Nicht eins mit sich selbst
Viel stand auf der Agenda der LWB-Vollversammlung: die "Heilung der Welt", Frieden, Aids, Homosexualität und die Einheit der christlichen Kirchen sowie die Verständigung mit anderen Religionen. Eine neue Debatte kam hinzu, als die kanadische Regierung gegen 51 Delegierte ein Einreiseverbot verhängte und es auch gegen die Proteste der LWB-Versammlung nicht zurücknahm: Hat die Stimme der Kirchen noch Gewicht?
von Klaus Rieth
Das Gesangbuch, das die Teilnehmer der zehnten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) im kanadischen Winnipeg vom 21. bis 31. Juli benutzten, heißt "Lieder der Hoffnung und Versöhnung". Auf 220 Seiten sind dort 110 Lieder aus aller Welt abgedruckt. Lieder, die gut singbar sind mit eingängigen Melodien und kurzen knappen Sätzen. Aber: Kein einziges Lied hat einen Text von Martin Luther. Ein deutscher Journalist wunderte sich darüber und stellte die Frage an die Verantwortlichen in Winnipeg. Warum kein Lutherlied bei der Vollversammlung? Man hätte eben moderne Lieder aufnehmen, den internationalen Charakter der Gemeinschaft reflektieren wollen, so die Antwort. Da wäre ein echtes Lutherlied eher störend gewesen. Tradition und Moderne - und wo steht der LWB dazwischen?
Diese kleine Begebenheit am Rande drückt deutlich aus, worum es in Winnipeg ging: Allen 700 Teilnehmenden war klar, dass nichts so bleiben sollte, wie es in der Vergangenheit war und gleichzeitig wurde die Sehnsucht nach den gemeinsamen Wurzeln, nach der guten alten Zeit deutlich. Oder wie es Fritz Baltruweit in seiner Übersetzung eines chilenischen Liedes ausdrückt: "Wir bitten Dich, Gott, vergib uns, wir leben auf Kosten and'rer. Weil wir nicht eins mit uns selbst sind, fehlt uns der Atem zur Liebe." Nicht eins mit sich selbst - so könnte man die gegenwärtige Gemütslage des LWB nennen. Doch Winnipeg hat gezeigt, dass dieses offensichtliche Defizit Grundlage eines wohlüberlegten und nachhaltigen Aufbruchs ist.
So haben es etwa viele der rund 800 Teilnehmenden an der Vollversammlung schon als großen Erfolg verbucht, dass der lang ausgetragene Streit um eine Stellungnahme zur "Homosexualität" schließlich doch beigelegt und an den Rat verwiesen wurde. Die Tatsache, dass etwas nicht in der Schlusserklärung stand, war in diesem Falle wichtiger als das, was dann schlussendlich zu diesem Punkt gesagt wurde.
Das Thema "Homosexualität" hat den Weltbund an seine Grenzen geführt: Einige Delegierte aus Schweden hatten sich in einem Positionspapier dafür stark gemacht, die Diskriminierung von gleichgeschlechtlich lebenden Paaren anzuprangern. Gerade die lutherischen Kirchen sollten darauf achten, dass Homosexualität nicht länger als Krankheit oder etwas Kriminelles dargestellt wird. Auch sollte sich die Kirche bemühen, eine bessere Regelung zu finden, um in den verschiedenen Kulturen auf respektvolle Weise über gleichgeschlechtliche Beziehungen reden zu können. Überhaupt sollte der Begriff der "Familie" auf dem Hintergrund gleichgeschlechtlicher Paare neu überdacht werden.
Diese Forderungen gingen einigen Delegierten dann doch zu weit. Viele Teilnehmer aus Afrika meinten etwa, dass Homosexualität ein Problem der Kirchen der Länder des Nordens seien und man sie doch bitte mit solchen Dingen verschonen solle. Auch Vertreter aus den baltischen Staaten äußerten sich ähnlich. Doch was auf den ersten Blick wie zwei unversöhnliche Blöcke nebeneinander zu stehen schien, entpuppte sich als äußerst vorsichtige und sensible Debatte. Man hörte aufeinander in Winnipeg. So argumentierten die einen glaubwürdig vor dem Hintergrund ihrer eigenen Kultur, die anderen hingegen brachten seelsorgerliche Gründe vor, die Existenz und die Lebensweise homosexuell lebender Menschen als Gottes Wille anzunehmen. Hatte sich in der Mittagspause ein Bischof noch enttäuscht und frustriert gezeigt, weil der reiche Norden mit seinem Geld wieder einmal den Süden negativ beeinflusse, so behielt dieser Bischof mit seinen Befürchtungen dann an der Abstimmung über die Schlussresolution doch nicht Recht: Das Wort "Homosexualität" wurde gestrichen und das Thema an den Rat verwiesen, der jetzt sechs Jahre Zeit hat, unter Einbeziehung der Mitgliedskirchen eine neue Stellungnahme zu verfassen. Auch eine der Initiatorinnen des schwedischen Vorstoßes, Kajsa Ahlstrand, äußerte sich sehr zufrieden über den Diskussionsverlauf: "Wir werden Wege finden, das Thema weiter zu behandeln. Und wir werden weiterhin gegen jede Diskriminierung kämpfen." Zwar werde das Problem von Region zu Region unterschiedlich wahrgenommen, aber jetzt sei jede einzelne Mitgliedskirche gefragt, wie sie es mit dem Thema "Homosexualität" halte. Ahlstrand: "Ich sehe mit großer Hoffnung in die Zukunft!"
