Eine Frage des Rechtsempfindens
Seit der Kolonialzeit gibt es in afrikanischen Staaten zwei parallele Rechtsordnungen: Zum einen das von den Kolonialherren aus Europa mitgebrachte Recht, zum anderen das ursprünglich nur mündlich überlieferte afrikanische Gewohnheitsrecht. Das führt im Rechtsalltag vieler afrikanischer Staaten zu Verwirrung und Konflikten.
von Peter Hazdra
Recht dient dazu, die sozialen Beziehungen in einer menschlichen Gesellschaft auf der Grundlage einer gemeinsamen Wertordnung dauerhaft zu gestalten. Aber in Afrika trafen und treffen vielleicht noch mehr als in anderen Weltgegenden verschiedene Kulturen und damit gegensätzliche Rechtsordnungen aufeinander.
Alle traditionellen afrikanischen Rechtssysteme haben eines gemeinsam: Sie sind mündlich überliefertes Gewohnheitsrecht. Dadurch sind sie sehr flexibel und können stets behutsam an die aktuellen Erfordernisse des Zusammenlebens angepasst werden, ohne einen radikalen Bruch mit traditionellen Wertvorstellungen herbeizuführen. Zwar gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen afrikanischen Rechtstraditionen, was auf die unterschiedlichen Wirtschaftsformen und Sozialstrukturen zurückzuführen ist. So kann zum Beispiel die Erbfolge über die mütterliche oder über die väterliche Linie gehen. Bei aller Verschiedenheit der afrikanischen Rechtsordnungen standen aber (und stehen zu einem großen Teil heute noch) im Leben vieler Afrikaner zwischenmenschliche Beziehungen im Vordergrund, die auf dem Status der Beteiligten innerhalb der Gemeinschaft beruhen; rein wirtschaftliche Beziehungen sind dagegen nachrangig. Die traditionellen afrikanischen Gewohnheitsrechtssysteme befassen sich also weit weniger mit individuellen Vermögensrechten als mit der Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen innerhalb einer Gruppe wie einer Dorfgemeinschaft oder Großfamilie.
Dagegen haben alle europäischen Kolonisatoren in ihren afrikanischen Besitzungen die Rechtsordnungen ihres jeweiligen Herkunftslandes eingeführt. Juristen bezeichnen diesen Vorgang als "Rechtsrezeption". Das rezipierte, von fremden Kulturen übernommene Recht basierte auf ganz anderen Werthaltungen als das traditionelle Gewohnheitsrecht vieler afrikanischer Volksgruppen. Die europäischen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit beruhten auf den Ideen des Kapitalismus und der freien Marktwirtschaft und waren (ganz besonders im Falle der Buren) von der protestantischen Ethik geprägt.
Das Nebeneinander der zwei Rechtssysteme und damit verbunden zweier Arten von Gerichten bestimmt bis heute das Rechtsleben in allen Staaten Schwarzafrikas. Diese zwei Welten lassen sich gut anhand der Situation im südlichen Afrika darstellen, insbesondere in der Republik Südafrika, in Botswana, Lesotho und Swasiland. Erstens haben nämlich die dortigen Volksgruppen sehr ähnliche ökonomische, soziale und politische Strukturen und entsprechende gewohnheitsrechtliche Normen. Zweitens besitzen dort auch die gegenwärtigen staatlichen Rechtsordnungen sehr viele Gemeinsamkeiten, da ihre Wurzeln einerseits im römisch-holländischen Recht, andererseits im englischen Recht liegen.
Die britische Kolonialverwaltung bediente sich zwar im Sinne des Indirect Rule - der indirekten Herrschaft - der vorhandenen afrikanischen Strukturen, griff jedoch auch in mannigfacher Weise in diese ein. Das führte - teils beabsichtigt, teils unbeabsichtigt - zu starken Veränderungen des Gewohnheitsrechts und der Stellung der traditionellen Oberhäupter. Einige Autoren sprechen sogar davon, dass damit ein "neues" Gewohnheitsrecht geschaffen wurde.
