Eine Kettenreaktion des Guten?
Liebt euch, als ob ihr Geschwister wäret. Kümmert euch um die, die
in irgendeiner Hinsicht in elendem Zustand sind.Vergeltet Böses nicht mit
Bösem oder Beleidigung mit Beleidigung, sondern antwortet so, dass ihr
Gottes Liebe für den Gegner erbittet. Denn ihr seid dazu bestimmt, die
Liebe Gottes und seinen Segen zu empfangen.
Petrus 3,(8-9)
von Wilfried Steen
Ein alter Witz berichtet, der Pastor habe im Sonntagsgottesdienst über diesen Text aus dem ersten Petrusbrief ergreifend und aufrüttelnd gepredigt und zu mehr Liebe unter den Menschen aufgerufen hat. Bei der Verabschiedung am Ausgang sagt einer der Gottesdienstbesucher zu ihm: "Ihre Predigt trifft hundertprozentig auf meinen Bruder zu. Der sollte sich mal diese Bibelstelle und ihre Predigt hinter die Ohren schreiben. Aber der geht ja nicht zur Kirche." Der Witz macht eines deutlich: Diese Worte "Vergeltet Böses nicht mit Bösem oder Beleidigung mit Beleidigung, sondern antwortet so, dass ihr Gottes Liebe für den Gegner erbittet" aus dem ersten Petrusbrief können zu Missverständnissen Anlass geben.
Laden diese "Empfehlungen" wirklich Menschen von heute ein, ihr Leben neu zu orientieren? So sehr diese Bibelstelle auch allgemein anerkannte Lebensweisheiten repräsentiert, wer kann für sich in Anspruch nehmen, sie einzulösen? Als Christ muss ich natürlich zu dieser Aufforderung "vergeltet Böses nicht mit Bösem" stehen. Sie sind leicht ausgesprochen, jedoch schwer umgesetzt. Aber empfinde ich nicht auch klammheimlich Rache als süß, wenn es meinem Feind an die Wäsche geht? Wie ungerecht von Gott, dass er nicht mal ein bisschen mehr Gerechtigkeit auf der Erde walten lässt und die Bösen richtig bestraft!
Ich kann es einfach nicht glauben, dass da einer unter uns ist, der Demütigungen oder dumme Sprüche anderer einstecken kann und dann von Herzen sagt: Ich segne dich! Der Kirche wird manchmal zu Recht die fehlende Glaubwürdigkeit oder sogar Scheinheiligkeit vorgeworfen, weil diese hehren Aufforderungen des ersten Petrusbriefes im Munde geführt, aber in der Praxis nicht ausgeführt werden.
Wenn wir von der persönlichen Ebene einen Sprung in die Weltpolitik machen, dann sind Beispiele für die erfolgreiche Umsetzung des Bibelwortes aus dem ersten Petrusbrief noch seltener. Vergeltet Böses nicht mit Bösem. Das wäre eine gute Regel für die Weltpolitik, vor allem im Nahen Osten. Dort ist der Boden, auf dem Jesus gelehrt hat. Dort sind die Einsichten des Verfassers des ersten Petrusbriefes ausgesprochen und niedergeschrieben worden. Gibt es ein besseres Bewährungsfeld als diese vom Krieg gequälte Landschaft Palästinas?
Mit gnadenloser Härte nutzen beide Parteien, die Israelis und die Palästinenser, das gegnerische Handeln als Legitimation für ihre Aktionen. Schließlich darf keine Seite auch nur die geringste Schwäche zeigen. So eskaliert die Situation, und ein Krieg rückt in greifbare Nähe. Das gilt nicht nur für den Brennpunkt Naher Osten, es gilt für viele andere Brutstätten des Hasses und der Gewalt rund um den Erdball. Keinen Millimeter von eigenen Forderungen zurückweichen, lieber provozieren als schlichten, lieber Härte zeigen als Nachgiebigkeit! Jede Seite sieht sich in der Situation des Bedrohten, der Notwehr leisten muss. Jede Partei erkennt die Schuld eindeutig bei den anderen. Ein Teufelskreis. Wer zieht die Notbremse, ehe der Zug der Weltpolitik in den Abgrund des Krieges rast?
