Die Abenteuer eines Frosches und der Albtraum eines Mädchens
Es wurde schon dunkel, und so erschien dem Frosch das Stadtzentrum wie ein einziges Gewirr von blendenden Lichtern und Lärm, die nicht nur Bhaktaprasad, sondern jedem Tier aus dem kaanth, den Außenbezirken Kathmandus, einen Schock versetzt hätten. Hunderte von Leuten drängten in alle Richtungen vorbei, und ebenso Autos, Busse, Verkaufskarren, rikshas, Fahrräder und Motorräder.
Für einen Frosch hätte es einen sofortigen und unschönen Tod bedeutet, in einem solchen Irrenhaus einfach auszusteigen und sich auf Bodenhöhe zu begeben. “Keine besonders gute Idee.” sagte sich Bhaktaprasad. Zu Fuß konnte er Kathmandu nicht erkunden.
* * *
Bhaktaprasad hatte nicht mehr so viel Spaß gehabt, seit er mit seinen Kaulquappenkumpeln Fangen gespielt hatte. Seht ihn euch jetzt an, ein Reiter auf dem Rücken eines Königstigers! Und all die neuen Freunde! Er konnte sich einfach nicht mehr länger halten.“Juhu!” rief Bhaktaprasad. “Ich bin ein Held!”
Der Regenschauer zog ebenso schnell weiter, wie er gekommen war, und für einen Moment herrschte Stille im Wald. Dann ließen die Papageien von hoch oben einen Warnschrei ertönen: “Die Elefanten kommen! Die Elefanten kommen!” Bhaktaprasad schaute sich verwirrt um, als die Tiere hastig ins Unterholz und unter Wasser glitten. Gangster schleppte sich zum Fluss, atmete tief ein und ließ sich auf den Grund sinken, um das Verschwinden der Eindringlinge abzuwarten. Königin Tiger blickte sich entschuldigend zu Bhaktaprasad um, sagte “Tut mir leid.” und kippte den Frosch von ihrem Rücken in einen Haufen von Nashorndung, der ihm eine sanfte Landung ermöglichte.
Königin Tiger verschwand im hohen Gras. Das Fest war vorüber. Dann kamen die Elefanten ins Blickfeld getrampelt, eine ganze Schar, vielleicht fünf an der Zahl. Aber was war denn das? Das waren ja gar keine wilden Elefanten, wie Bhaktaprasad erwartet hatte. KaIe Kröte saß neben ihm und kommentierte die sonderbare Prozession, während sie vorbeizog: “Das sind gezähmte Elefanten, die von den Menschen trainiert worden sind, ihren Befehlen zu gehorchen. Und das da sind Touristen, die in haudahs auf den Rücken der Elefanten reiten. Sie kommen nach Chitwan, um uns Wildtiere zu sehen.”
Der Frosch und die Kröte spähten hinter dem Dunghaufen hervor und konnten deutlich sehen, dass die Touristen verstimmt waren. So viel Zeit und Geld hatten sie aufgewendet, um hierher zu kommen, und jetzt sahen sie trotzdem keines von Chitwans Tieren. Die Situation war wirklich äußerst bemerkenswert. Im Unterholz um sie herum waren Nashörner, Tiger, Lippenbären und Wildschweine verborgen, aber die Menschen ahnten nicht das Geringste! Ihre Kameras und Ferngläser hingen nutzlos an den Halsriemen herab.
Also haben sie einen Haufen Geld ausgegeben, um nach Chitwan zu kommen und dann doch nichts als Blätter, Äste und Baumstämme zu sehen!” rief Bhaktaprasad höchst belustigt. KaIe nickte und versuchte des schadenfrohen Glucksens Herr zu werden, bei dem sich sein dicker Bauch immer wieder ruckartig aufblähte und zusammenzog. Die zahmen Elefanten, die genauso unglücklich aussahen wie ihre menschlichen Passagiere, trampelten schließlich aus ihrem Blickfeld. Auf der gesamten Lichtung und in ihrer Umgebung konnte man die wilden Tiere kichern hören, die ihr Gelächter zu unterdrücken versuchten.