Die von den Kolonialverwaltungen herbeigeführten Veränderungen der traditionellen Rechtsordnungen haben mehrere Ursachen: Erstens veranlassten die Engländer die Kodifizierung, also die schriftliche Erfassung der traditionellen Rechte. Durch eine schriftliche Fixierung verliert aber jedes Gewohnheitsrecht seine charakteristische Stärke, nämlich seine Flexibilität. Ferner entstanden dadurch Verzerrungen, weil die einheimischen Informanten aufgrund persönlicher Interessen falsche Angaben machten. Wie man heute weiß, behaupteten Chiefs oft, mehr Rechte zu besitzen, als ihnen traditionell tatsächlich zustanden. Eine zusätzliche Fehlerquelle war die Aufzeichnung in einer fremden Sprache. Oft ließen die Kolonialbeamten bei der Aufzeichnung von Gewohnheitsrecht ihr eigenes Gedankengut einfließen, und manche weigerten sich, ihnen nicht genehme Normen in die Kodifikation aufzunehmen.
Zweitens führten die Kolonialherren die Unvereinbarkeitsklausel (Repugnance Clause) ein. Diese verbot den Gerichten, bestimmte Normen des traditionellen afrikanischen Rechts anzuwenden, die zu sehr von den europäischen Wertvorstellungen abwichen. In den Statuten der Obersten Gerichtshöfe fast aller britischen Kolonien fand sich ein Passus, der festlegte, dass gewohnheitsrechtliche Normen nur unter der Voraussetzung Anwendung finden sollten, dass sie nicht gegen die grundlegenden (europäischen) Prinzipien von Recht und Billigkeit (natural justice, equity or good conscience) oder gegen bestehende Gesetze der Kolonialverwaltung verstießen.
Drittens veränderte sich die Stellung der Chiefs durch Maßnahmen der Kolonialherren beträchtlich. Zum einen wurde ihre Macht beschnitten. Viele Völker Afrikas wurden durch die willkürliche Grenzziehung der europäischen Mächte auseinander gerissen; ihren traditionellen Chiefs wurde dadurch die materielle und territoriale Basis ihrer Autorität entzogen. Außerdem entzog man ihnen die strafgerichtliche Kompetenz und schuf ein System staatlicher Aufsicht. Zum anderen verliehen die Briten oft Chiefs oder traditionellen Rechtsinstitutionen eine Autorität, die sie zuvor in ihrem sozialen Umfeld nie gehabt hatten. Man verpflichtete etwa die Chiefs, Verwaltungsübertretungen wie illegales Bierbrauen oder Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung zu ahnden und Steuern einzutreiben, wodurch sie bei den Einheimischen bald an Glaubwürdigkeit einbüßten.
So gut wie alle afrikanischen Staaten haben nach der Unabhängigkeit das Rechtssystem ihrer ehemaligen Kolonialmacht freiwillig beibehalten. Dafür waren mehrere Gründe ausschlaggebend. Zunächst war der gesamte Juristenstand europäisch ausgebildet und kannte das traditionelle Gewohnheitsrecht kaum. Ein weiterer Grund war, dass in fast allen Staaten mehrere Ethnien und damit mehrere - manchmal sehr unterschiedliche - traditionelle Rechtsordnungen existierten. Die Regierungen der neuen Nationalstaaten waren aber - unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung - bestrebt, durch ein einheitliches, für alle Gruppen innerhalb des Staatsgebietes gleichermaßen geltendes Recht das Zusammenschmelzen der verschiedenen Ethnien zu einem Staatsvolk zu erreichen. Ferner glaubten die westlich gebildeten Politiker, das westliche Recht als Instrument zur Modernisierung einsetzen zu können. Das traditionelle Gewohnheitsrecht betrachteten sie als nur für statische Agrargesellschaften geeignet und daher entwicklungsfeindlich. Vom Import "moderner" Institutionen erhofften sie sich (vergeblich) einen Impuls für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung und die Modernisierung der traditionellen afrikanischen Gesellschaften.
Vom Nebeneinander zweier Rechtssysteme sind vor allem zwei Gruppen betroffen: Die Landbevölkerung und das entwurzelte städtische Proletariat. Die europäisierten Eliten in den Städten haben dagegen die fremde Kultur weitgehend verinnerlicht und kommen gut mit dem importierten Recht zurande.
