Strategien und Grundsatzentscheidungen bei der Gestaltung sozialer Sicherungssysteme
In allen Teilen der Welt haben zahlreiche Staaten umfassende Reformen ihrer Systeme der sozialen Sicherung begonnen. Es geht zum einen darum, wie angesichts einer veränderten Altersstruktur der Bevölkerung die Finanzierung der Systeme gesichert werden kann. In vielen Entwicklungsländern müssen allerdings umfassende Systeme sozialer Sicherung überhaupt erst aufgebaut und ausgeweitet werden, sodass sie alle Bevölkerungsgruppen erfassen. Dabei geht es nicht nur darum, das Management zu verbessern, sondern auch, die Reichen in der Gesellschaft zu mehr Solidarität mit ihren ärmeren Mitbürgern zu bewegen.
von Colin Gillion
Die letzten Jahre des 20. Jahrhunderts mögen im Rückblick als eine der großen Wasserscheiden in der Entwicklung der Sozialpolitik erscheinen. Eine große Anzahl von Ländern erwägen oder planen zur Zeit größere Veränderungen ihrer Systeme der sozialen Sicherung oder führen solche bereits durch. Andere weiten ihre Systeme umfassend aus, wobei sie häufig von einer sehr begrenzten Basis ausgehen. Es gibt kaum noch ein Land, wo die Reform, Entwicklung, Anpassung, Verbesserung oder Modifizierung von Systemen der sozialen Sicherung nicht auf der politischen Tagesordnung steht. In zehn Jahren könnte sich die internationale Landschaft des Sozialschutzes bis zur Unkenntlichkeit verändert haben.
In China plant die Regierung größere Reformen der Rentensysteme, der Arbeitsunfallversicherung, der Arbeitslosenversicherung und der Krankenversicherung. In Thailand und in Palästina werden Programme zur sozialen Sicherung – aus verschiedenen Gründen und in sehr verschiedenen Situationen – von einer sehr begrenzten Basis aus entwickelt. In etlichen Ländern, vor allem in Südostasien und in Ostafrika, werden Landesvorsorgefonds in Rentensysteme umgewandelt. Umgekehrt wechseln in Lateinamerika viele Länder zu privat verwalteten Rentensystemen mit individuellen Kapitalkonten oder haben das bereits getan. In Mittel- und Osteuropa stehen die meisten Länder vor der Aufgabe, ihre Renten- und Gesundheitsversorgungssysteme fast vollständig umzugestalten und neue Programme der Arbeitslosenversicherung und der sozialen Sicherungsnetze einzurichten. In Afrika nehmen viele Systeme, wie das in Madagaskar, eine grundlegende Reform ihrer Gestaltung und ihres Erfassungsbereichs, ihrer Organisation und ihres Managements vor.
Manche Länder wie Chile haben schon vor mehreren Jahren bedeutende Reformen durchgeführt. Andere wie Nigeria sind mitten in ihrem Umgestaltungsprozess. Noch andere wie Vietnam fangen mit den Veränderungen gerade erst an. Abwartend verhalten sich noch Länder wie Kuba, Südafrika und Nepal. Auch die geschichtliche Entwicklung ist unterschiedlich. In Uruguay gibt es seit langem ein System der sozialen Sicherung, doch das Land plant nunmehr eine radikale Umgestaltung. Die Veränderungen beschränken sich nicht auf Entwicklungsländer und ehemals kommunistische Länder im Übergang. Auch in Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Gruppe der Industrie- und weit entwickelten Schwellenländer, findet eine große Diskussion darüber statt, welche Auswirkungen die veränderte Altersstruktur der Bevölkerung auf die Bezahlbarkeit der bestehenden Rentensysteme haben wird.