Oh, wie langweilig muss der Dschungel von Chitwan den Leuten erscheinen.” sagte Bhaktaprasad und drehte sich um...
* * *
Bhaktaprasads Doppelgänger war beeindruckt: “Oh, na gut. Ich bin jedenfalls Prajapati Pokhreli, aus einer Familie, die im Pokhara-Tal ansässig ist. Nenn mich einfach PP. Und dich selbst solltest du übrigens BB nennen!” sagte er und hüpfte zu Bhaktaprasad in den Schlamm. Offenbar liebte er das Schlammsuhlen genauso sehr wie sein Doppelgänger aus Kathmandu. Nur eine Narbe auf PPs Stirn unterschied ihn von Bhaktaprasad Bhyaguto.
Die beiden Frösche vertieften sich so sehr in den Austausch von Bemerkungen über die Täler von Pokhara und von Kathmandu, dass sie nicht bemerkten, wie die Dunkelheit einsetzte. Erst als schon die Glühwürmchen herauskamen, sah PP zum Ufer hinüber und rief: “He, die Party! Wir kommen zu spät, los, lass uns gehen!”
Tropfend von Wasser und Schlamm hüpften die beiden Frösche Richtung Stadt. Die weitläufige Froschfamilie Pokhreli, die schon seit Jahrhunderten an den Ufern des Phewa lebte, veranstaltete an diesem Abend eine Gala, um die Monsun-Pflanzzeit zu feiern.
Anders als die Menschen, die mit Festen wie Dasain die Erntezeit feiern, gaben die Frösche von Pokhara dem Ende des Reisanpflanzens eine besondere Bedeutung, weil zu dieser Zeit in den schlammigen Reisfeldern reichlich Insekten vorhanden waren. Regelmäßig wurden Picknicks im Freien abgehalten, bei denen sich die Frösche mit Moskitos, Libellen, Marienkäfern und verschiedenen Fliegenarten voll stopften.
Das Ende der Pflanzzeit im frühen Monsun könnte man problemlos auch Frosch-Dasain nennen.” sagte PP, während sie auf dem Weg zum Party-Treffpunkt waren.
Sie hüpften eine hell erleuchtete Straße voller Restaurants und Herbergen entlang. PP erklärte, dass auf den einstigen Feldern und Feuchtgebieten an diesem Teil des Phewa-Ufers Esslokale und Hotels gebaut worden waren, um an den Touristen zu verdienen, die heutzutage zu Tausenden nach Pokhara kamen. “Aber zur Zeit ist keine Saison, darum haben wir den Ort für uns alleine.”
“Keine Saison?”
“Na ja, die Touristen mögen keinen Regen, darum kommen sie während des Monsuns nicht hierher.”
Beim Gedanken an Wesen, die Regen nicht mochten, mussten PP und Bhaktaprasad beide lachen. Wie komisch! Sie lachten immer noch, als sie das Restaurant betraten, wo die Party der Pokhreli schon in vollem Gange war. Eine ortsansässige Band, “Die Amphibischen Vier”, tat ihr Bestes, um eine westliche Hip-Hop-Band zu imitieren, und auf der Tanzfläche hopsten Scharen von Fröschen im Takt der Musik herum, von ausgelassenen Jugendlichen, die noch Schwänze hatten, bis hin zu verschrumpelten Greisen. Menschliche Kellner liefen mit Tabletts herum, auf denen sie die überaus schmackhaften Fliegen servierten, die man aus dem indischen Bundesstaat Bihar importierte. Die Vielfalt der Gerichte war unvorstellbar: Es gab gebratene Fliegen, gesottene Fliegen, Fliegen in Öl, Reis mit Fliegen, Fliegen, die köstlich in einer dicken Blattlaussuppe schwammen, und Fliegenkäse.