Die Landbevölkerung - in den meisten Staaten Afrikas leben noch immer mehr als zwei Drittel der Einwohner auf dem Land - hat zwar eigenständige Rechtstraditionen und -institutionen, doch ist nie auszuschließen, dass bestimmte Streitfälle auf der Grundlage des staatlichen Rechts von staatlichen Gerichten entschieden werden. Dazu wird es vor allem dann kommen, wenn Mitglieder der privilegierten Minderheit mit westlicher Erziehung Kenntnis vom staatlichen Recht erlangt haben und diesen Informationsvorsprung ausnutzen, um Ansprüche geltend zu machen, die ihnen nach traditionellem Gewohnheitsrecht nicht zustehen. Das staatliche Recht wird somit zu einem "Recht für die Schlauen", dessen Ergebnisse von den meisten Mitgliedern der Gemeinschaft als höchst ungerecht empfunden werden. Geradezu typisch sind dafür Konflikte bei der Übertragung von Grund und Boden: Das afrikanische Gewohnheitsrecht kennt kein individuelles Landeigentum, sondern nur den Ahnen gehörendes Gemeindeland, das Einzelpersonen nur nutzen, aber nicht verkaufen dürfen. Trotzdem gelingt es Angehörigen der europäisierten Elite immer wieder, durch Eintragung in das Grundbuch individuelles Eigentum an Grund und Boden zum Schaden der dörflichen Gemeinschaft zu erwerben.
Noch schlimmer ist die Situation der nicht zur Elite zählenden Bevölkerung in den Ballungszentren, besonders der in townships - den slumartigen Siedlungen am Stadtrand - lebenden Menschen. Diese sind aus ihren traditionellen Sozialverbänden entwurzelt und verfügen über keine eigenen, allgemein akzeptierten gewohnheitsrechtlichen Normen und Mechanismen mehr, um Streitigkeiten beizulegen. Das moderne Recht mit seinen Institutionen ist aber zur Lösung ihrer Probleme - etwa Hexerei oder Ehebruch - nicht sinnvoll anwendbar, weil es ja primär auf die Bedürfnisse der europäisierten Eliten zugeschnitten ist. Die Folge ist, dass sich diese Menschen weder an traditionelle noch an "moderne" Instanzen wenden können, sie werden "rechtlos". Als Ausweg sehen sie oft nur die gewalttätige Selbsthilfe.
Das Aufeinanderprallen von tradiertem und importiertem Recht führt nicht in allen Rechtsgebieten zu gleich großen Konflikten. Probleme treten vor allem dort auf, wo beide Systeme über eine entwickelte Rechts-tradition und Rechtsprechung verfügen, also insbesondere im Ehe-und Familienrecht, Erbrecht, Landrecht und gelegentlich im Strafrecht.
Wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Rechtssystemen sind im Verfahrensrecht festzustellen. In staatlichen Rechtsordnungen läuft ein Zivilverfahren nach genau festgelegten Regeln ab. Dazu gehören die Anhörung der Streitparteien, Fristen, Formerfordernisse für Eingaben und anderes. Ein unabhängiges Gericht fällt danach das Urteil. Unabhängig bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der oder die Richter Spezialisten sind, die weder die Parteien noch die konkrete Streitsache durch Umstände außerhalb des anhängigen Verfahrens kennen. Das (in der Praxis freilich keineswegs immer erreichte) Ziel des Gesetzgebers ist die Durchsetzung von Recht ohne Ansehen der Person. hnliches gilt auch beim Strafverfahren.
Ganz anders ist das Vorgehen in traditionellen Rechtsordnungen. Dort liegt das Schwergewicht bei der Streitbeilegung auf Verhandlung oder Vermittlung durch Dritte, wobei vielfach dem Zeremoniell eine große Bedeutung zukommt. Die Mitglieder des Gremiums, das den Streit beizulegen versucht, sind Teil der Gemeinschaft und kennen die Beteiligten in der Regel schon jahrelang, kennen die konkreten Umstände des Streitfalles und wissen meist auch um die sozialen Verhältnisse der Parteien, die zu dem aktuellen Konflikt geführt haben. Ziel des Verfahrens ist es, diese Gemeinschaft zu erhalten und ein friedliches Zusammenleben innerhalb der Gruppe zu gewährleisten, was vielfach allein schon deshalb nötig ist, damit die Gemeinschaft wirtschaftlich überleben kann. Die Betonung liegt daher auf der Suche nach Kompromissen und Möglichkeiten zur Versöhnung der Streitparteien.
