Es ist irrational, die Hilfe im Gesundheitssektor auf wenige Krankheiten zu konzentrieren.
Die Entwicklungshilfe für das Gesundheitswesen armer Länder hat stark zugenommen. Doch die Geber, auch die kirchlichen, lenken ihr Geld großenteils in die Bekämpfung von nur drei Krankheiten: Aids, Malaria und Tuberkulose. Würde es besser verteilt, dann könnten damit mehr Menschenleben gerettet werden.
von Steffen Fleßa
Nach Jahren der Stagnation scheint der Gesundheitssektor in armen Ländern zum Lieblingskind der Entwicklungspolitik zu werden. Die Milliarden fließen, überall entstehen neue Projekte, Krankenhäuser erstrahlen in neuem Weiß und die Exportbücher der pharmazeutischen Unternehmen füllen sich. Auch die Kirchen haben mit den Christlichen Gesundheitsvereinigungen (Christian Health Associations), ihren Gesundheitsprojekten und den vielen Entwicklungsberatern Anteil daran.
Auf den ersten Blick scheint also alles viel besser als noch vor einigen Jahren. Und wer wagt es schon, die Vermehrung der Finanzmittel, den Einsatz anti-retroviraler Medikamente oder die Förderung von gemeindegetragenen Krankenversicherungen zu kritisieren? Darf man als Christ diese Taten der Barmherzigkeit hinterfragen?
Doch die Schattenseiten dieses Booms sind auf den zweiten Blick bedeutend. Man erkennt sie, wenn man vom leidigen Thema der Knappheit ausgeht. Geld, Medikamente und Personal sind knapp und nur sehr schwer vermehrbar. Das tut weh und kann sogar tödlich sein: Noch immer sterben sehr viele Menschen aus Mangel an Medikamenten, Präventionsmaßnahmen, Krankenhausbetten oder Geld.
Die Wurzel des Problems ist, dass knappe Güter in der Regel ausschließlich von einer Person oder einer Gruppe verwendet werden können. Liegt Frau Müller im Bett, ist dort für Herrn Meyer kein Platz. Nimmt Herr Meyer eine Tablette, kann dieselbe Tablette nicht von Frau Müller geschluckt werden. Und operiert Dr. Huber gerade Frau Schulze, kann er nicht gleichzeitig Frau Müller oder Herrn Meyer operieren. Da Medikamente, Mitarbeiter oder Gebäude alle Geld kosten, kann man auch sagen: Das Geld, das ich für Frau Müller ausgebe, steht für Herrn Meyer oder Frau Schulze nicht mehr zur Verfügung. Der Topf ist begrenzt. Selbst wenn sich jemand findet, der zusätzliche Mittel bereitstellt, wird das Problem nur für einige Zeit verschoben. Bei der nächsten Verteilungsfrage werde ich wieder auf die ethische Zwickmühle stoßen: Was einer haben will, kann er nur bekommen, wenn ein anderer verzichtet.
Das gilt leider auch im Gesundheitswesen. Wir werden uns in Deutschland immer mehr bewusst, dass wir nicht mehr alles bezahlen können, was technisch möglich ist und wir uns gerne leisten würden. Angesichts knapper Ressourcen bleibt uns nichts anderes übrig, als Grundsätze für eine gerechte Verteilung aufzustellen. Wir könnten uns für eine egalitäre Lösung aussprechen nach dem Motto: Jeder bekommt exakt dieselbe Versorgung. Das würde bedeuten, dass ein 90-jähriger dasselbe Anrecht auf eine lebensrettende Operation hat wie ein Neugeborenes oder ein 40-jähriger mit drei Kindern. Man muss schon fragen, ob dies wirklich gerecht ist. Alternativ könnte man diskutieren, ob jeder so viel Gesundheitsdienstleistungen zugestanden bekommen sollte, wie er sich aufgrund seines Einkommens leisten kann. Dann wäre ein nicht geringer Teil unserer Landsleute und ein großer Teil der Weltbevölkerung von moderner Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. Dies ist meiner Meinung nach kaum mit dem christlichen Menschenbild vereinbar.
Damit bleibt als einzige vernünftige Regel, dass öffentliche Mittel dorthin fließen sollten, wo sie am meisten zur Lebensqualität, zur Bekämpfung der Sterblichkeit und der Krankheiten bewirken. Wenn man beispielsweise mit einer tausend Dollar teuren Maßnahme zehn Kinder retten kann, dann sollte das Geld nicht in eine Maßnahme fließen, mit der man für dasselbe Geld nur ein Kind am Leben erhalten kann. Denn dann würden, weil die Mittel nicht vermehrbar sind, zehn andere Kinder sterben. Stecken wir das Geld in die Versorgung der zehn Kinder, so wird das eine sterben. Das ist die furchtbare Realität der Knappheit. Trotzdem ist diese Lösung gerechter als jede andere denkbare.