In seinem Buch "Vom Schlechten des Guten (Eine Kettenreaktion des Guten?)" beschreibt Paul Watzlawik, Forscher und Psychotherapeut am Mental Research Institute in Palo Alto, Kalifornien, den Fall von Amadeo Cacciavillani aus Italien, der seinen Wagen an einem trüben Wintermorgen in der Nähe seines Büros abstellte und schon zweihundert Meter zu Fuß gegangen war, als er von einem Unbekannten angesprochen wurde: Sie haben das Licht am Auto angelassen. Und schon war der Fremde weg. Sein erster Gedanke: "Will mich der hereinlegen? Was hat der vor?" Was Amadeo Cacciavillani noch nicht wusste: die Anständigkeit jenes Unbekannten hatte ihm die Regeln eines neuen Spiels aufgezwungen. "Als er nachdenklich zum Wagen zurückging, um das Licht auszuschalten, hatte er ein undeutliches Gefühl der Verpflichtung, das ihm völlig neu war - ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber irgendeinem anderen Menschen in ähnlicher Lage. Vorläufig blieb es latent. Das wirklich entscheidende Ereignis trat erst Monate später ein. Da fand er eine recht gut gefüllte Brieftasche und rieb sich die Hände vor Freude über diesen unverhofften Gewinn. Und ausgerechnet da musste er an den Unbekannten denken, der ihm nachgelaufen war, und auf einmal ging's nicht. Er saß da, starrte auf das Geld, auf die Carta d'identità des Verlierers, auf ein paar armselige Fotos - und da raffte er alles zusammen, stieg in seinen Wagen und fuhr hin... Der Mann lebte in einem schäbigen Haus, allein, und wollte zunächst seinem Glück nicht trauen, als Cacciavillani ihm die Brieftasche hinlegte, kurz erklärte, wo er sie gefunden hatte, und dann zu seiner eigenen größten Überraschung auch noch Vergnügen daran fand, die Annahme des Finderlohns zu verweigern, den der andere ihm (ohne große Begeisterung) zahlen wollte...
"Phantastisch", sagte sich der Verlierer, als Cacciavillani abgefahren war, "ich hätte nie gedacht, dass ich meine Geldbörse in ein paar Stunden wiederhaben würde. Aber, ehrlich gesagt, so blöd müsste ich einmal sein und gefundenes Geld zurückgeben..." Hier irrte er, denn ohne es zu wissen, hatte Cacciavillani ihm nun seinerseits die Regeln jenes merkwürdigen Spiels aufgezwungen, und als sich das nächste Mal in seinem Leben eine vergleichbare Situation ergab, war auch er "so blöd".
Die Moral von der Geschichte? Der Unbekannte hatte anscheinend eine Kettenreaktion ausgelöst, da die Sache eben nicht bei Cacciavillani und dem Mann mit der Brieftasche Halt machte, sondern sich trotz zahlreicher Rückfälle der beiden weiter fortpflanzte. Ja, Amadeo Cacciavillani begann diese Form des Gewinnes und der Macht über andere Menschen langsam sogar Spaß zu machen."
Auch wenn unsere Erfahrungen dagegen sprechen, die Tat des Guten kann eine Kettenreaktion auslösen wie bei Amadeo Cacciavillani. Auch deshalb ist das Wort aus dem ersten Petrusbrief "Vergeltet Böses nicht mit Bösem" keine Aufforderung, auf der sich der Staub der Geschichte zu Recht ablagert. Es ist eine der Chancen, heute Wege zum Guten zu finden. Im Kern biblischer Ethik geht es darum, dass ich den Teufelskreis des Bösen durchbreche, indem ich das Gute weitergebe, das ich empfangen habe. Im modernen Management heißt dies auf gut Deutsch: Ich stelle Win-win-Situationen her, eine Lage, in der beide Parteien gewinnen.