Das staatliche Recht legt fest, welche Argumente überhaupt im Verfahren zulässig sind. Das heißt, der Fall wird aus den sonstigen sozialen Beziehungen zwischen den Beteiligten herausgelöst, die für die Entscheidungsfindung außer Betracht bleiben. Wenn etwa jemand das Auto eines anderen beschädigt hat, kann er sich vor Gericht nicht damit entschuldigen, dieser hätte seine Tochter verführt. Anders im traditionellen Recht: Hier wird die gesamte soziale Situation der Streitparteien mitberücksichtigt, wodurch sich leichter ausgewogene und dauerhafte Lösungen finden lassen. Ob die vorgebrachten Argumente akzeptiert werden, hängt freilich stark von Faktoren ab, die im modernen staatlichen Recht (zumindest nach dem Wortlaut des Gesetzes) keine Rolle spielen. Es kommt dabei zum Beispiel auf rhetorisches Geschick, originelle Argumentation, aber auch die soziale Stellung des Einzelnen an, und nicht zuletzt hängt die Wirkung davon ab, ob eine Partei von einflussreichen Persönlichkeiten unterstützt wird. Vor staatlichen Gerichten übernehmen in der Regel bezahlte Spezialisten (Rechtsanwälte) die Vertretung der Streitparteien. Wer dagegen eine Partei vor einem traditionellen Gericht unterstützt, tut dies aus politischer Loyalität.
Auch in der Gerichtsorganisation zeigen sich die beiden Welten der Rechtssysteme. Ursprünglich hatten die Kolonialherren beabsichtigt, dass die traditionellen Gerichte - also Headmen oder Chiefs mit ihren Beratern - das einheimische Gewohnheitsrecht auf die Afrikaner anwenden, die staatlichen Gerichte hingegen das koloniale Recht auf die europäischen Händler und Einwanderer. Dieser Grundsatz ist heute allerdings vielfach durchbrochen. So wurden die kolonialen Gerichte schrittweise auch Afrikanern zugänglich gemacht. In vielen afrikanischen Staaten sind aber auch die traditionellen Gerichte heute mit staatlichen Beamten besetzt, und man hat Berufungsgerichte eingeführt, die es früher nicht gegeben hatte. Nicht selten wurden die traditionellen Gerichte ermächtigt oder sogar verpflichtet, staatliches Recht anzuwenden; umgekehrt wenden staatliche Gerichte traditionelles Recht an. Dadurch wurden allmählich mit juristischer Spitzfindigkeit die Grundsätze des staatlichen Rechts in die traditionellen Rechtsordnungen hineingetragen.
Die meisten Probleme mit der Verschiedenartigkeit der zwei Rechtssysteme gibt es beim Erbrecht. Unter Erbrecht versteht man jenen Rechtszweig, der festlegt, wer in die Rechte und Verpflichtungen eines Verstorbenen nachfolgen soll. Nach europäischem Verständnis handelt es sich dabei primär um sachenrechtliche Regeln, also um die Weitergabe des Vermögens des Verstorbenen. Nach afrikanischer Auffassung beinhaltet das Erbrecht aber auch und vor allem familienrechtliche Normen, es regelt also die Nachfolge in Rang und Status (des Familienoberhauptes oder des Chiefs). Der Zweck des afrikanischen Erbrechts ist es primär, den Fortbestand der Familie zu sichern und erst in zweiter Linie, das Vermögen des Verstorbenen unter den Überlebenden zu verteilen.