Was bedeutet das für das Gesundheitswesen von Entwicklungsländern? Dort sind Malaria, Tuberkulose und Aids nicht die "großen Killer". Herzinfarkt und Schlaganfall sind bereits deutlich wichtiger geworden. Nur in Afrika sind Aids und Malaria die Haupttodesursachen, dicht gefolgt von Lungenentzündung und Durchfällen. Kein rationaler Entscheider würde deshalb in den Entwicklungsländern ausschließlich Malaria und Aids bekämpfen. Diese beiden Krankheiten stehen denn auch in den Millenniums-Entwicklungszielen neben gesundheitspolitischen Zielen wie der Verringerung der Kinder- und Müttersterblichkeit und der gesunden Ernährung.
Doch tatsächlich geben wir riesige Milliardensummen für die Bekämpfung von drei Krankheiten aus: Seit der Gründung des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria im Jahr 2000 sind diese drei Krankheiten in der Entwicklungshilfe zu den prominentesten aufgestiegen. Auch die Kirchen springen auf diesen Zug auf. Doch selbst bei den Kindern kommt im Durchschnitt aller Entwicklungsländer Malaria erst an vierter Stelle der Todesursachenstatistik nach Problemen im Umfeld der Geburt, Atemwegserkrankungen und Durchfällen.
Durch die Konzentration der Mittel entstehen "vernachlässigte Krankheiten", an denen jährlich Tausende oder gar Millionen sterben, für die sich aber kein Globaler Fonds, kaum eine Universität und leider auch immer weniger Kirchen interessieren. Haben Sie schon einmal von einem kirchlichen Projekt zur Bekämpfung von offenen Feuerstellen in geschlossenen Räumen gehört? Die sind zum Beispiel in Burkina Faso eine Hauptursache für Atemwegserkrankungen. Auch Rauchen oder Übergewicht infolge von Fehlernährung sind selbst in Afrika nicht nur in der Oberschicht ein ernstes Gesundheitsproblem. Dennoch scheint das kirchliche Gesundheitswesen nur noch aus Aids, Malaria und Tuberkulose zu bestehen.
Auf den ersten Blick scheint diese Verwendung knapper Mittel irrational. Man könnte sie begründen, wenn erstens diese Krankheiten von besonders hoher Bedeutung für die Gesundheit der Bevölkerung wären und zweitens ein besonders gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis bei der Intervention bestünde. Aids, Malaria und Tuberkulose sind Infektionskrankheiten, so dass selbstverständlich die Behandlung eines Betroffenen auch der Allgemeinheit nutzt: Wird ein Tuberkulose-Patient geheilt, kann er keinen anderen mehr anstecken. Aber das gilt auch für die meisten Durchfallerkrankungen, Masern, Keuchhusten oder Geschlechtskrankheiten. Es müsste klar bewertet werden, ob etwa in Uganda die Heilung eines Malariapatienten wirklich einen größeren Nutzen für die Allgemeinheit hat als die Heilung eines Patienten mit Schlafkrankheit. Studien dieser Art sind jedoch rar. In keinem Fall rechtfertigen sie die ausschließliche Konzentration auf eine Krankheit und die Vernachlässigung einer anderen mit teilweise katastrophalen Folgen für die Ausbreitung dieser zweiten Infektion.
Ein Tabu-Thema sind die anti-retroviralen Medikamente, die den Aids-Erreger in Schach halten und seit der Finanzierung durch den Globalen Fonds insbesondere in Afrika zum Einsatz kommen. Das ist mit zahlreichen Problemen verbunden: Die Medikamente verlangen eine funktionsfähige Infrastruktur des Gesundheitswesens, denn die Patienten müssen überwacht werden und benötigen ununterbrochenen Medikamentennachschub. Weiter brauchen sie ausreichend Nahrungsmittel, um die Medikamente überhaupt vertragen zu können. Es gibt große Probleme mit der Resistenzbildung bei dem Virus. Und unsere Glaubensgeschwister werden mit den riesigen Summen überfordert und in die Versuchung der Korruption geführt.
Mein Hauptargument aber ist: Jeder Euro, der in die Finanzierung dieser Medikamente fließt, wird anderswo fehlen. Kinder werden an Durchfall sterben, weil das Geld des Gesundheitswesens begrenzt und schon für anti-retrovirale Medikamente verausgabt wurde. Oder Alte sterben an Lungenentzündung, weil Antibiotika aus demselben Grund nicht bezahlbar sind. Selbst in Afrika sind ja Aids und Malaria nur für etwa 30 Prozent der Todesfälle verantwortlich. Sie absorbieren aber viel mehr als 30 Prozent der Mittel, obwohl die Investitionen hier bei weitem nicht so wirksam sind wie bei der Bekämpfung von Masern oder Durchfällen.