Wie die Aufzählung nahe legt, ist der Druck für Reformen und Entwicklung je nach Land sehr unterschiedlich. In vielen Ländern ergibt sich der Anstoß dazu direkt aus einem Prozess der wirtschaftlichen Anpassung: Erweiterte Systeme des Sozialschutzes sind erforderlich, um die nachteiligen sozialen Folgen der Strukturanpassung und der wirtschaftlichen Stabilisierung oder von Finanzkrisen zu bewältigen. In einem ähnlichen Zusammenhang haben die ungeheuren Umgestaltungen, die mit dem Übergang von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft verbunden sind – vor allem, aber nicht nur in den Ländern Mittel- und Osteuropas –, es mit sich gebracht, dass viele der zuvor von Staatsunternehmen wahrgenommenen Aufgaben nunmehr als echte Systeme der sozialen Sicherung neu aufgebaut werden müssen. Neue Systeme der Arbeitslosenversicherung und soziale Sicherungsnetze müssen entwickelt werden, um die große Anzahl von Arbeitnehmern zu versorgen, die in dem veränderten Umfeld eines auf Wettbewerb beruhenden Arbeitsmarktes arbeitslos geworden sind.
In manchen Ländern war das nachhaltige Wirtschaftswachstum und die Urbanisierung die treibende Kraft. Bevölkerungsgruppen, die zuvor Systeme der sozialen Sicherung nicht in Erwägung gezogen haben, weil sie zu arm waren oder in ländlichen Gebieten mit traditioneller wechselseitiger Hilfe lebten, betrachten diese nunmehr als wesentlichen Bestandteil auf dem Weg zu einer wohlhabenderen industriellen Gesellschaft. Der Prozess der Demokratisierung hat die Ereignisse ebenfalls beeinflusst. In Brasilien und einer Reihe anderer Länder in Lateinamerika wurde in neue Verfassungen der Zugang zur sozialen Sicherung als eines der Grundrechte aller Staatsbürger aufgenommen. In einer Reihe von Ländern findet eine Umstrukturierung statt, einfach weil erkannt wird, dass bestehende Systeme sowohl in Bezug auf ihre Wirksamkeit als auch in Bezug auf ihre allgemeine Gestaltung gescheitert sind.
Was ist soziale Sicherung? Der Begriff bezieht sich in der Regel auf Programme, die einen spezifischen Notfall lindern sollen. Sie sind gewöhnlich beitragsfinanziert, und die Empfänger erhalten die Leistungen entsprechend ihrer Beteiligung und erworbenen Ansprüche (obwohl die Leistungen anteilsmäßig nicht unbedingt den individuellen Beiträgen entsprechen). Der Schutz schließt sowohl Programme der sozialen Sicherung als auch andere Formen von Leistungen und Diensten ein wie Familienförderung, allgemeine Gesundheitsdienste oder Mindesteinkommen, die in der Regel ohne Rücksicht auf finanzielle Beteiligung, Beiträge oder Beschäftigungsstand erhältlich sind; dabei kann es allerdings eine Bedürftigkeitsprüfung geben. Die Unterscheidung ist jedoch fließend.
Bei der gegenwärtigen Welle von Reformen fällt die Bereitschaft auf, Veränderungen von großem Umfang ins Auge zu fassen und durchzuführen. Viele jetzt vorgenommene Reformen werden und sollen grundlegende Auswirkungen auf die Struktur der Gesellschaft und auf die Volkswirtschaft haben. Eine große Anzahl von Personen sind beteiligt, und die umverteilten Mittel machen einen bedeutenden Teil des Bruttoinlandsprodukts aus. Bei erfolgreicher Durchführung werden die Systeme erhebliche Auswirkungen auf den Gesundheitsstand der Bevölkerung und die Armut unter älteren Menschen, Arbeitslosen und Benachteiligten haben. Längerfristig werden sie vermutlich die allgemeine Einkommensverteilung stark beeinflussen.