Das staatliche und das traditionelle Erbrecht sind dabei in weiten Bereichen unvereinbar. Die im staatlichen Recht festgelegte Gleichbehandlung von Mann und Frau ist dem Recht der Ethnien des südlichen Afrika, deren Erfolge sich nach der väterlichen Linie richtet, fremd. Auch die im staatlichen Recht festgelegte Freiheit, über weite Teile des Vermögens mittels Testament nach Belieben zu verfügen, ist dem afrikanischen Recht unbekannt, weil Eigentum immer sozial gebunden ist, also einer Gruppe und nicht einem Einzelnen zusteht. Während das staatliche Recht das Vermögen des Verstorbenen auf alle Kinder gleich aufteilt und auch dem Ehepartner einen Teil zuspricht, kennt das afrikanische Erbrecht das Prinzip der Primogenitur: Der älteste Sohn wird neues Familienoberhaupt und erbt das gesamte Familienvermögen. Unter keinen Umständen kann nach traditionellem afrikanischem Recht eine Frau die volle Rechtsnachfolge eines Familienoberhauptes antreten.
Wegen dieser Unterschiede kommt es darauf an, nach welchem Recht ein Erbfall beurteilt wird. In der Praxis richten sich die Gerichte nach der Lebensweise der Betroffenen. Trägt jemand europäische Kleidung, besitzt er ein Auto, gehört er einer christlichen Glaubensgemeinschaft an, schläft er in einem Bett (anstatt auf einer Matte am Boden), zieht er einen Rechtsanwalt hinzu, arbeitet er im modernen Sektor, hat er nach Zivilrecht geheiratet - dann wird das staatliche Recht angewendet. Aus diesem Katalog ist bereits abzulesen, dass manche der genannten Kriterien nur sehr beschränkte Aussagekraft besitzen.
Beim Ehe-und Familienrecht ist es ähnlich. Im staatlichen Recht ebenso wie im Kirchenrecht wird die Ehe als ein auf dem freien Willen der beiden Ehepartner beruhender Vertrag zwischen zwei Individuen angesehen. Im traditionellen afrikanischen Recht ist die Ehe ein Vertrag zwischen Familien, wodurch diese in Beziehung zueinander treten; es werden also bestimmte kollektive Rechte und Pflichten gegenüber den Mitgliedern der anderen Familie begründet. Meist handelt es sich dabei um wirtschaftliche Pflichten oder Beistandspflichten.
Dagegen hatten die frühen weißen Siedler wenig einzuwenden. Sie lehnten jedoch Praktiken ab, die ihren Moralvorstellungen und Rechtstraditionen völlig zuwider liefen. Das war einerseits die Möglichkeit einer polygamen Ehe und andererseits die Sitte, einen Brautpreis zu zahlen. Im traditionellen afrikanischen Recht ist die Zahlung des Brautpreises unabdingbar für das Zustandekommen einer Ehe. Er ist vom künftigen Ehemann an die Familie der Frau zu leisten. Der Brautpreis bestand traditionell aus einer bestimmten Anzahl von Rindern, heute wird stattdessen oft Geld gegeben. Damit soll die Familie der Frau für den Verlust ihrer Arbeits-und Reproduktivkraft entschädigt und eine starke Bindung zwischen den beiden Familien hergestellt werden. Die Weißen haben diese, in Gegensatz zu dem ihnen vertrauten Phänomen der Mitgift stehende Praxis oft als "Brautkauf" missverstanden. In der Frühphase der Kolonialzeit haben staatliche Gerichte unter Berufung auf die Unvereinbarkeitsklausel entschieden, dass der Vereinbarung eines Brautpreises keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt. Streitigkeiten über den Brautpreis gehören zu den häufigsten Gründen für die Anrufung traditioneller Gerichte.
Wichtigste Rechtsfolge der gewohnheitsrechtlichen Heirat ist die Veränderung im Status beider Partner: Der Bräutigam erlangt seine Volljährigkeit, die Braut wechselt ihre Verwandtschaftsgruppe. Was die Rolle der Geschlechter betrifft, so verlangt das traditionelle Gewohnheitsrecht eine Unterwerfung der Frau unter die häusliche Gewalt des Mannes. Das bedeutet im Einzelnen: Der Mann verwaltet das gemeinsame eheliche Vermögen - die Frau hat dabei bestenfalls ein informelles Mitspracherecht -; nur der Mann kann Verträge abschließen und Ansprüche vor Gericht bringen; der Mann kann aber in gewissen Fällen für unerlaubte Handlungen der Frau haftbar gemacht werden. All das sind Elemente, die moderne Rechtsordnungen - auch unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten - nur schwer akzeptieren können.