Im Angesicht der Knappheit müssen wir genau überlegen, ob wir nicht doch lieber Millionen von Menschen mit relativ billig zu heilenden Krankheiten behandeln, statt das Geld für die lebenslange Behandlung einiger Tausender Aids-Kranker auszugeben. Es ist grausam, denn so oder so bedeutet das den Tod für Tausende. Aber wenn ich in diesem furchtbaren Dilemma entscheiden muss, dann wähle ich lieber den Tod von wenigen als den Tod von vielen.
Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Wenn die Wirtschaftskraft der Entwicklungsländer nicht schnell genug wachsen kann, um selbst die notwendigen Mittel bereit zu stellen, dann kann es nur eine Lösung geben: Das Volumen der Entwicklungshilfe für Gesundheitsprojekte muss steigen. Dass dies geschieht, ist die Erfolgsgeschichte der letzten Jahre. Aber diese Mittel müssen auch rational verwendet werden. Sie dürfen nicht in wenige vertikale Programme fließen, das heißt in Programme, die sich auf eine Krankheit konzentrieren und dafür eine komplette Infrastruktur von der Hauptstadt bis in die Dörfer aufbauen. Klassische vertikale Programme waren die Bekämpfung der Schlafkrankheit, der Lepra oder der Malaria. Heute folgt vielfach die Aids-Bekämpfung diesem Muster. Dabei hat man in den 1970er Jahren erkannt, dass vertikale Programme infolge ihrer Doppelstrukturen viele Mittel verschwenden. Horizontale Programme erfassen dagegen mit denselben Einrichtungen alle Krankheiten in einem Gebiet. Leider scheint diese Erkenntnis heute keine Rolle mehr zu spielen.
Teilweise liegt das daran, dass viele unserer Kollegen in Entwicklungsländern nicht die Kompetenz haben, umfassende horizontale Programme zu managen. Wir sollten in Mitarbeiter investieren, damit fachlich und kaufmännisch geschultes Personal die neuen Aufgaben schultern kann. In Studien konnte immer wieder gezeigt werden, dass die Verschwendung knapper Mittel und fehlende Managementkompetenz das eigentliche Problem in Gesundheitseinrichtungen der Entwicklungsländer darstellt. Hier ist eine intensive Ausbildung dringend nötig, bevor Programme aufgepfropft werden. Zwar geschieht da Einiges, aber insgesamt wird dafür doch nur ein sehr geringer Teil der Hilfe verwendet.
Weiter benötigen wir Geld zur Verbesserung der Gesundheitsinfrastruktur. Die Krankenhäuser, Gesundheitszentren und Dorfgesundheitsstationen bilden die Grundlage von Krankheitsbekämpfungsprogrammen. Hier werden Mitarbeiter ausgebildet, Blutwerte festgestellt, die Logistik bereitgestellt. Es genügt nicht, Medikamente für einzelne Krankheiten bereitzustellen.
Und schließlich benötigen wir Geld zur Bekämpfung der Krankheiten, an denen die meisten Menschen in Entwicklungsländern leiden und sterben. Und das Krankheitspanorama ändert sich. Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall und Diabetes sind in vielen Städten der Entwicklungsländer auf dem Vormarsch. Wir müssen Gesundheitsmitarbeiter auf diese neuen Anforderungen vorbereiten, sie schulen und motivieren. Das geht nur mit tragfähigen, umfassenden Ansätzen nicht mit Schnellschüssen, die bestimmte Gruppen unverhältnismäßig alimentieren und andere vernachlässigen.
So sehr die großen Summen von Bill Gates und anderen Mäzenen beeindrucken: Sie werden langfristig nicht die Lösung der Gesundheitsprobleme in Entwicklungsländern bringen und vor allem nicht uns aus der Entscheidung für eine rationale Ressourcenverwendung entlassen. Solange wir nicht im Paradies unbegrenzter Mittel leben, ist es unsere Pflicht, die entwicklungspolitischen Tabus anzusprechen und für mehr Rationalität in der (kirchlichen) Entwicklungshilfe einzutreten auch wenn es weh tut.
aus: der überblick 03/2006, Seite 98
AUTOR(EN):
Steffen Fleßa
Steffen Fleßa ist Professor für Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement in Greifswald. Von 1990 bis 1995 hat er in Tansania Krankenhausmanager in Betriebswirtschaft ausgebildet.