So bedeutend wie der Umfang der Veränderungen ist ihr Tempo. Programme der sozialen Sicherung entstanden in den Industrieländern als Folge eines Entwicklungsprozesses. Ihre Ursprünge gehen im Wesentlichen auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück, doch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten sie sich nur langsam weiter. Erst nach dem Ende des 2. Weltkrieges nahmen sie in allen OECD-Ländern rasch zu. Heute machen dort im Durchschnitt fast 25 Prozent des Volkseinkommens aus. So ist die Geschichte der sozialen Sicherung sogar für die Industrieländer nur kurz und erstreckt sich im Wesentlichen auf vier bis fünf Jahrzehnte raschen Wachstums. Doch viele Entwicklungsländer versuchen nun, das Gleiche in vier bis fünf Jahren zu erreichen. Gemeinsam ist dem Reformprozess die plötzliche Dringlichkeit. Das bedeutet nicht nur für Politiker, Analytiker und Fachleute, die neue Systeme entwerfen müssen, große Belastung, sondern auch für die gesamte Bevölkerung, die neue Systeme billigen und akzeptieren muss, sowie für den Prozess des sozialen Konsenses, ohne den die Systeme scheitern würden.
Trotz der unterschiedlichen Geschichte, Umstände und Vereinbarungen haben fast alle Systeme der sozialen Sicherung und/oder des Sozialschutzes eine gemeinsame Reihe von grundlegenden Zielen. Dabei geht es vor allem um den Bereich, den sie erfassen, die Fälle, in denen Leistungen erbracht werden, und die Höhe der Leistungen. Diese Ziele sind im Übereinkommen Nr. 102 aus dem Jahr 1952 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über die Mindestnormen der Sozialen Sicherung festgeschrieben. Es legt allgemein fest, dass soziale Sicherung für die weitaus meisten Arbeitnehmer und ihre Familien gelten sollte, dass die Leistungen mindestens ausreichen sollten, um große Härten im Falle von Unfall, Krankheit, Alter oder anderen Risiken des Lebens zu vermeiden, und dass es neun Hauptleistungsformen geben sollte. Das sind ärztliche Betreuung, Krankengeld, Leistungen bei Arbeitslosigkeit, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, bei Alter, bei Mutterschaft, Leistungen bei Invalidität, sowie Leistungen an Familien und Hinterbliebene.
Das Übereinkommen macht auch allgemeine Angaben über die Finanzierung dieser Leistungen, nämlich durch Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, und es wird eindeutig als Aufgabe des Staates betrachtet, dafür zu sorgen, dass die vorgesehenen Leistungen und Dienste auch tatsächlich erbracht werden. Das schließt die Möglichkeit nicht aus, dass die soziale Sicherung oder der Sozialschutz ganz oder teilweise aus allgemeinen öffentlichen Einkommen finanziert werden. Der Staat ist jedoch nicht verpflichtet, die Leistungen und Dienste selbst zu erbringen; er muss lediglich dafür sorgen, dass sie erbracht werden.
Die Entwicklungsländer und Länder im Übergang sollten diese internationalen Arbeitsnormen und die allgemeineren internationalen Erklärungen als etwas ansehen, was anzustreben ist. In den Industrieländern ist die Politik des Sozialschutzes zumeist erheblich über das hinausgegangen, was in den ILO-Übereinkommen gefordert wird, doch in Entwicklungsländern bestehen nicht nur große Unterschiede bei dem, was bereits besteht, sondern auch zwischen dem, was angestrebt wird, und der derzeitigen Realität.
Über 146 Länder auf der ganzen Welt besitzen die eine oder andere Form von sozialer Sicherung. 1950 waren es nur knapp unter 50. Die Liste der Mängel ist aber lang. Nur in wenigen Entwicklungsländern gibt es eine Absicherung gegen alle wichtigen Risiken. In vielen ist nur eine kleine Minderheit von Arbeitnehmern im formellen Sektor der Wirtschaft (manchmal nur Beschäftigte des öffentlichen Dienstes) von den Systemen erfasst; die Leistungen sind oft gering und entsprechen bei weitem nicht dem, was selbst unter Berücksichtigung der allgemein niedrigen Einkommen als angemessen betrachtet werden könnte. Diese Mängel werden häufig noch verschärt durch Mängel bei der Umsetzung, etwa im Management, in der Verwaltung, der Finanzorganisation oder der Kostenrechnung. Hinzu kommt manchmal Korruption. Das bedeutet, dass selbst die vorgesehenen geringen Leistungen nicht erbracht werden. Nur in wenigen Entwicklungsländern gibt es Leistungen bei Arbeitslosigkeit oder Programme der Sozialhilfe. In vielen ist die medizinische Grundversorgung rudimentär und unzureichend, selbst wo fast alle Zugang dazu haben. Und schätzungsweise über 90 Prozent der Weltbevölkerung haben keine angemessene Einkommenssicherung im Alter.