Wir wissen heute, dass Konfliktparteien nur dann bereit sind, Frieden zu schließen, wenn sie sich wirtschaftlich und militärisch kaputt gekämpft haben und für keine Partei mehr die Aussicht besteht zu gewinnen. Eine furchtbare Perspektive! Wenn eine Kontroverse aber so gelöst werden kann, dass jeder der Kombattanten sich als Gewinner fühlt, wird die Übereinkunft Sinn machen und von beiden Seiten eingehalten. Wer dagegen alles darauf setzt, dass der Gegner verliert, wird irgendwann dessen grausame Rache zu spüren bekommen. Wir wissen alle, wie das geht: Rache durch kleine Tricks, durch Arbeit nach Vorschrift. Oder in der großen Politik durch überbordenden Hass, durch Selbstmordattentate, die unschuldige Menschen vernichten.
Wir sollten Watzlawiks Vorschlag, eine Kettenreaktion des Guten in Bewegung zu setzen, auf alle unsere Lebenssituationen hin prüfen. Nichts anderes will unser Bibelwort. Vergeltet Böses nicht mit Bösem oder Beleidigung mit Beleidigung, sondern antwortet so, dass ihr Gottes Liebe für den Gegner erbittet.
Damit ist uns eine großartige Gelassenheit gegeben. Wir sind nicht mehr in die Automatik von Reaktion und Gegenreaktion, von Aggression und Vergeltung, hineingepresst. Wir müssen nicht Böses mit Bösem vergelten. Böses mit Bösem zu vergelten, rechnet sich letztlich auch nicht. Denn jeder von uns weiß, dass auch das Böse Kettenreaktionen auslösen kann. Da ist es schon besser, eine Kettenreaktion des Guten zu schaffen, wie Watzlawik es aufzeigt. Aber der Ansatz einer philosophischen Ethik greift zu kurz. Denn er allein kann Menschen nicht davon abbringen, im engen Sinne eigennützig und damit letztlich gegen die Interessen der Gemeinschaft zu handeln.
Denn ihr seid dazu bestimmt, die Liebe Gottes und seinen Segen zu empfangen. Wenn wir diesen Satz ernst nehmen, dann öffnet sich ein weiter Horizont. Wir sollen nicht nur ein paar gute Taten zur Selbstberuhigung tun, sondern wir sollen das Gute, das Gute schlechthin weitergeben, Gottes Liebe und seinen Segen. Was heißt das konkret? Das kann heute heißen: Die Politiker daran erinnern, dass sie es sind, die die Notbremse betätigen können. Alles muss geschehen, damit die Waffen aus der Hand gelegt werden und dauerhafter Frieden entsteht. Ein mühsames Geschäft! Da gibt es viel zu tun, um die Gewissen der Politiker in unserem Land zu schärfen. Da muss Überzeugungsarbeit geleistet werden, dass weltweiter Friede mit Gerechtigkeit zusammenhängt. Da müssen die Entwicklungsprojekte unserer Partnerkirchen und -organisationen in Übersee vorangebracht werden, die sich der Minenräumung auf den Feldern und der Rehabilitation von Kindersoldaten widmen.
Wer nun meint, das Wort aus dem ersten Petrusbrief verpflichte zu einer "Seid-nett-zueinander-Haltung", der irrt. Wer die Liebe Gottes für seinen Gegner erbittet, muss nicht das klare Wort in einem Konflikt vermeiden. Gerade ein offenes Gespräch kann segensreicher sein als das Übertünchen und Verschweigen der Wahrheit. Wir geben etwas vom Guten weiter, geben aus der Fülle dessen, was wir empfangen. Wir wirken daran mit, dass eine neue Wirklichkeit entsteht. In einer Welt, in der die Verhärtungen durch Selbstsucht zunehmen, arbeiten wir in der großartigen Gelassenheit derer, die es sich leisten können, als Mitarbeiter Gottes "Win-win-Situationen" zu schaffen. Es ist an uns, schon heute Kettenreaktionen des Guten in Gang zu setzen.
aus: der überblick 03/2001, Seite 108
AUTOR(EN):
Wilfried Steen:
Wilfried Steen ist Mitglied des Vorstandes und Leiter des Inlandsressorts des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED).