Viele Opfer des Krieges in Norduganda sehen die Ermittlung des Internationalen Strafgerichtshofs mit Sorge.
Die Bevölkerung Nordugandas leidet unter dem Terror der Lord's Resistance Army (LRA) und der sie bekämpfenden Regierungstruppen. Dass seit 2004 der Internationale Strafgerichtshof wegen der Gräueltaten dort ermittelt, stößt in Uganda aber nicht auf ungeteilte Zustimmung. Viele fürchten, dass ein Haftbefehl gegen die Haupttäter einen Friedensschluss verhindern und neue Gewalt auslösen wird.
von Bernd Ludermann
Patrick Otto hat allen Grund, die Führer der Lord's Resistance Army (LRA) hinter Gitter zu wünschen. Ständig muss er ihre grausamen Überfälle fürchten. Seit 1996 lebt er mit seiner Familie im Flüchtlingslager Paler nahe Gulu, der Hauptstadt des gleichnamigen Distrikts im Norden Ugandas. »Wir können nur Felder bestellen, die höchstens drei Kilometer außerhalb des Lagers liegen, und auch das nur von 9 Uhr morgens bis 5 Uhr nachmittags«, berichtet er. Das meiste fruchtbare Land müssen sie dem Busch überlassen, sie sind auf Hilfsrationen angewiesen, die das Welternährungsprogramm (WFP) verteilt. Obwohl das Lager nur 15 Kilometer von Gulu entfernt ist und von Soldaten und Selbstschutztruppen bewacht wird, hat es die LRA im Schutz der Nacht mehrfach angegriffen. »Vor fünf Jahren haben sie meinen jüngeren Bruder verschleppt«, sagt Patrick Otto. Dennoch will er, dass »alle Rebellen aus dem Busch kommen und ihnen vergeben wird«. Ihm ist alles recht, was endlich den Krieg beendet, auch eine umfassende Amnestie.
Ein befristetes Amnestiegesetz gibt es bereits. Auf Druck von Kirchen, nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) und Parlamentariern aus Norduganda war es Ende 1999 erlassen und ist seitdem immer wieder verlängert worden. Das hat zunächst die Beilegung anderer Rebellionen ganz im Westen Ugandas erleichtert. Aber auch zahlreiche Kämpfer der LRA und seit 2003 auch einige ihrer Kommandeure haben von der Möglichkeit Gebrauch gemacht. Ehemaliger Kämpfer leben heute unbehelligt bei ihren Familien.
Ob die zentralen Köpfe der Rebellen insbesondere ihr Anführer Joseph Kony und sein Vize Vincent Otti in den Genuss einer Amnestieregelung kommen können, ist jedoch unklar, seit der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag gegen sie ermittelt.
Das 1998 ins Leben gerufene Gericht (vergl. »der überblick« 2/98) kann Einzelpersonen wegen Völkermord, systematischer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen. 99 Staaten, darunter Uganda, haben bisher den IStGH Gründungsvertrag ratifiziert und damit die Jurisdiktion des Gerichts anerkannt. Es kann nur ermitteln, wenn die zuständige nationale Justiz dazu nicht in der Lage oder nicht willens ist. Der Gerichtshof kann von sich aus tätig werden oder auf Geheiß eines Mitgliedsstaates sowie des UN-Sicherheitsrates. Im Fall Norduganda hat Ugandas Staatspräsident Yoweri Museveni Ende 2003 den IStGH angerufen. Ende Januar 2004 traf dessen Chefankläger, Luis Moreno-Ocampo, Museveni in London und erklärte, die Grundlagen für eine Ermittlung seien gegeben. Internationale Menschenrechtsorganisationen begrüßten das Eingreifen des IStGH. Doch die Mehrheit der Kirchen und NGOs in Uganda hat schwere Vorbehalte. »Unsere Mitgliedsorganisationen schwanken zwischen zwei Optionen«, erklärt Robert Opio, der Koordinator einer Koalition von rund vierzig in Norduganda tätigen einheimischen und internationalen NGOs mit Namen Civil Society Organisations for Peace in Northern Uganda (CSOPNU): »Entweder Kony überhaupt nicht vor Gericht stellen oder ihn erst später anklagen. Auf jeden Fall wollen wir, dass er zuerst die Chance erhält, aus dem Busch zu kommen.« Dahinter steckt nicht nur das alte Dilemma, dass man Friedensverhandlungen kaum mit jemand führen kann, den man zugleich mit Strafverfolgung bedroht. Eigenarten dieses Krieges machen das Eingreifen des Gerichts in diesem Fall besonders heikel.