In den meisten europäischen Staaten bedarf es zu einer gültigen Eheschließung eines Formalaktes vor einem staatlich oder kirchlich autorisierten Organ (Standesbeamter, Priester). Zum Abschluss einer traditionellen Ehe wird keine außenstehende Institution benötigt. Es ist lediglich die Zustimmung beider Partner und ihrer Familien sowie die zumindest teilweise Bezahlung des Brautpreises erforderlich. Ohne Zustimmung der Familie kann es keine traditionelle Ehe geben.
In den meisten afrikanischen Ländern existieren beide Formen der Eheschließung - christliche beziehungsweise Zivilehe einerseits und gewohnheitsrechtliche Ehe andererseits - nebeneinander und werden heute als gültige Eheschließungen anerkannt (in der Republik Südafrika erst seit 1988). Wenn eine Ehe zwischen denselben Partnern zweimal, nämlich einmal nach staatlichem Recht und einmal nach traditionellem afrikanischen Gewohnheitsrecht geschlossen wurde, spricht man von einer Dual Marriage. Diese Konstellation ist recht häufig. Das hat sowohl historische als auch rein praktische Gründe: Vielerorts verweigerten die weißen Missionare den zum Christentum bekehrten Afrikanern die Anerkennung ihrer gewohnheitsrechtlich geschlossenen Ehen. Diese waren also gezwungen, auch christlich zu heiraten, wobei die christliche Eheschließung als zusätzliche "Absegnung" der bereits bestehenden gewohnheitsrechtlichen Ehe angesehen wurde. Diese Sicht ist auch heute noch in weiten Kreisen der älteren Bevölkerung stark verbreitet. Daneben ist heute ein wichtiger Grund für eine zweite, zivilrechtliche oder christliche Eheschließung, dass gewohnheitsrechtliche Hochzeiten für gewöhnlich nirgendwo registriert werden, es daher auch keine Heiratsurkunde gibt. Diese wird aber für viele Verwaltungsakte unbedingt benötigt. Vor allem im Falle der Scheidung oder des Todes des Ehemannes tritt die Frage auf, nach welcher Rechtsordnung die Ehe beurteilt wird. Streitigkeiten dieser Art sind sehr häufig, und Gerichte haben dafür ähnliche Kriterien herangezogen wie im Erbrecht.
Ein differenziertes Vertragsrecht im westlichen Sinn kennt das afrikanische Gewohnheitsrecht nicht. Das erklärt sich aus dem Umstand, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen in Afrika traditionell vom Status dominiert sind und nicht von synallagmatischen, also auf Gegenseitigkeit beruhenden Verträgen. Die Regelung vermögensrechtlich relevanter Rechtsgeschäfte zwischen einander fremden Einzelpersonen spielt kaum eine Rolle, zumal es im traditionellen Recht nur selten Einzelpersonen zustehende Eigentumsrechte gibt, und dem freien Transfer von Eigentum enge Grenzen gesetzt sind. Im Übrigen handelt es sich bei traditionellen Verträgen häufiger um eine Vereinbarung zwischen Gruppen als um eine Vereinbarung zwischen Individuen.
Inhaltlich gibt es im Bereich des Vertragsrechts (insbesondere bei den gängigen Vertragstypen wie Kauf, Tausch, Darlehen) heute keine großen Widersprüche zwischen den Normen der afrikanischen Gewohnheitsrechte und den (allerdings wesentlich detaillierteren) Regeln des staatlichen Rechts. Konflikte könnten auftreten, wenn Verträge nach staatlichem Recht über Sachen geschlossen werden, die nach traditionellem Recht dem freien Verkehr entzogen sind (wie etwa Land), oder wenn Verträge mit Personen geschlossen werden, die nach traditionellem Recht als unmündig gelten und daher keine Verträge schließen können (Frauen, unverheiratete Söhne des Familienoberhauptes).
Beim Strafrecht und Schadenersatzrecht gibt es ebenfalls unterschiedliche Sichtweisen, aber auch Berührungspunkte zwischen den Rechtssystemen. Das Strafrecht beruht auf dem Gedanken, dass durch ein Delikt die Interessen der Allgemeinheit verletzt werden und daher die Gemeinschaft (nach "modernem" Recht in Form des Staates, nach traditionellem Recht in Gestalt des Chiefs) mit einer Freiheits-oder Geldstrafe "entschädigt" werden muss. Das Schadenersatzrecht dagegen beruht darauf, dass jemandem aus der Tat ein unmittelbarer Schaden erwachsen ist, der ausgeglichen werden soll. Nach europäischem Rechtsverständnis bilden das Straf-und das Schadenersatzrecht bisher zwei weitgehend getrennte Rechtsbereiche.
In vielen afrikanischen Gewohnheitsrechtssystemen gibt es hingegen keine strikte Trennung von Straf-und Schadenersatzrecht. Dabei zeigt sich, dass die traditionellen Rechtsordnungen keineswegs generell als veraltet angesehen werden dürfen, sondern dass sie vielmehr wertvolle Ansätze enthalten, die man neuerdings sogar in Staaten der ersten Welt wieder entdeckt. In verschiedenen europäischen Rechtsordnungen hat man beispielsweise begonnen, für leichte bis mittlere Vergehen den "außergerichtlichen Tatausgleich" einzuführen und damit den Prinzipien von Schadenersatz und Versöhnung Vorrang gegenüber der Bestrafung des Täters zu geben. Grundsätzlich ist das Strafrecht ein Rechtsbereich, in dem die Unterschiede zwischen dem staatlichen Recht und dem traditionellen afrikanischen Recht verhältnismäßig gering sind. Schwere Delikte sind heute ohnehin längst der traditionellen Strafrechtspflege entzogen und werden von den staatlichen Gerichten nach staatlichem Strafrecht abgehandelt. Die subjektive Tatseite wird von den meisten Gewohnheitsrechtsordnungen allerdings wenig berücksichtigt, in vielen Fällen gehen traditionelle afrikanische Gerichte von einer "Erfolgshaftung" aus, also einer Bestrafung des Täters allein aufgrund des eingetretenen Schadens, unabhängig davon, ob ihn daran auch ein vorwerfbares Verschulden trifft. Voraussetzung für eine strafrechtliche Verurteilung nach staatlichem Recht ist dagegen im Allgemeinen, dass der Beschuldigte vorsätzlich gehandelt hat. Der staatliche Richter muss sich zur Feststellung der subjektiven Verantwortlichkeit des Täters quasi "in dessen Haut versetzen" - was einem weißen Richter, der über einen afrikanischen Slumbewohner urteilen soll, ziemlich schwer fallen dürfte.
Die häufigsten Unrechtshandlungen, die Schadenersatzansprüche nach traditionellem Recht begründen, sind Ehebruch und voreheliche Entjungferung eines Mädchens. Die dadurch begründeten Ansprüche lauten traditionell stets auf eine bestimmte Anzahl Rinder. Diese stehen freilich immer dem Familienoberhaupt zu. Andererseits muss das Familienoberhaupt auch für alle von den Familienangehörigen verursachten Schäden aufkommen.
Das Verfassungsrecht im modernen Sinne ist ein Ergebnis der europäischen Aufklärung. Die afrikanischen Gewohnheitsrechte haben auf verfassungsrechtlichem Gebiet keine ausgereiften, auf moderne Staatswesen anwendbaren Regeln. Die Verfassung eines Staates bestimmt seine wichtigsten Organe, legt deren Kompetenzen fest und formuliert wichtige Grundrechte der Staatsbürger. Sie steht über allen anderen nationalen Normen.Vor allem zwei Aspekte der traditionellen Rechtsordnungen erweisen sich als problematisch: Zum einen sind die Chiefs nicht demokratisch - also im westlichen Verständnis durch Wahlen - legitimiert, was zumindest vordergründig der angestrebten Demokratisierung der lokalen Verwaltungsstrukturen zuwiderläuft. Zum anderen ist dem traditionellen Recht das seit der französischen Revolution in den westlichen Rechtsordnungen dominierende Konzept der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion fremd.
