Nichtstaatliche Organisationen werden zum Partner von Regierungen und gleichen notdürftig den Rückzug des Staates aus
Ein Mythos geht um: der von den nichtstaatlichen Organisationen, den NGOs (non-governmental organisations). Seit den achtziger Jahren haben sie in wachsender Zahl die politische Bühne betreten: lokale Initiativen, emsige Partnerschaftsvereine, kämpferische Lobbygruppen, mildtätige Hilfswerke, weltweit tätige Öko-Profis, medienbewusste Humanitätsexperten und internationale Menschenrechtsorganisationen. Gemeinsam ist den selbstlosen Akteuren der Anspruch, stellvertretend für die Interessen anderer tätig zu sein, für andere Menschen, wenn nicht gar die Menschheit.
von Thomas Gebauer
Im rasanten Anwachsen der Zahl der NGOs spiegeln sich die Veränderungen der politischen Verhältnisse in den zurückliegenden Jahrzehnten wider. Utopische Emanzipationserwartungen sind verblasst, und die theoretisch fundierte Gesellschaftskritik wurde zu Gunsten des sich selbst genügenden unmittelbaren "Zupackens" aufgegeben. Das hat einem politischen Pragmatismus das Feld bereitet, der nicht mehr auf außerparlamentarischen Protest und strukturelle Veränderung setzt, sondern auf Kooperation. Der Vorsatz "nichtstaatlich" bedeutet für die meisten NGOs eben nicht systemkritische Ablehnung von Staatlichkeit, sondern geradezu den Wunsch, an der Seite von Regierungsvertretern die Politik und die Zukunft zu gestalten.
Und tatsächlich dürfen NGOs das inzwischen. Insbesondere in den "weichen" Politikfeldern der Sozial- und Umweltpolitik sorgen sie für die Benennung von Missständen, für Anstöße zu öffentlichen Debatten - das agenda-setting -, für die Mobilisierung von Sachverstand oder für die Beratung von Wirtschaftsbossen in Fragen der Ethik - das coaching. Kostengünstig übernehmen NGOs Planungsaufgaben, entwickeln "Frühwarnsysteme", überwachen die Einhaltung von Standards oder Vereinbarungen und leisten vielfältige öffentliche Aufgaben, aus denen der Staat sich zurück gezogen hat.
Und darin liegt der zweite Grund für den enormen Bedeutungszuwachs von NGOs: im tendenziellen Versagen des Staates, das die private Initiative begünstigt hat. Die globale Entfesselung des Kapitalismus, die in den siebziger Jahren in Gang gesetzt wurde, hat nicht nur zu Rückschritten in der Umwelt- und Sozialpolitik geführt, sondern die Spielräume der Staaten insgesamt beschränkt. Die liberale Demokratie, wie sie bis dahin bestanden hat, wurde in ihren Grundfesten erschüttert, als weltweit tätige Konzerne sich nationalstaatlicher Regulation zu entziehen begannen und einzelne Regierungen nicht mehr imstande waren, grenzüberschreitenden Problemen, beispielsweise der Klimakatastrophe, zu begegnen.
Im Verlauf der Globalisierung der Wirtschaft aber hat sich auf politischer Ebene kein internationales Regulationssystem, kein "Weltstaat" herausgebildet. Es fehlt eine demokratische Repräsentation auf internationaler Ebene. In diese Lücke sind die NGOs gestoßen. Unerschrocken drängen sie auf eine rationale Gestaltung der "Weltpolitik", die von einem immer undurchsichtiger werdenden Geflecht von internationalen Organisationen, einigen Staaten, multinationalen Konzernen und zunehmend auch mafiösen Kreisen bestimmt wird.
Seit der UN-Umweltkonferenz in Rio im Jahr 1992, bei der erstmals mehr als 2000 NGOs akkreditiert waren, sind Veranstaltungen dieser Art ohne Beteiligung von NGOs kaum noch denkbar. Aus den früheren Demonstranten, die vom UN-Jet Set zunächst nur naserümpfend akzeptiert wurden, sind unterdessen geschätzte Fachleute geworden. Auch im Habitus haben sich viele NGO-Vertreter den Regierungsdelegierten angeglichen. Stolz wandelt man auf Regierungsempfängen, lässt sich mit dem Minister sehen und parliert dabei in einem Jargon, der für Außenstehende kaum mehr verständlich ist. Selbst der politische Rollentausch ist nicht mehr ungewöhnlich. Immer wieder scheitern triftige Vorschläge von Regierungsvertretern am Widerstand von NGOs, die sich um die Popularität ihrer Kampagnen sorgen. Deren Botschaft muss, wenn sie viele Menschen erreichen soll, einfach und leicht verständlich bleiben; für komplexere Einsichten und Forderungen gibt es keinen Platz. Der Handel mit Tropenholz erfordert einen Boykott, selbst wenn darunter traditionelle und ökologisch sinnvolle Forstwirtschaften leiden.
Statt Widersprüche für die Durchsetzung selbstbestimmter Politik zu nutzen, haben sich nicht wenige NGOs von den Machthabern kooptieren lassen, um nur noch die ärgsten Auswirkungen der Globalisierung abzumildern und derart für die Überwindung staatlicher Legitimationsdefizite zu sorgen. Auch unter den NGOs ist zu beobachten, wie das Eigensinnige, das den Charme der Anfangszeit ausgemacht hat, einer zunehmenden Institutionalisierung zum Opfer fällt, die letztlich dem Erfolg geschuldet ist.
Die Privatisierung der Staates korrespondiert so mit der Staatswerdung der NGOs. Der Staat entledigt sich seiner Fürsorgeverantwortung in dem Maße, wie er sie partiell an nichtstaatliche Akteure überträgt, die als Teil eines "erweiterten Staates" betrachtet werden können. Das Zusammenwirken muss dabei nicht immer so krass zutage treten wie im Falle jener deutschen NGO, die erst kürzlich damit warb, im Kosovo mit Spendenmitteln die Arbeit der Bundeswehr zu finanzieren.
Das "Gute" fest im Blick, übersehen die Propheten der Weltzivilgesellschaft gelegentlich, dass sich Politik nicht in herrschaftsfreien Räumen ereignet und auch die globalisierte Ökonomie noch immer vom kapitalistischen Diktat der Mehrwertproduktion bestimmt wird. Daran haben auch moderne Formen von Regierungsführung nichts geändert, in denen sich der Staat in die Rolle eines Moderators begibt, der zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kräften vermittelt. Welche Rolle den NGOs dabei zugedacht wird, verrät die Aussage eines Mitgliedes des Bundesregierung, das kürzlich die herausragende Bedeutung der NGOs mit den Worten würdigte, sie seien "eine besondere Zierde der deutschen Politik".
NGOs, die mehr als Dekor sein wollen und sich partout der Benutzung für staatliche Zwecke widersetzen, sehen sich rasch dem Vorwurf mangelnder demokratischer Legitimation ausgesetzt. Insbesondere seit den Protesten gegen die Tagung der Welthandelsorganisation in Seattle Ende 1999 ist die Kritik an den NGOs lauter geworden. Obwohl sie "von niemandem gewählt" seien, "fallen sie als Schwärme über Regierungen und Konferenzen her" und machen "die Bemühungen von gewählten Vertretern zunichte", erklärte Graf Lambsdorff von der FDP.
Angesichts solch unsicherer Kantonisten, die obendrein noch in der Öffentlichkeit hoch angesehen sind, nimmt es nicht wunder, dass Regierungen in aller Welt begonnen haben, eigene "NGOs" zu gründen, und dass der Bundesverband der Deutschen Industrie sich kurzerhand selbst zur größten deutschen NGO ernannt hat. Verständlich auch, dass der Sparkassenverband, die Versicherungswirtschaft und die Berufsstände der Ärzte, Apotheker oder Reporter nicht nachstehen wollen und genauso wie Benneton, Philip Morris, RTL oder der Devisenspekulant George Soros ihrerseits NGOs initiieren.
Sie alle sind nun da tätig, wo die neoliberale Wirtschaftspolitik zur fast vollständigen Auflösung von staatlicher Fürsorge geführt hat: in den armgehaltenen Regionen der Welt. Die Menschen dort gelten zwar noch als Staatsbürger, sind aber faktisch ohne Rechtsanspruch auf die Sicherung elementarer Menschenrechte - sie sind tendenziell staatenlos. Ihr Überleben hängt vom Wohlwollen ausländischer NGOs ab und davon, dass man überhaupt auf sie aufmerksam wird. Das trägt Züge von feudaler Gönnerhaftigkeit. Undurchsichtige Kriterien geben den Ausschlag darüber, wessen Interessen Gehör finden, und immer häufiger ist es der Markt schnell wechselnder Themen, der darüber befindet, ob afrikanische Kindersoldaten, brasilianische Landbesetzer oder kambodschanische Minenopfer Hilfe erhalten.
Noch haben NGOs zwei Gesichter. Indem sie die wachsenden Demokratiedefizite kompensieren, laufen sie Gefahr, die Re-Feudalisierung von Staat und Politik zu bewirken. Bleiben sie sich dagegen ihrer zivilgesellschaftlichen Wurzeln bewusst, können sie zu einem Keim einer Gesellschaft werden, in der endlich Demokratie für alle gilt.
aus: der überblick 03/2001, Seite 30
AUTOR(EN):
Thomas Gebauer:
Thomas Gebauer ist Geschäftsführer von Medico International in Frankfurt am Main.