Die Gewalt im Norden Ugandas ist ein Erbe der Bürgerkriege, die Museveni 1986 an die Macht gebracht haben. Seine National Resistance Army (NRA), die im Zentrum und Südwesten des Landes ihre Basen hatte, kämpfte seit 1981 gegen das Regime Milton Obotes. Dessen Armee war zum großen Teil unter den Volksgruppen der Acholi und Langi in Norduganda rekrutiert und beging in Zentraluganda Massaker. 1985 putschten aber Acholi-Offiziere gegen den Langi Obote. Anfang 1986 eroberte schließlich Museveni Kampala.
Seine Truppen zogen wenig später in Norduganda ein. Dort trafen sie auf Widerstand und verübten ihrerseits Übergriffe auf die Bevölkerung. Der Unmut unter den Acholi wurde von einer »Prophetin«, Alice Lakwena, aufgegriffen. Sie führte eine große Anhängerschaft gegen Museveni, wurde aber in Süduganda vernichtend besiegt. Joseph Kony, der ebenfalls als spirituelles Medium auftrat, konnte danach einen Teil ihrer Anhänger an sich binden. Zudem liefen einige frühere Soldaten zu ihm über, als ihre Rebellentruppe 1988 mit Museveni Frieden schloss und sich auflöste.
Die neue Truppe Konys, die nun Lord's Resistance Army hiess, verspielte diese Sympathien jedoch mit einer Terror-Strategie: Als Museveni lokale Selbstverteidigungstruppen gegen die LRA einsetzte, begann diese, Hände Lippen und Ohren von Acholi abzuschneiden, die sie der Unterstützung der Regierung verdächtigte. Kony begründete das mit einem bizarren Bezug auf die Bibel: »Die Bibel sagt, wenn deine Hand, dein Mund oder dein Auge fehl geht, sollte es abgeschnitten werden.«
1993 begann die für Norduganda zuständige Ministerin Betty Bigombe Gespräche mit Kony. Als die LRA eine sechsmonatige Frist für eine Umgruppierung verlangte, fürchtete Museveni jedoch einen Trick und stellte der LRA ein Ultimatum, sich zu ergeben. Damit war die Chance auf eine Verhandlungslösung vertan. Die LRA zog sich in den benachbarten Sudan zurück, wo sie von dessen Regierung mit Waffen und Material unterstützt wurde. Dafür nahm die LRA an Kämpfen gegen die Rebellen der SPLA (Sudan People's Liberation Army) im Südsudan teil, die ihrerseits von Uganda und den USA Hilfe erhielten. Vom Sudan aus konnte die LRA die Überfälle kleiner Trupps in Norduganda erheblich ausweiten.
Kony war nun anscheinend überzeugt, dass ihn die Acholi verraten hatten. Seitdem ist die Bevölkerung, die er angeblich befreien will, das Hauptziel seiner Angriffe. Die Fälle von Verstümmelungen nahmen Mitte der 1990er Jahre stark zu. Die LRA begann, systematisch Kinder und junge Erwachsene zu entführen. Ein Teil wurde als Träger eingesetzt und dann wieder freigelassen. Viele Jungen wurden jedoch gezwungen, in der LRA zu kämpfen, und Mädchen als Sex-Sklavinnen benutzt und mit LRA-Führern »verheiratet«. Zweck des Terrors ist, der Bevölkerung vor Augen zu führen, dass die Armee sie nicht schützen kann.
Die ugandische Armee zwang daraufhin 1996 die Bevölkerung, ihre verstreuten Dörfer zu verlassen und in große Lager zu ziehen. Rund 400.000 der gut eine Million Menschen in den Acholi-Distrikten Gulu, Kitgum und Pader waren 1999 in Lagern zusammengepfercht. Die Behauptung der Armee, sie könne dort die Menschen leichter schützen, erwies sich aber als hohl: Die LRA griff die Lager an, und die Zahl der Entführungen und Verstümmelungen ging nicht dauerhaft zurück.
Als Folge wuchs der Druck, das Problem mit anderen als militärischen Mitteln zu lösen. 1998 riefen katholische, protestantische und muslimische Geistliche eine gemeinsame Friedensinitiative ins Leben, die Acholi Religious Leaders' Peace Initiative (ARLPI). Ende 2001 griffen die ARLPI und die Kirchen Nordugandas die Initiative eines italienischen Missionars für Gespräche mit der LRA auf zunächst mit niederrangigen Kommandeuren. »Museveni signalisierte uns, dass er unsere Initiative dulden, selbst aber weiter seiner eigenen Strategie folgen würde«, berichtet Cyprian Ocen von der katholischen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden in Gulu.
Zu dieser Strategie gehörten militärische Offensiven. Museveni verbesserte seit 1999 nach und nach die Beziehungen zur Regierung des Sudan und profitierte von den Folgen der Terrorschläge in New York im September 2001: Die USA setzten die LRA auf ihre Liste der Terrororganisationen, und der Sudan wo sich Osama bin Laden bis 1996 aufgehalten hatte musste fürchten, ins Fadenkreuz des »Krieges gegen den Terror« zu geraten. So vereinbarten Khartum und Kampala 2001, dass Sudan die LRA und Uganda die SPLA nicht länger unterstützen sollten. Musevenis Armee startete mit Erlaubnis Khartums Mitte 2002 eine Offensive, um Konys Truppe im Südsudan aufzureiben.
Das erwies sich als kontraproduktiv. Die LRA wurde nach Uganda zurück getrieben, verübte im Gebiet der Acholi wieder mehr und schwerere Gräueltaten und weitete ihr Operationsgebiet erstmals ins angrenzende Gebiet aus, wo vor allem die Volksgruppen der Langi und Teso leben. Das bedeutete wieder mehr Entführungen und Gräueltaten sowie eine neue große Fluchtwelle in Lager zum Teil erneut unter dem Druck der Armee. Heute vegetieren fast eine Million Einwohner des Acholi-Gebiets und weitere 600.000 Einwohner der angrenzenden Distrikte in Flüchtlingslagern.
So wie Patrick Otto und seine Familie im Lager Paler bei Gulu, das mit seinen 15.000 Bewohnern eines der kleineren ist. Die landestypischen strohgedeckten Rundhütten stehen hier nicht in kleinen Gruppen zwischen Feldern und Gärten, sondern zu Tausenden dicht zusammengedrängt. Zwischen manchen ist kein halber Meter Platz. Und jede Familie so hat die Armee verfügt darf nur eine Hütte bauen. Etwas Gemüse trocknet im Staub, in einem offenen Holzkasten liegen ein paar welke Maiskolben. Vor einer der wenigen offenen Latrinen steht eine Urinpfütze. Die sanitären Einrichtungen sind völlig unzureichend. »Bei dieser Enge ist Malaria sehr verbreitet und auch Seuchen wie Cholera kommen vor«, sagt Pater Carlos Rodríguez Soto, der dem Missionsorden Comboni angehört und zu dessen Pfarrei Paler gehört. »Dabei ist dies eins der besseren Lager. Die Lager bei Kitgum und Pader sind schlimmer dran.«
Wer die Zone um die Lager verlässt, um auf seinen Feldern etwas anzubauen, riskiert Übergriffe der LRA oder der Armee, die dort Kollaborateure der Terroristen vermutet. Sogar im engeren Umkreis der Städte herrscht ständig Angst vor Angriffen der LRA. In Gulu ziehen deshalb Abend für Abend schätzungsweise 40.000 Frauen und Kinder aus den Außenbezirken ins Zentrum, um auf Höfen und Veranden kirchlicher Krankenhäuser oder öffentlicher Gebäude zu schlafen.
Pater Michael in Gulu, ebenfalls vom Comboni-Orden, öffnet solchen Nachtflüchtlingen seit neun Jahren seine Tischlerei. Drei- bis vierhundert haben sich auf deren Hof versammelt. Eine Gruppe betet laut einen Rosenkranz. Dann breiten sie ihre Strohmatten und Decken aus Frauen und kleine Kinder in der Werkstatt, Jungen unter einem Verschlag beim Holzlager. »Es kommen so viele, dass ich zusätzliche Toiletten eingerichtet habe«, berichtet Pater Michael.
Das Ausmaß der Gewalterfahrungen ist erschreckend. Eine Umfrage in den Lagern, die das International Center for Transitional Justice und das Human Rights Center der Universität Kalifornien im Frühjahr 2005 durchgeführt haben, ergab, dass zwei von fünf Befragten bereits entführt und über 50 Prozent Zeuge einer Kindesentführung geworden waren. Fast die Hälfte musste den Mord an einem Angehörigen mit ansehen, fast ein Viertel erlitt eine Verstümmelung. Kein Wunder, dass die Nordugander nichts mehr ersehnen als ein Ende der Gewalt.
Der Regierung und ihrer Armee vertrauen sie da nicht vor allem weil sie keinen echten Schutz bietet. Die NGO-Koalition CSOPNU hat Aussagen dokumentiert, wonach Soldaten sich in einem Lager nachts in der Mitte aufhielten statt außen, so dass sie von den Zivilisten geschützt wurden statt diese zu beschützen. »Im Mai 2003 flohen die Soldaten vor einem Angriff der LRA auf eine Schule«, sagt Cyprian Ocen. »Von den damals verschleppten Schülern werden noch immer elf vermisst.«
Einige Beobachter vermuten, dass Museveni den Krieg in Norduganda gar nicht beenden will. Eine einleuchtendere Erklärung für das Verhalten der Armee ist aber die Korruption in den Streitkräften. Offiziere kassieren den Sold für Tausende sogenannte Geistersoldaten, die längst desertiert oder gefallen sind. In Norduganda haben Armee-Kommandeure sich während der Umsiedlungen Vieh der Bauern angeeignet, und Offiziere besitzen die beiden Hotels in Gulu, in denen Ausländer ob Journalisten, Consultants oder Mitarbeitende von NGOs und den UN ihr Geld ausgeben. Manche Offiziere verdienen so am Krieg, während ihre Mannschaften zerrissene Uniformen tragen und schlecht ernährt werden.
Die Offensiven der Armee stürzen viele Acholi in einen moralischen Zwiespalt. Denn die LRA besteht zum Teil aus ihren Verwandten oder gar Kindern. Weit über 30.000, vielleicht gar 45.000 Acholi hat Konys Truppe seit 1994 verschleppt. Nach Angaben der UN waren rund 20.000 davon Kinder. Die meisten Entführten wurden zwar wieder freigelassen oder konnten fliehen und andere wurden getötet. Aber mindestens etwa tausend Verschleppte dürften noch für die LRA kämpfen. Quellen aus der Regierung Ugandas schätzten Anfang 2004 die LRA auf 150 bis 200 Kommandeure, etwa 2000 »echte« Kämpfer und 3000 Kinder.
Die Berichte von Entführten, die der LRA nach einiger Zeit entkommen sind, sind erschütternd (vgl. »der überblick« 4/98). Systematisch werden viele zum Töten gezwungen. Manche steigen dann in den harten Kern der LRA auf. »Ich habe einen Bruder und mehrere Cousins durch Entführungen verloren«, erzählt Philip Lutara, der Geschäftsführer der Concerned Parent's Association (Verband besorgter Eltern, CPA) in Gulu. »Einer meiner Cousins ist heute ein hohes Tier in der LRA.« Ein anderer nahm 2004 in der Nähe von Kitgum Kontakt zu seiner Familie auf, die ihn mit Essen versorgte und ermunterte überzulaufen. Doch das lehnte er ab. »Denn wenn ein Kämpfer der LRA flieht, wird seine gesamte Kampfgruppe und seine Familie umgebracht«, sagt Lutara. Wann die Opfer zu Tätern werden, ist da kaum zu sagen.
Die CPA, die 1996 von Eltern verschleppter Kinder gegründet wurde, tritt für Verhandlungen mit der LRA ein. »Bei einer militärischen Lösung würden vor allem Entführte getötet«, erklärt Lutara. Die Armee kaschiert das, indem sie alle, die sie tötet, als Kämpfer zählt, die Überläufer dagegen als Befreite. Für die CPA, örtliche Kirchen und die Gulu Support the Children Organisation (GUSCO), die geflohene Kindersoldaten der LRA bei der Rückkehr unterstützt, ist es deshalb vordringlich, Rebellen aus dem Busch zu locken. Hierzu müsse man ihnen eine Amnestie anbieten nicht nur den Verschleppten, sondern auch den Führern. Das Eingreifen des IStGH, so fürchten lokale NGOs, könne dieses Ziel gefährden. Die Ermittlung sei einseitig, sie untergrabe lokale Versöhnungstraditionen, sie störe die Friedensgespräche, sie gefährde die Verschleppten und sie könne Racheakte der LRA provozieren.