Winnipeg war eine Vollversammlung der leisen Töne. Das Schrille und Aufgeregte, das Missionarische und Ideologische, das auf vergangenen Vollversammlungen oft die Oberhand hatte, war völlig verschwunden. Vielleicht lag das auch daran, dass diese zehnte Vollversammlung von Beginn an, ja schon im Vorfeld, mit einer völlig neuen Situation konfrontiert war: Erstmals weigerte sich die Regierung eines gastgebenden Landes, eine größere Zahl von Delegierten zu einer Vollversammlung einreisen zu lassen. Über die Gründe konnte lange Zeit nur spekuliert werden. Hatten die zuständigen Behörden einfach Angst davor, dass afrikanische und asiatische Delegierte nach Ablauf der Vollversammlung nicht wieder in ihre Heimatländer zurückkehren und Asyl in Kanada beantragen würden? Manches deutete darauf hin, denn vorwiegend waren es junge Frauen aus Afrika, die betroffen waren. Oder wie war es zu erklären, dass gleich ganze Delegationen aus Indien etwa nicht einreisen durften? Später dann sickerte über lokale Presseveröffentlichungen durch, man hätte keine Kriminellen einreisen lassen wollen. Dies wiederum führte zu einem geharnischten Protest des Generalsekretärs des LWB, Ishmael Noko, bei dem zuständigen Ministerium. Doch die Regierung blieb hart, und so konnten 51 Delegierte nicht nach Kanada kommen.
Für viele Altgediente beim LWB war dies eine völlig neue Erfahrung der Ohnmacht. Dieser starke Weltbund mit seinen 136 Mitgliedskirchen in 76 Ländern, die weltweit rund 61 Millionen Lutheraner vertreten, sollte es nicht schaffen, eine Regierung, zumal eine westliche von ihrem zweifelhaften Verhalten abbringen zu können?! Vermutungen wurden geäußert, dass die doch relativ schwache lutherische Kirche von Kanada mit ihren 200.000 Mitgliedern im Vorfeld eben kein ebenmäßiger Partner der kanadischen Regierung war und deshalb auch nicht ernst genommen wurde. Aber vielleicht war es auch einfach so, dass die Regierung diese Versammlung von Kirchenmenschen so einstufte wie ein Großtreffen von irgendwelchen Brauchtumspflegern.
Doch obwohl diese Zurücksetzung die ganze Vollversammlung prägte und wichtige Kirchen fehlten, gelang es doch den Verantwortlichen, das Thema des Treffens "Zur Heilung der Welt" effektiv umzusetzen. Maßgeblich dazu beigetragen hatte die hannoversche Landesbischöfin Margot Kässmann, die in ihrem Grundsatzreferat zum Thema deutlich machte, dass die Kirchen die Realität der sie umgebenden Welt nicht ausblenden dürften. Kässmann lieferte eine sehr realistische Einschätzung der Kirche in unserer Zeit und verstand es, bewusst biblisch und theologisch fundiert, den knapp 400 Delegierten und fast noch einmal so vielen Gästen und Beratern deutlich zu machen, mit welch großer Hoffnung diese Kirche in die Zukunft steuere: "Wer vom Heilen sprechen will", so Kässmann, "muss zuerst die Wunden anschauen." Die Bischöfin sprach sich in diesem Zusammenhang für eine ganzheitliche Medizin und dezidiert gegen die Präimplantationsdiagnostik aus: Dies sei "eine moderne Form von Versuchung, den Menschen zu klonen. Christinnen und Christen können nur sagen: Hände weg!" Kässmann rief dazu auf, eine christliche "Kontrastgesellschaft" zu leben: "Lösen wir uns von der Ideologie der Waffen und lassen wir Frieden wachsen ohne Gewalt! Wir glauben nicht an Imperien und Weltmächte, sondern an die Kraft der Sanftmütigen und die Durchsetzungskraft der Friedfertigen!"
Gut angekommen ist Kässmanns Botschaft aber auch in eher konservativen Kreisen. Sie betonte auf der Vollversammlung besonders auch die sündhafte Welt und die Vorläufigkeit aller unserer Bemühungen: "Als Christinnen und Christen haben wir den Mut, die Wunden anzusehen, können wir Gottes Ohnmacht und Allmacht zusammen denken. Ja, wir müssen die Gebrochenheit des Lebens aushalten, die Kreuzeserfahrung als Teil des Lebens annehmen."
Ähnlich hatte sich auch der ehemalige braunschweigische Bischof und Präsident des LWB, Christian Krause geäußert. Der nach sechs Amtsjahren scheidende Präsident nannte als größte Herausforderungen unserer Zeit die Themen "Armut, HIV/ Aids und den Frieden". Frieden der Religionen untereinander sei das Gebot des 21. Jahrhunderts. Krause wies besonders darauf hin, dass es in den nächsten Jahren innerhalb der lutherischen Kirchen zu einer Zerreißprobe ganz besonderer Art kommen werde. Während die Kirchen des Nordens meist mit schrumpfenden Mitgliederzahlen konfrontiert seien, sei im Süden ein oft erhebliches Wachstum festzustellen, was in erster Linie auf charismatische, geistbewegte Gemeinden und Gemeinschaften zu beziehen sei. Laut Krause wird die Zukunft der Weltchristenheit wesentlich davon abhängen, ob und wie es gelingt, die historischen Konfessionskirchen mit den vielgestaltigen, charismatischen Gemeinden und Bewegungen zu integrieren. Im Umgang der christlichen Kirchen untereinander sei nach langen Mühen die Formel von der "versöhnten Verschiedenheit" gefunden worden, möglicherweise sei im Verhältnis zwischen Christentum und Islam das gleiche Ziel anzusteuern, regte Krause an.
Außerdem wies er darauf hin, dass sich seit der Gründung des LWB im Jahr 1947 die Zahl der Mitgliedskirchen nahezu verdreifacht habe. Diese erhebliche Ausdehnung habe sich aber im Wesentlichen auf Kirchen und Länder in der südlichen Hemisphäre erstreckt. Eine solche Tendenz, so Krause, bedeute eine Gewichtsverlagerung von Norden nach Süden mit erheblichen inhaltlichen, theologischen sowie ekklesiologischen Konsequenzen.
Der aus Simbabwe stammende Generalsekretär des LWB, Ishmael Noko, rief die Versammelten zu noch stärkerer Einheit auf. Noko, der den Begriff der Communio, als einer verbindlichen Gemeinschaft, vorantreiben möchte, verwies auf die großen Fortschritte auf dem Weg zur Einheit der christlichen Kirchen. "Hohe Priorität" habe das Gespräch mit den anderen Kirchen wie etwa den orthodoxen Kirchen, der Anglikanischen Kirchengemeinschaft, den Sieben-Tages-Adventisten und dem Reformierten Weltbund. Ganz besonders sei natürlich das Verhältnis zur Römisch-Katholischen Kirche, das seit der gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre im Jahre 1999 unumkehrbar besser geworden sei. Dies bestätigte auch der deutsche Kardinal Walter Kasper, Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen in Rom. Kasper machte Hoffnung, in dem er auf spezifisch katholische Weise, nämlich in langen Zeiträumen zu denken, auf das nächste Datum der Annäherung der Kirchen verwies, auf das Reformationsjubiläum im Jahr 2017. Im Blick auf dieses Datum hoffe man auf weitere Annäherungen zwischen den Kirchen. Kasper warnte aber zugleich vor überzogenen Erwartungen an eine schnelle Überwindung der kirchlichen Trennung. Die Ursache für diese Zurückhaltung vermuteten manche auch in den schlechten Erfahrungen der römisch-katholischen Kirche mit der Abendmahlspraxis beim ersten ökumenischen Kirchentag in Berlin Ende Mai 2003. Jedenfalls stand Kasper in Winnipeg für Interviews mit der Presse nicht zur Verfügung. Eine Ausnahme machte er lediglich gegenüber Radio Vatikan.