Diese Kluft zwischen den internationalen Idealen und den tatsächlichen Verhältnissen, zwischen Gesetzgebung und Praxis, zwischen Bedarf und Realität und zwischen Industrie- und Entwicklungsländern erzeugt Spannungen, die zu anderen Problemen wie Auswirkungen der Strukturanpassung, des Übergangs zur Marktwirtschaft oder der Demokratisierung noch hinzukommen. Die Notwendigkeit von Veränderungen einzusehen ist relativ leicht, doch die Umsetzung ist schwieriger.
Ein offensichtliches Problem ist, dass häufig nur ein geringer Anteil der Bevölkerung im formellen Sektor der Wirtschaft lebt und arbeitet. Systeme der sozialen Sicherung, die mehr sein sollen als einfache Mechanismen persönlicher Spartätigkeit oder Versicherung – das heißt solche, die ein Maß an Solidarität und/oder Einkommensumverteilung mit sich bringen –, müssen in einem Rahmen verankert sein, der obligatorische Beiträge als Gegenleistung für den Anspruch auf Leistungen gewährleisten kann. Die herkömmliche Struktur, die dies ermöglicht, ist die formelle Beschäftigung: Arbeitsverträge lassen sich zu Beitragszwecken kontrollieren und bewerten. Der Gesamtumfang von Beitragseinnahmen hängt also von der Größe des formellen Sektors ab. Außerhalb dieses Bereichs ist die Bevölkerung für herkömmliche Systeme der sozialen Sicherung nur schwer zu erreichen.
In Afrika sind weniger als 20 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung im formellen Sektor tätig. In Lateinamerika ist der Anteil höher, jedoch in vielen Ländern der Region immer noch beschränkt. In Asien ist der Anteil sehr unterschiedlich. Länder Mittel- und Osteuropas hingegen sind dabei, die Planwirtschaften zu überwinden, in denen fast die gesamte erwerbstätige Bevölkerung dem formellen Sektor angehörte, während heute der informelle Sektor mit selbstständig Erwerbstätigen rasch zunimmt.
Ein weiterer Faktor, der die Ausweitung solcher Systeme behindert, ist sozialer und politischer Natur. Die Einkommen sind in vielen Entwicklungsländern sehr ungleich verteilt, was durch einen ungleichen Zugang zu politischer Macht und politischem Einfluss noch verstärkt wird. Es ist schwierig, die wohlhabenderen Teile der Gesellschaft – nicht nur die Reichen, sondern auch wohlhabende Arbeitnehmer mit guten Arbeitsplätzen wie Angehörige der Streitkräfte, Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und Arbeitnehmer in den größeren staatlichen und Privatunternehmen – dazu zu bringen, Beiträge zu Systemen zu leisten, die ein bedeutendes Maß an Solidarität und Einkommensumverteilung mit sich bringen, vor allem dort, wo die Beitragshöhe von der Höhe des Einkommens abhängt. Wo Leistungen anteilsmäßig mehr oder weniger den Beiträgen entsprechen, mag der Widerstand gegen die Entwicklung eines umfassenden Systems der sozialen Sicherung gering sein. Das ist der Fall bei bestimmten Formen von Rentensystemen oder Versicherungssystemen, wo die Risiken für alle Beitragszahler mehr oder weniger die gleichen sind und Leistungen anteilsmäßig den Beiträgen entsprechen. Wo die Leistungen jedoch eher nach Bedarf denn nach Beiträgen erbracht werden, dürften besser bezahlte Arbeitnehmer größeren Widerstand leisten. Das gilt für die meisten Armutsbekämpfungsprogrammen, bei Rentensystemen, die Mindestleistungen für alle Mitglieder vorsehen, oder bei Krankenversicherungen, wo Krankheiten je nach Bedarf ungeachtet der geleisteten Beiträge behandelt werden. In solchen Situationen besteht die Tendenz, mehrstufige Systeme zu entwickeln, bei denen Besserverdienenden, die höhere Beiträge zahlen, auch höhere Leistungen gewährt werden.
Besser bezahlte Gruppen könnten aus den allgemeinen Systemen auszuscheiden versuchen und diese eines bedeutenden Teils ihrer Finanzen berauben. Häufig geht das zulasten von Systemen, die für niedrigere Einkommensgruppen gedacht sind, und oft führt das dazu, dass diese von allen Formen der sozialen Sicherung ausgeschlossen sind. In diesen Fällen wird die Ausweitung des sozialen Schutzes, selbst in dem vom formellen Sektor insgesamt gesteckten Rahmen, schwierig und ungewiss.
Jedes Land, das eine größere Reform der sozialen Sicherung in Erwägung zieht, muss sich mit zwei wichtigen Anliegen befassen: der Gestaltung des Systems und seiner Verwaltung. Zur ersteren zählen alle Parameter, die festlegen, wer wie viel und unter welchen Umständen zahlt und wer wie viel gemäß welchen Ansprüchen und unter welchen Umständen erhält. Sie umfasst ferner eine Reihe von Fragen in Zusammenhang mit der finanziellen Lebensfähigkeit der Systeme, und im Falle von Krankenversicherungssystemen bestimmt sie das Verhältnis zu den Erbringern von Gesundheitsleistungen, deren Organisation, die Qualität der zu erbringenden Dienste sowie Höhe und Methode ihrer Entlohnung. Die Führung der Verwaltung umfasst alle Angelegenheiten, die gewährleisten, dass die Systeme, wenn sie erst einmal gesetzlich verankert sind, effizient und effektiv arbeiten können. Dazu gehören Fragen der institutionellen Struktur, des Managements einschließlich des Finanzmanagements, der Verwaltung, der Betriebsmethoden, der Verfahren, die eine ordnungsgemäße Ausführung der Aufgaben gewährleisten, sowie die Ausbildung von Personal. Ferner gehören dazu Fragen nach der Autonomie der Einrichtungen der sozialen Sicherung, ihren Beziehungen zur Regierung und der Aufnahme von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Beteiligten sowie Regierungsvertretern in ihren Vorstand.
Die beiden Fragen hängen eindeutig zusammen. Wenn die Voraussetzungen die gleichen sind, werden Länder ein System so gestalten wollen, dass ihre spezifischen sozialen Ziele möglichst genau erreicht werden und die schädlichen Auswirkungen auf die Volkswirtschaft und den Arbeitsmarkt möglichst gering sind. Bei der Gestaltung von Systemen der sozialen Sicherung müssen die genannten Zwänge und die Notwendigkeit einer umfassenden Unterstützung durch die Gemeinschaft berücksichtigt werden. Optimale Lösungen sind jedoch häufig kompliziert, nicht nur in Bezug auf ihre analytische Komplexität, sondern auch in Bezug auf ihre praktische Durchführbarkeit. Wenn es Probleme bei ihrer Durchführung gibt, könnte es besser sein, etwas Einfacheres anzuwenden. Alles, was irgendwie funktioniert, ist besser als etwas, was nicht funktioniert. Wer Beiträge zu einem System leistet, das keine angemessenen Leistungen erbringt, erleidet einen doppelten Verlust, weil er zu einem System beigetragen hat, ohne Leistungen zu erhalten, und weil er nicht die persönlichen Vorkehrungen getroffen hat, die er ohne dieses System vielleicht getroffen hätte. Sowohl gute Gestaltung als auch gute Verwaltungsführung sind erforderlich, und bei Reformvorschlägen muss beides in Betracht gezogen werden.
Bei der Gestaltung von Systemen hat sich in jüngster Zeit die Debatte – nicht nur in Industrieländern – vor allem auf die Entwicklung von pluralistischen Strukturen konzentriert, bei denen vom Staat finanzierte Systeme, beitragsfinanzierte Systeme der sozialen Sicherung und individuelle und in der Regel privat organisierte Zusatzsysteme eine Rolle spielen. Die verschiedenen Stufen dieser Strukturen bieten genügend Flexibilität, um der Situation in einer großen Reihe von Ländern gerecht zu werden, und sie erkennen gleichzeitig die wirtschaftlichen und die sozialen Zwänge an. Sie entsprechen auch stärker den Zielen, oder zumindest denen, die am ehesten erreichbar erscheinen.
Bei den Rentensystemen gehören zu diesen Zielen vor allem für die gesamte Bevölkerung der Schutz vor Armut im Alter, bei Invalidität oder beim Tod eines Hauptverdieners, die Bereitstellung eines Einkommens als Ersatz für Einkommensverluste aufgrund von freiwilligem oder unfreiwilligem Eintritt in den Ruhestand, die Anpassung dieses Einkommens unter zumindest teilweisem Ausgleich des allgemeinen Anstiegs der Lebenshaltungskosten, schließlich die Schaffung eines Umfeldes für die Entwicklung von zusätzlichen Vorkehrungen für den Ruhestand. Die angemessene Struktur besteht somit aus einer allgemeinen, staatlich finanzierten Grundrente, einem beitragsfinanzierten Systems der sozialen Sicherung mit einer Leistungsstaffelung entsprechend der geleisteten Beiträge und einer persönlichen dritten Zusatzstufe in Form eines beitragsabhängigen Rentensystems, das entweder privat oder öffentlich verwaltet wird.
Bei der Gestaltung der Reformen sind viele weitere Faktoren wichtig, doch einer ragt heraus: die Frage des Rentenalters. In Ost- und Mitteleuropa, in China und in zahlreichen anderen Ländern wird damit gerechnet, dass der Anteil der älteren Menschen gegenüber erwerbstätigen Personen in den nächsten Jahrzehnten sowohl infolge der früheren Rückgänge der Geburtenraten als auch infolge höherer Lebenserwartung sehr rasch zunimmt. Man geht davon aus, dass die Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppe bei einem niedrigen Rentenalter nicht erfüllt werden können, und viele Länder – insbesondere die früheren kommunistischen Länder – müssen im Rahmen ihrer Reformen das Rentenalter heraufsetzen. Das ist ein Prozess, der häufig politische Probleme schafft.
Neben diesen strukturellen Fragen besteht das Problem der Verwaltungsführung. Systeme der sozialen Sicherung sind zwangsläufig komplex. Dabei ist eine präzise Führung von Unterlagen erforderlich – im Falle von Renten über einen langen Zeitraum. Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer müssen die Vorschriften genau einhalten, und die Träger der sozialen Sicherung müssen die Leistungen prompt und verlässlich auszahlen. Das erfordert gutes Management und eine angemessene Höhe der Verwaltungskosten. Die Systeme können ferner nur funktionieren, wenn die Regierung die Finanzmittel der sozialen Sicherung nicht für andere Zwecke verwendet, wenn sie angemessene Investitionsmöglichkeiten für diese Gelder gewährleistet und wenn sie nichtstaatliche Systeme überwacht, reguliert und kontrolliert. In vielen Entwicklungsländern funktionieren diese Vorkehrungen nicht oder so schlecht, dass Erfassungsbereiche und Leistungen nicht so umfassend und effektiv sind, wie es die Gesetzgebung vorsieht. Es mangelt an ausreichenden Managementfähigkeiten, das Personal ist ungenügend ausgebildet. Es gibt weder genügend Computer noch ausreichend geführte Unterlagen, und die Verwaltungskosten können sehr hoch sein – gelegentlich 20 bis 30 Prozent der gezahlten Prämien. In manchen Fällen gibt es erhebliche Korruption. Oder Rentensysteme werden gezwungen, in Staatsschuldverschreibungen zu investieren, sehr häufig zu negativen Zinssätzen; in anderen Fällen werden die Finanzmittel der sozialen Sicherung ganz einfach enteignet.