Die Konzentration von Kompetenzen in den Händen der traditionellen Würdenträger ermöglicht diesen zwar große Flexibilität in der Entscheidungsfindung, birgt aber zugleich die Gefahr von Machtmissbrauch und Willkür, zumal die traditionellen Kontrollmechanismen vielfach weggefallen sind. Chiefs konnten nämlich nie allein entscheiden, sondern mussten immer ihre Berater konsultieren, und diese übten speziell gegenüber jungen, unerfahrenen Chiefs großen Einfluss aus. Erst die Briten haben das alleinige Entscheidungsrecht der Chiefs forciert. Die vermutlich wichtigste Funktion der Chiefs war und ist die treuhänderische Verwaltung und Zuteilung von Land an die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft. Leider berufen sich heutige Politiker der "Dritten Welt" nicht selten auf (fiktive) Traditionen, um internationaler Kritik an undemokratischen Regierungsformen und Menschenrechtsverletzungen entgegenzutreten.
Heute kommt es darauf an, die traditionellen Autoritäten irgendwie in die Entscheidungsprozesse auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene einzubeziehen. Viele anglophone Staaten haben nach dem Vorbild des einstigen "Mutterlandes" auf nationaler Ebene ein Zweikammerparlament geschaffen, wobei das Unterhaus aus gewählten Abgeordneten besteht, während im - wenig einflussreichen - Oberhaus traditionelle Chiefs sitzen.
Die modernen und die traditionellen Institutionen so in ein Gesamtsystem zu integrieren, dass sowohl den Bedürfnissen mehr traditionell lebender afrikanischer Volksgruppen als auch den Ansprüchen der Rechtsstaatlichkeit Rechnung getragen wird, bleibt eine schwierige Aufgabe. Eine der Schlüsselfragen dabei lautet: Sollen die traditionellen Obrigkeiten bloß die anderswo formulierte Politik und die Pläne zur nationalen Entwicklung umsetzen, oder sollen sie aktiv an deren Erstellung mitwirken? Man sollte sich bei der Suche nach Lösungen von zwei Gedankengängen leiten lassen: Einerseits wird es auf die Dauer nicht genügen, den Chiefs wohldotierte Repräsentationsaufgaben und Pro-forma-Kompetenzen ohne echte Einflussmöglichkeiten zuzuweisen, wenn man traditionell orientierte Bevölkerungsgruppen integrieren will. Anderseits sollte man daran denken, den Chiefs allmählich jene Kompetenzen abzunehmen, die ihnen zum Teil noch von den Kolonialverwaltungen aufgebürdet worden sind und die, wie das Erheben von Steuern oder das Ahnden von Verwaltungsübertretungen, nichts mit ihren traditionellen Befugnissen zu tun haben.
Zusammenfassend kann man sagen, dass es vor allem von zwei Faktoren abhängt, ob bei einer Weiterentwicklung afrikanischer Rechtssysteme das Recht von der breiten Mehrheit der Bevölkerung auch als gerecht empfunden wird: Erstens, ob es gelingt, traditionell lebende Bevölkerungsgruppen davor zu schützen, dass eine Minderheit europäisierter Eliten ihre Kenntnisse des staatlichen Rechts ausnutzt, um Gemeinschaftseigentum an sich zu reißen, und zweitens, ob das anwachsende, entwurzelte städtische Proletariat einen Zugang zum Recht erhält.
Literatur:
aus: der überblick 01/2000, Seite 88
AUTOR(EN):
Peter Hazdra:
Peter Hazdra ist promovierter Jurist und Ethnologe. Er war jahrelang in verschiedenen Funktionen im Rahmen internationaler Friedensoperationen tätig, zwei Jahre davon in Schwarzafrika. Er arbeitet derzeit als Forscher im Institut für internationale Friedenssicherung der Landesverteidigungsakademie in Wien.