Bhaktaprasad, der ja aus dem kaanth von Kathmandu kam, war ziemlich überwältigt von der weltmännischen Art und der Üppigkeit des Festes, das seine Artgenossen in Pokhara hier ausrichteten. Er saß an einem Ecktisch, ein Glas Fliegensaft in der Hand, und bemerkte, wie die Geschwindigkeit der Musik immer mehr zunahm und der Hip Hop-Bass immer schneller und lauter dröhnte. “Das muss ein Traum sein.” sagte er zu niemand Speziellem. Die gleich aussehenden Frösche, die sich nur durch ihr Alter unterschieden, hopsten immer höher, je wilder die Party wurde. Etwa um Mitternacht sprangen die Frösche so hoch, dass sie an die Decke des Restaurants stießen, und man konnte den zweifachen dumpfen Aufprall hören, wenn sie an die Decke prallten und anschließend wieder auf den Boden zurückplumpsten.
* * *
Das beschwingte Froschleben in Pokhara war wirklich Zeitalter entfernt vom ruhigen Dasein seiner eigenen Familie in Ichangu. “Beide von der selben Art, und doch liegen Welten dazwischen.” murmelte Bhaktaprasad ganz benommen. Er begriff, dass der ständige Kontakt mit der modernen Welt der Touristen und das ganze Geld, mit dem sie umgingen, die Lebensweise dieser Stadtfrösche verändert hatte. Ihre Vorstellung von dem, was normal war, unterschied sich jetzt ziemlich stark von seiner eigenen.
Im Laufe der Evolution hatte sich die Gattung Frosch über die ganze Welt bis hierhin ausgebreitet. Aber jetzt wurden neue Richtungen eingeschlagen, die nicht von der Evolution geplant waren. Hier in Pokhara entzogen sich die Pokhreli, wissentlich oder unwissentlich, dem Zugriff der Evolution. Ob das gut oder schlecht für Familie Pokhreli und Frösche im Allgemeinen war, war eine Frage, die zu beantworten Bhaktaprasad weder alt noch weise genug war. In der Menge der identischen Gesichter machte Bhaktaprasad seinen Freund PP aus, den er an der Narbe auf der Stirn erkannte, und winkte ihm, um sich zu verabschieden. Er machte sich schnell aus dem Staub, bevor PP ihn überreden konnte, noch länger zu bleiben, und begab sich zurück zu der Schlammsuhle am wundervollen Phewa-i See. Er musste früh aufstehen, wenn er nach Ghandrung wollte, denn für die folgenden Tage lag ein ordentliches Stück Trekking vor ihm.
In dieser Nacht spürte Großvater Buddhiprasad die Verwirrung, die die Party bei seinem Enkel ausgelöst hatte, und besuchte ihn im Traum.
Es ist schön, modern zu sein, Bhakte. Aber wenn Frösche ihre ganze Tradition mit einem Mal verlieren, verlieren sie auch die Orientierung. Sie können am Ende nicht mehr unterscheiden, was gut und was schlecht ist. Zu viel von allem, auch zu viel Veränderung, ist schlecht. Das ist alles sehr kompliziert, Bhakte. Ich glaube, es ist am besten, wenn du jetzt ruhig weiterschläfst.”
Literatur
Kanak Dixits “Bhaktes Nepalreise. Die Abenteuer eines Frosches im Himalaja” wurde von Phillip Thapa übersetzt und von der Deutsch Nepalesischen Gesellschaft herausgegeben.
Copyright © 2001, Deutsch-Nepalische Gesellschaft e. V., Postanschrift: Postfach 19 03 27, 50500 Köln.
Ein Feuer brennt in der kleinen Grube. Das feuchte Holz zischt und dampft. Die Augen der Frauen tränen. „Großmutter, meine Augen brennen”, sagt die vierzehnjährige Enkelin. „Ich gehe ins Bett.” Sie weiß, dass ihre Großmutter im Haushalt bestimmt und dass sie ohne deren Erlaubnis die Feuerstelle nicht verlassen kann. Die alte Frau ist 60 Jahre alt. Die Mutter des Mädchens und auch die Tanten tun, was ihnen die Großmutter sagt. Wie könnte sich die Jüngste da widersetzen? Die alte Badi-Frau versteht den Wunsch der Enkelin. Und gern würde sie ihr erlauben, ins Bett zu gehen. Plötzlich aber ändert sie ihre Meinung. “Geh nur”, sagt sie, “wenn du morgen verhungern willst!”