Ein Vorwurf lautet, der Gerichtshof müsse wenn schon, dann auch gegen die Armee ermitteln. Moreno-Ocampo hat durch seinen Auftritt mit Museveni Anfang 2004 den Eindruck erweckt, er werde von diesem in Dienst genommen. Inzwischen hat der Ankläger betont, er führe die Untersuchung unparteiisch. Museveni hat ihm freigestellt, gegen die Armee zu ermitteln, aber betont, die bestrafe Übergriffe von Soldaten selbst. Das, so räumt CSOPNU ein, trifft inzwischen zu.
Doch der IStGH ist nicht für Übergriffe einzelner Soldaten zuständig, sondern nur für Kriegsverbrechen, die von oben gedeckt werden. Das trifft laut Pater Carlos auf die Zwangsumsiedlungen sowie den Beschuss von LRA-Trupps aus Hubschraubern zu. Denn die Armeeführung wisse, dass dabei unvermeidlich mehr verschleppte Zivilisten getötet werden als LRA-Kämpfer. Barney Afako, ein Jurist und politischer Berater in Kampala, glaubt jedoch nicht, dass Moreno-Ocampo die Armee deshalb anklagen kann: »Einen solchen Prozess würde er verlieren.« Denn er müsste beweisen, dass zum Beispiel die Zwangsumsiedlungen einen anderen Zweck hatten als den Schutz der Bevölkerung; »Inkompetenz ist ja nicht justiziabel«. Der IStGH gehe formal korrekt vor, sende aber die falsche Botschaft, es gehe nur um Verbrechen der LRA.
Ein weiterer Einwand gegen den IStGH verweist auf lokale Traditionen. James Otto, der Leiter der Menschenrechtsorganisation Human Rights Focus in Gulu, erklärt: Wenn jemand getötet hat, wird in der Acholi-Gesellschaft ein Geständnis erwartet; dann verständigen sich der Klan des Opfers und der des Täters auf eine Entschädigung. Ein Ritus namens mato oput, bei dem beide Seiten unter anderem ein sehr bitteres Getränk gemeinsam trinken, besiegelt die Versöhnung. Otto erwartet nach dem Ende des Krieges eine Flut solcher Geständnisse und Reparationen. Im Verhältnis zum Staat seien die Acholi auf das moderne Strafrecht angewiesen, aber in Konflikten untereinander hierzu gehöre der Krieg mit der LRA bevorzugten sie traditionelle Verfahren. »Wir haben unsere eigenen Werte, die westliche Justiz hilft uns nicht«, spitzt Francis Shanty, der Sprecher von GUSCO, diesen Einwand zu.
Doch Versöhnungsrituale wie mato oput werden anders als Reinigungsrituale, mit denen frühere Kämpfer wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden nur sehr selten praktiziert. Ob sie für die Verbrechen der LRA wirklich geeignet sind, ist fraglich. Denn oft sind daran zahlreiche Klans beteiligt, in derselben Familie finden sich Opfer und Täter, oder es ist kaum zu rekonstruieren, wer wen getötet hat. Unklar ist auch, wie bereitwillig die Acholi Kinder, die für die LRA gekämpft haben, wieder aufnehmen. Entführte Mädchen und Frauen finden später kaum einen Ehepartner, und ihre im Busch geborenen Kinder werden von keinem Klan als zugehörig akzeptiert. »Die Acholi lehnen bei normalen Rechtsstreitigkeiten auch nicht die Gerichte ab«, betont Pater Carlos Rodríguez.
Amnestierte Kommandeure der LRA können in Gulu zwar unbehelligt durch die Stadt spazieren. Das heißt aber nicht, dass die Bevölkerung ihnen vergibt. Das zeigt die Umfrage in den Lagern vom Frühjahr 2005. Zwei Drittel der über 2500 Befragten erklärten, die Führer der LRA sollten vor Gericht gestellt und bestraft werden; gut ein Fünftel will ihnen vergeben. Auf die Frage, wer sie zur Rechenschaft ziehen soll, nannten gut die Hälfte die Regierung, ein Viertel die internationale Gemeinschaft und 16 Prozent lokale Instanzen traditionelle oder religiöse. Die Haltung mancher NGOs gibt also in wichtigen Fragen nicht unbedingt die Ansichten der Opfer wider.
Über die Hälfte der Befragten sprach sich allerdings auch für die Amnestie aus, wobei die große Mehrheit eine Entschuldigung, ein Geständnis und/oder Kompensation zur Voraussetzung machen will. Ein Teil hält also sowohl Strafe als auch Straferlass für richtig. Dem Ethnologen Tim Allen vom Crisis States Research Center der London School of Economics erklärten mehrere Vertriebene Anfang 2005, man solle Kony nur anklagen, wenn er vorher verhaftet und unschädlich gemacht sei.
Viele haben offenbar Angst, dass eine Anklage den Krieg verlängern könnte. Dass er eine Verhandlungslösung verhindere, ist ein entscheidender Einwand gegen den IStGH. Aber trifft das zu? Richtig ist, dass die Einschaltung des IStGH das Amnestie-Versprechen für die höchsten LRA-Führer untergräbt, denn gegen die bereitet Moreno-Ocampo eine Anklageschrift vor. Das behindert Verhandlungen. Ob es die Beilegung des Konflikts stört, ist damit aber nicht gesagt. Denn die Frage ist, ob überhaupt die Chance besteht, den Krieg mit Verhandlungen zu beenden.
Wer das glaubt, warnt vor einer Anklage noch während des Krieges. So der Norweger Lars Erik Skaansar, der in Gulu für die UN Bigombes Vermittlung unterstützt. »Nach einer Anklage wird die LRA den Kontakt abbrechen«, sagt er. Betty Bigombe, die 1997 die Regierung verlassen hatte, hat Anfang 2004 neue Gespräche mit der LRA in Gang gebracht. Um diese zu unterstützen, erklärte Museveni mehrmals einen einseitigen, zeitlich und räumlich begrenzten Waffenstillstand. Die Unterzeichnung eines Memorandums, das einen dauernden Waffenstillstand vorsah, scheiterte aber zweimal; beim zweiten Mal. im Februar, lief Konys Chefunterhändler wegen Differenzen mir Kony über.
Skaansar zeigte sich im Juni dennoch zuversichtlich, dass eine Verhandlungslösung erreichbar ist. Andere haben große Zweifel an der Verhandlungsbereitschaft einer oder beider Seiten. So ist unklar, was die LRA überhaupt erreichen will. Skaansar hält nicht politische Ziele, sondern die persönliche Sicherheit der LRA-Führer für ihr größtes Anliegen; sobald die Vermittlung zu Verhandlungen führe, werde es hauptsächlich um Straffreiheit oder sicheres Exil gehen. Tatsächlich haben die LRA-Führer im Dezember 2004 Garantien dafür verlangt, dass der IStGH sie nicht anklagt. Die kann Museveni aber nicht mehr geben. Denn der IStGH hat das Recht, auch Amnestierte anzuklagen. Museveni kann die Einschaltung des IStGH nicht mehr rückgängig machen, was er Ende 2004 versuchte. Wenn ugandische Gerichte nicht selbst die Haupttäter bestrafen oder der UN-Sicherheitsrat das Gericht stoppt, dann liegt die Entscheidung bei Moreno-Ocampo. Und auch er, so erklärt der Pressesprecher des IStGH Christian Palme, kann die Ermittlung nur ruhen lassen, nicht einstellen. Die zuständige Kammer des Gerichts kann dann die Neuaufnahme anordnen.
Kony und seine engsten Getreuen wollen aber anscheinend gar nicht wie Verbrecher amnestiert werden. Sie würden wenn überhaupt nur einen Handel eingehen, mit dem sie als politische Kraft anerkannt werden. Politische Forderungen, über die man verhandeln könnte, erheben sie jedoch keine. Jemand, der bei Gesprächen mit der LRA dabei war, berichtet, dass es auf die Frage nach politischen Zielen stets hieß: »Das sagen wir nur der Regierung selbst«. Gegenüber dem Innenminister sei dann die konkreteste Forderung gewesen: »Freiheit für die Acholi.« Darüber ist schwer zu verhandeln.
Museveni seinerseits unterstützt zwar die Gespräche, hat aber die Option auf einen militärischen Sieg über die LRA nicht aufgegeben. Das hat er Mitte 2005 in einem Interview des Informationsdienstes IRIN offen erklärt. Der Zweck der Verhandlungen besteht für ihn darin, LRA-Kommandeure zum Überlaufen zu bewegen. Zudem will Museveni mit Hilfe des IStGH die Regierung des Sudan unter Druck setzen, gegen Kony vorzugehen.
Die in Washington angesiedelte International Crisis Group hat deshalb die Europäer und die USA aufgerufen, Museveni zu ernsthaften Verhandlungen zu drängen. Druckmittel hätten sie: Ugandas Staatshaushalt wird zu rund der Hälfte aus Entwicklungshilfe finanziert. Die Geber sind aber nicht einig. Die Niederlande, Großbritannien und Norwegen haben Bigombes Vermittlung mit in Gang gebracht und begleiten sie; Mitte 2005 haben sich die USA angeschlossen. Mehrere andere europäische Länder halten dagegen eine Verhandlungslösung für nicht erreichbar.
Zudem wird Museveni gerade jetzt die militärische Karte nicht aus der Hand geben. Denn die LRA ist entscheidend geschwächt. Erstens haben der Rückzug von Ugandas Truppen aus dem benachbarten Kongo (vgl. »der überblick« 3/03), Schritte gegen die Korruption in den Streitkräften und der Kauf von neuen Waffen, insbesondere Kampfhubschraubern, die Kampfkraft der Armee in Norduganda verbessert. So sichert sie jetzt wirksam die Konvois, die Nahrungsmittelhilfe auch in abgelegene Lager bringen. Zweitens hat die LRA sich mit der Ausweitung ihrer Angriffe auf Teso und Langi neue Gegner geschaffen. Diese Gruppen, die anders als die Acholi nicht den eigenen Kindern gegenüberstehen, haben die Armee mit starken Milizen unterstützt und der LRA Verluste beigebracht.
Drittens hat der Sudan seine Unterstützung für die LRA vermindert und duldet Ugandas Angriffe im Grenzgebiet.
Musevenis Doppelstrategie scheint neuerdings zu wirken. Seit 2003 sind zahlreiche Mitglieder und auch Kommandeure der LRA übergelaufen insgesamt bisher rund 6000. Nicht nur weil ein Radioprogramm in Gulu über die Amnestie und die Erfahrungen Amnestierter berichtet und Vertrauen in den Straferlass geweckt hat. Dass Kony die Truppen weglaufen, ist auch ein Erfolg des militärischen Drucks. Manche NGO- und Kirchenvertreter geben daher unter der Hand zu, dass die militärische Option nicht aufgegeben werden kann.
Auf einen vollständigen militärischen Sieg setzt aber kaum ein Beobachter. Zu oft hat die LRA, nachdem sie für tot erklärt worden war, sich mit brutalen Massakern zurückgemeldet, betont CSOPNU. Andererseits hat Kony, der mit dem Rücken zur Wand steht, seine Druckmittel für Verhandlungen weitgehend verloren. In naher Zukunft scheint also auch ein Verhandlungsfrieden unwahrscheinlich.
Deshalb lässt sich auch nicht eindeutig sagen, dass der IStGH die Beilegung des Krieges behindert. Livingstone Sewanyana, der Leiter der Menschenrechtsstiftung Foundation for Human Rights Initiatives (FHRI) in Kampala, hält weder die LRA noch die Armee für verhandlungsbereit und begrüßt deshalb das Eingreifen des IStGH. »Die Straflosigkeit muss beendet werden«, sagt er. »Nur so kann man den Teufelskreis der Gewalt in Norduganda brechen. Gräueltaten dürfen nicht belohnt werden.«
Das vernachlässigt aber eine Besonderheit des Konflikts: Unter den Rebellen sind viele Verschleppte, teils Kinder. NGOs wie die Elternvereinigung CPA und die Kirchen betrachten den Krieg auch als große Geiselkrise. Verhandlungen seien deshalb selbst dann nötig, wenn sie nicht zum Friedensschluss führen. Denn es gelinge immer wieder, der LRA die Freilassung einiger Entführter abzuhandeln.
Für Verhandlungen selbst aussichtslose spricht auch, dass sie regelmäßig zu einem Abflauen der Gewalt führen. Es gehört aber zum Widersinn dieses Krieges, dass gerade dann auch weniger Verschleppte fliehen können. Denn der Glaube an Konys übersinnliche Kräfte und der Terror innerhalb der LRA sorgen dafür, dass nur sehr selten ganze Kampfgruppen überlaufen. Desertieren können LRA-Kämpfer vor allem in der Hitze eines Gefechts.