Nach vielen Sparbemühungen wegen rückläufiger Einnahmen steht der LWB heute auch aufgrund der Währungsschwankungen der letzten Monate derzeit finanziell gut da, erläuterte die scheidende Schatzmeisterin des LWB, die Norwegerin Inger Johanne Wremer. Man blicke auf "harte und anspruchvolle Jahre zurück", so Wremer. Auch der Nachfolger im Amt, der württembergische Oberkirchenrat Peter Stollen will diese Linie der finanziellen Konsolidierung weiterverfolgen und setzt hierbei vor allem auf den Stiftungsfonds des LWB, der langfristig mit rund 50 Millionen US-Dollar dafür sorgen soll, dass die Grundbedürfnisse der Organisation abgedeckt werden können und zwar unabhängig von der finanziellen Situation einzelner Mitgliedskirchen. Aber auch die Zahlungsmoral einzelner Mitgliedskirchen, so Stoll, müsse sich langfristig bessern.
In der Schlusserklärung, die nach zahlreichen Gruppensitzungen schließlich einmütig verabschiedet wurde, haben die Delegierten deutlich gemacht, worum es in den nächsten sechs gehen Jahren soll: Um mehr und verbindlichere Kirchengemeinschaft in der lutherischen Familie, um eine besseres Verhältnis zu den anderen evangelischen Kirchen und um eine bessere und weitere Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche. Wie die Rechtfertigungslehre weiter in den Gemeinde behandelt werden kann, soll vorangetrieben werden, ebenso die Frage, wie mit anderen Religionen ein gedeihliches Verhältnis möglich werden kann. Fast nur am Rande fanden solche Themen wie "Eintreten gegen alle Formen der Gewalt", "Ausbeutung der Schwachen" oder die Forderung nach einer "Ökologie, die dem Leben dient" Erwähnung. Die Zeiten haben sich eben geändert.
Eine große kurzfristige Außenwirkung hatte diese Vollversammlung deshalb sicher nicht. Dies wurde schon deutlich an den wenigen akkreditierten Vertretern der internationalen großen Medien. Aber in die Gemeinschaft hinein wird diese Vollversammlung bestimmt weiter wirken. Dies lag unter anderem auch daran, dass die gastgebende Kirche, die kanadischen Lutheraner mit einer selten erlebten Großzügigkeit und Freundlichkeit die Gäste aus der weltweiten Kirchengemeinschaft aufgenommen hatten. Das Treffen in Winnipeg war eine entspannte Vollversammlung. Und dadurch, dass diese Stadt im Herzen Kanadas auch nicht allzu große Attraktionen bot, war die Versammlung mehr denn je auf sich selbst gestellt. Der eine oder andere Delegierte nutzte dies zu persönlichen Erfahrungen mit der indigenen Bevölkerung, mit Eskimos und Indianern, und war so wieder versöhnt mit dem Mangel an Attraktionen. Sicher am wichtigsten aber war die Begegnung der Delegierten untereinander.
Niemanden unberührt ließ etwa das Zusammentreffen mit dem Bischof der jordanischen Kirche, der besetzten palästinensischen Gebiete und Israel, Muni Ahnen, der von den Leiden des palästinensischen Volkes berichtete, von dem Schwinden der Anzahl der Christen in diesem Gebiet und von der Hoffnungslosigkeit vieler Friedensbemühungen.
Betroffen waren alle Delegierten auch von den sehr persönlichen Worten des Bischofs aus Liberia, Samowar E. Harrys, der davon berichtete, wie täglich in seiner Heimatstadt Monrovia neue Gräueltaten bekannt würden und er nichts tun könne. Der kleine Bischof stand oft und lange den Journalisten Rede und Antwort und doch war es ihm abzuspüren, wie sehr er unter der katastrophalen Situation in seinem Heimatland litt. Bewegt von seiner Schilderung der Ohnmacht gaben viele ihrer Erleichterung Ausdruck, dass die USA angekündigt hatten, Truppen in Richtung Liberia in Bewegung zu setzen, um weiteres Unheil zu verhindern. Obwohl viele noch wenige Tage vorher das Vorgehen der USA im Irak verurteilt hatten. Darunter auch der neue Präsident des LWB, der US-Amerikaner und leitende Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Amerika, Bischof Mark S. Hanson. Ihm wird es in den kommenden Jahren zusammen mit anderen in der Leitung des LWB obliegen, diese Spannungen auszuhalten und vielleicht zu einem fruchtbaren Weiterkommen umzuwandeln.
Aber Spannungen sind ja bei dieser Weltgemeinschaft nichts Neues. Und in Winnipeg hat man sich darin geübt, sie weiterhin auszuhalten und hatte wohl auch einigen Erfolg damit.
aus: der überblick 03/2003, Seite 85
AUTOR(EN):
Klaus Rieth :
Klaus Rieth ist Pressesprecher und Leiter des Amts für Information der Evangelischen Landeskirche in Württemberg in Stuttgart.
Er war langjährig Pressesprecher von "Brot für die Welt".