Der Reichtum der alten Badi-Frau basiert auf ihren drei Töchtern und der Enkelin. Die Mutter brachte ihnen bei, all das bittere Gift zu trinken, das sie selbst trinken musste.
Viele, viele Jahre ihres Lebens hat sie in diesem Haus und in diesem Hof verbracht. Die Tage, an denen sie für Geld in den Städten sang und tanzte, sind nur eine Erinnerung. Alles was jetzt getan werden muss, wird von diesen Töchtern und dieser Enkelin getan. Sie meint es gut mit ihnen. Um den Hunger zu bekämpfen braucht man Reis, Gemüse, Salz und Öl. Aber es reicht nicht, nur die Mägen zu füllen; sie können nicht nackt herumlaufen. Sie brauchen Saris. Sie brauchen Blusen und blitzenden Schmuck, den sie tragen können. Roter Lippenstift ist absolut notwendig, wie sollen die Leute sie sonst erkennen?
Sie hört Schritte ganz in der Nähe des Hauses. Und sie hört das Gemurmel von Stimmen im Dunkeln. “Ich habe euch nicht umsonst warten lassen!” Sie wird aufgeregt. Sie denkt an heißen Reis. Sie schmatzt mit den Lippen und denkt an Tomaten Chutney, den sie essen werden. Sie stellt sich vor, wie sich die Familie glücklich um das Essen versammelt. Sie streichelt den Kopf der Enkelin: “Wenn sie dich nicht aussuchen, kannst du direkt ins Bett gehen. Mein süßes Mädchen. Mein gehorsamer kleiner Vogel.”
Zum Schluss starren die Jugendlichen auf die vierzehnjährige Enkelin, die in einem Alter ist, in dem man spielen und zur Schule gehen sollte. Sie sitzt an der Feuerstelle und raucht eine Zigarette. Sie trägt roten Lippenstift, als wenn sie ihre Reife erzwingen wollte. Jetzt ist sich die alte Badi-Frau sicher, dass er das Mädchen aussuchen wird. Sie kann nicht mit ansehen, was vor ihren eigenen Augen passiert. Wenn sie nur das Geld da lassen und es hinter sich bringen, denkt sie.
Die Enkelin nimmt eine Öllampe und geht durch ein Loch in der Lehmwand. Dahinter ist die Treppe. Der junge Mann folgt ihr.
Nach ein paar Minuten beginnt der Raum über den Frauen zu beben und kleine Lehmstücke fallen dorthin, wo sie sitzen. Sie haben alle ein seltsames Gefühl. Niemand spricht es aus. Dann hören sie einen Schrei. Einen menschlichen Schrei. Einen Schrei voller Schmerz. Der Schrei senkt sich dorthin, wo sie sitzen. Er bleibt nicht lang. Er verlässt das Haus. Er zerstreut sich im Himmel, wo er sich in Blitz und Donner verwandelt. Er bewegt sich hin und her auf der Suche nach einem Ort, wo er zuschlagen kann. Er hallt durch die Landschaft und trifft das wichtigste Gebäude.
Bei den Dorfbewohnern heißt es: “Früher, vor vielen Jahren gab es schon einmal einen solchen Blitz und Donner. Ein Mann spannte Kinder anstelle von Ochsen vor den Pflug, um das Feld zu bearbeiten. Die Kinder starben.” Seitdem wurde diese Geschichte immer wieder erzählt und im Dorf heißt es: Das ist der Höhepunkt der Unmenschlichkeit. Niemand aber weiß, ob es eine wahre Geschichte oder eine Erfindung ist.
Literatur
Auszüge aus Dhruba Sapkota: “Der Schrei”, veröffentlicht in Nepali und Englisch. Diesen Auszug hat Jörn Klare übersetzt.
aus: der überblick 03/2004, Seite 104