Gegen Verfahren durch den IStGH spricht eine weitere Besonderheit des Krieges in Norduganda: Weder die Zeugen noch die Bevölkerung Nordugandas können vor Racheakten geschützt werden. Die LRA-Führer können versuchen, Beweise zu beseitigen und Zeugen zu töten auch Verschleppte. Und sie könnten die Bevölkerung für das Vorgehen des IStGH »betrafen«. »Gleich nachdem der IStGH eingeschaltet worden ist, hat die LRA das Massaker von Barlonyo begangen«, sagt Afako. Über 200 Vertriebene hat sie in diesem Lager nahe Lira am 21. Februar 2004 hingemetzelt. »Das«, so Afako, »war ein Signal.«
Tim Allen relativiert diese Befürchtungen. Insgesamt, so schreibt er, sei seit der Einschaltung des IStGH das Ausmaß der Gewalt in Norduganda gesunken vor allem wegen der Schwäche der LRA. Zudem habe die Ermittlung des IStGH möglicherweise dazu beigetragen, dass der Sudan die Unterstützung für die LRA verringert hat. Als Folge sind mehr Kämpfer übergelaufen, weil die LRA unter großem Mangel an Nahrung leidet. Zweitens habe infolge der Einschaltung des IStGH die internationale Aufmerksamkeit für Norduganda stark zugenommen. Und drittens bestrafe nun Ugandas Armee Übergriffe ihrer Soldaten häufiger.
Auch Barney Afako würde eine Anklage gegen den Rebellenchef begrüßen, vorausgesetzt, Kony könnte dann schnell verhaftet werden. Wenn aber der Sudan das verhindere, könne eine Anklage keinen Nutzen, sondern nur Schaden stiften. Wenn Kony einen Haftbefehl zum Vorwand nehme, Verhandlungen zu beenden, und dann weiter morden kann, »hat sich der IStGH in Afrika diskreditiert«.
Angesichts all dieser Unwägbarkeiten hat der IStGH vorsichtig operiert. Im März 2005 hat er mit Vertretern der Acholi gesprochen, im April mit Vertretern aller betroffenen Volksgruppen. Dazu hat er Bischöfe, traditionelle Führer, Mitglieder der Lokalverwaltung und Parlamentarier nach Den Haag eingeladen (die meisten Parlamentarier aus Norduganda gehören zu Oppositionsparteien). Der Chefankläger Moreno-Ocampo hat zugesagt, dass er wie im Statut des Gerichts vorgesehen im »Interesse der Opfer« bei seiner Entscheidung berücksichtige, ob eine Strafverfolgung dem »Interesse der Gerechtigkeit« diene. Beide Seiten kamen überein, dass traditionelle Schlichtungsmechanismen und Strafverfolgung einander ergänzen sollten. »Nötig ist eine Verbindung von formalen Prozessen, traditionellen Verfahren, Amnestie und öffentlicher Aufarbeitung«, erläutert der Pressesprecher des IStGH, Christian Palme.
Niemand kann sicher sagen, wie der grausige Krieg am ehesten beendet werden kann. Der Menschenrechtler Livingstone Sewanyana hält eine UN-Truppe für nötig, doch die scheint wenig wahrscheinlich. Die größte Chance ergibt sich aus dem Friedensvertrag im Sudan zwischen der Regierung und der SPLA. Vom weiteren Verlauf dieses Friedensprozesses hängt nun ab, ob die LRA ihre Unterstützer in der Regierung in Khartum sowie unter den Warlords im Südsudan dauerhaft verliert. Dann dürften die Tage der LRA gezählt sein.
Noch aber ist Norduganda vom Terror wie gelähmt und beherrscht von dem einen Wunsch, der Krieg möge endlich enden. Als Preis dafür würden viele Kony Straffreiheit einräumen wenn auch widerwillig. So wie Patrick Otto mit seiner Familie im Flüchtlingslager Paler: »Wir haben genug vom Krieg. Wir haben genug gelitten«, sagt er. Wenn er eines Tages vor der LRA sicher ist, wird er vielleicht eine Bestrafung ihrer Führer nicht mehr ablehnen. Viele Nordugander werden es jedenfalls begrüßen, wenn Moreno-Ocampo dann seine Anklageschrift aus der Tasche zieht.
Literatur:
aus: der überblick 03/2005, Seite 37
AUTOR(EN):
Bernd Ludermann