Verschiedene Wege können zur Verbesserung von Management und Verwaltung führen. Nötig sind die Verbesserung des Finanzmanagements vor allem hinsichtlich der Investition von Finanzmitteln der sozialen Sicherung, die regelmäßige versicherungsmathematische Kontrolle der Systeme, die Entwicklung und Anwendung von elektronischen Datenverarbeitungstechniken und ihr Einsatz bei der Führung von Unterlagen. Ferner muss man sich mehr bemühen, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber (und manchmal die Regierung) die Bestimmungen auch beachten und notfalls ihre Beachtung gerichtlich erzwingen. Auch müssen Schulungs- und Personalförderungsprogramme eingerichtet werden – insbesondere auf der Ebene des mittleren Managements.
Wo eine pluralistische Struktur von Programmen der sozialen Sicherung geschaffen wird, kann es auch notwendig sein, ein allgemeines Aufsichtsorgan einzurichten, das von der Regierung und den verschiedenen Verwaltungsstellen unabhängig ist, um die Koordination zu gewährleisten und sowohl die öffentlichen als auch die nichtöffentlichen Leistungen zu regulieren und zu überwachen.
Welches sind zusammenfassend die wichtigsten globalen Aufgaben für die Reform der sozialen Sicherung? Zunächst muss der Erfassungsbereich von Programmen der sozialen Sicherung und des Sozialschutzes auf einen so großen Bevölkerungskreis wie möglich ausgeweitet werden. Das bedeutet zweierlei: eine Ausweitung der konventionellen Systeme der sozialen Sicherung bis zu den von formellen Beschäftigungs- und Steuersystemen gesetzten Grenzen; ferner die Entwicklung eines alternativen Rahmens des Sozialschutzes, der es ermöglichen wird, die Systeme auf den nicht erfassten informellen Sektor der Bevölkerung zu erweitern. Selbst wenn man akzeptiert, dass in Entwicklungsländern nur beschränkte öffentliche Mittel zur Verfügung stehen, könnte viel getan werden, um öffentliche Ausgaben für Sozialprogramme zu erhöhen und ihnen eine höhere Priorität zu geben, insbesondere gegenüber unproduktiven Ausgaben wie denen für das Militär. Es müssen ferner in Einklang mit den internationalen Arbeitsnormen Ansätze entwickelt werden, um die Bereitschaft der höheren Einkommensgruppen zu verstärken, die Reform zu unterstützen und das größere Ausmaß an Solidarität und Einkommensumverteilung zu akzeptieren, ohne die ein umfassenderes System der sozialen Sicherung nicht funktionieren kann. Die Systeme der sozialen Sicherung müssen schließlich so gestaltet werden, dass sie flexibel, pragmatisch, durchführbar und finanziell lebensfähig sind und den beschränkten Umständen und Fähigkeiten von Entwicklungsländern entsprechen. Vor allem muss das Management von Systemen der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern verbessert werden.
Die Entwicklung der sozialen Sicherung ist eine Gemeinschaftsangelegenheit, und die Hauptverantwortung dafür liegt bei den betroffenen Ländern. Dass die Veränderungen so umfassend sind und dass viele von ihnen zum ersten Male vorgenommen werden, bedeutet jedoch, dass die meisten Länder beim Reformprozess gerne auf Erfahrung und Hilfe von außen zurückgreifen. Bei der Formulierung ihrer Pläne und auch bei ihrer Umsetzung werden sie die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft benötigen.
Literatur
Gillion, Otting, Cichon und Iyer: "Health care and pensions in developing countries: The basis for strategy"; in: International Labour Review, Vol 132, 1993, No 2.
Gillion, Turner, Bailey und Latulippe (Hrsg.): Social Security Pensions: Development and Reform. ILO, Genf 2000.
aus: der überblick 01/2001, Seite 18
AUTOR(EN):
Colin Gillion:
Colin Gillion war Direktor der Abteilung Soziale Sicherung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen. Er lebt jetzt im Ruhestand in Ferney-Voltair in Frankreich.