mandela und Desmond Tutu verkörpert wird, stehen Südafrikaner wie Manseil zunehmend auf für ihr Recht auf eine friedliche Zukunft. In nahezu jeder nationalen Institution, auf fast jeder Ebene hat der Kampf gegen die Kriminalität Erfolge aufzuweisen. Ein komplexes Netzwerk von Organisationen, die Verbrechen bekämpfen, zieht sich durch die Städte. Es reicht von der Initiative Business against Crime bis zum National Institute for Crime Prevention and the Rehabilitation of Offenders. Neue Studien schließen extensive Verbrechenskarten der wichtigsten Städte ein, die auf die wahrscheinlichste Zeit und den wahrscheinlichsten Ort für jede Art eines Verbrechens verweisen. Die Rhodes University unweit von Port Elisabeth hat ein Institut eingerichtet, das Profile von Serienmördern erstellt. Das Institute for Security Studies analysiert Verbindungen zwischen Verbrechen und Drogenkonsum, und die Regierung hat Millionen US-Dollar in ein neues automatisches Fingerabdruck-System investiert, um den Prozess der Identifizierung von heute 55 Tagen auf unter zwei Wochen zu reduzieren. Auch sind Projekte in Vorbereitung, um wenigstens einige der mindestens 170.000 Gefängnisinsassen erfolgreicher zu rehabilitieren. Hunderte von ähnlichen Programmen laufen im ganzen Land, um ein moralisches Zentrum in einem Land wieder zu errichten, das viele Generationen bei der Suche nach sich selbst geopfert hat.
"Manchmal fragen mich die Leute, warum ich ein Entomologe bin, und ich glaube, es ist die Faszination an lebenden Kreaturen. Es gibt nichts, was Menschen sich erträumt haben, wovon nicht vor langer Zeit schon andere Tiere geträumt haben. Sie helfen dir zu verstehen, wie unser Planet funktioniert."
Und die menschliche Gesellschaft hat, genau wie die Insekten, die Möglichkeit, sich zu verbessern, glaubt er. "Das kann man in Tiergesellschaften beobachten: ein unglaublicher Uneigennutz. Wie bei den Ameisen haben manche Individuen ein Bedürfnis anderen zu helfen. Wir brauchen diese Leute, um die Familienstrukturen und Werte wiederherzustellen." Wie eine Schmeißfliege lässt sich Manseil auf seiner neuen Erkenntnis nieder und schaut in sein Mikroskop um zu sehen, wie viel sie taugt.
aus: der überblick 02/2003, Seite 98
AUTOR(EN):
Bobby Jordan:
Bobby Jordan arbeitet als Reporter der "Sunday Times", Südafrika.