Die Diakonie-Katastrophenhilfe feiert ein nachdenkliches Jubiläum
Nothilfe in Konfliktgebieten war schon immer ein heikles Geschäft. Doch die Schwierigkeiten wachsen. Die Diakonie Katastrophenhilfe ist an ihrem 50-jährigen Jubiläum mit einer Fachtagung der Frage nachgegangen, wie man die ethische Qualität der Hilfe weiter gewährleisten kann. Zu den größten Sorgen gehören die Unabhängigkeit von militärischen Interventionstruppen und der Schutz der Hilfskräfte.
von Bernd Ludermann
Nothilfe ist gefährlich geworden - vor allem in einigen Krisengebieten des Nahen und Mittleren Ostens. Dort geraten Hilfskräfte nicht bloß ins Kreuzfeuer, sie sind das Ziel von Anschlägen. In Afghanistan wurden in der ersten Hälfte des Jahres über 20 Mitarbeitende von Hilfswerken getötet. Im Irak musste das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) nach Anschlägen auf sein Büro Ende 2003 seine Arbeit stark einschränken. Viele Hilfsorganisationen haben seitdem ihr internationales Personal aus dem Irak zurückgezogen und durch einheimisches ersetzt oder ihre Arbeit beendet.
Die Diakonie-Katastrophenhilfe (DKH) hat bisher keine getöteten Mitarbeitenden zu beklagen. Dazu mag beigetragen haben, dass sie nur wenig deutsches Personal entsendet. Sie unterstützt überwiegend die Hilfstätigkeit einheimischer Organisationen und von Partnern aus der jeweiligen Region. In Afghanistan hat die DKH über die türkische Anatolian Development Foundation, im Irak vermittelt vom Mittelöstlichen Kirchenrat lokale Helfer unterstützt. Doch auch so etwas wird gefährlich. Im Irak hat die DKH ihre Arbeit aus Sicherheitsgründen weitgehend eingestellt und ihren Berater im April abgezogen; die Projekte in Afghanistan sind zum größten Teil abgeschlossen. Und in Darfur im Westen des Sudan haben Reitermilizen, die von der Regierung unterstützt werden und deren Gewalttaten das Elend dort verursacht haben, im Oktober 2004 ein Fahrzeug von DKH und Caritas angegriffen. Die Helfer konnten entkommen.
Schon seit Ende der 1980er Jahre müssen sich Hilfskräfte auf einem immer komplizierteren Terrain bewegen (vgl. “der überblick” 1/1999). Denn mit dem Ende des Ost-West-Konflikts änderte sich die Natur von Bürgerkriegen: Statt disziplinierter Rebellentruppen bestimmen Milizen von Kriegsfürsten das Bild, die Zivilbevölkerung wird stärker ausgeplündert oder zum Ziel ethnischer Vertreibungen. Häufiger als früher muss Hilfe auf dem Kriegsschauplatz selbst geleistet werden, weil Kriegsparteien oder auch die Nachbarstaaten die Opfer an der Flucht über die Grenze hindern. Bürgerkriegstruppen versuchen, Hilfsgüter abzuzweigen oder Hilfe zu behindern.
Verändert hat sich auch der Umgang der Staatengemeinschaft mit solchen Konflikten. Viel öfter als im Kalten Krieg greift sie in Krisengebieten militärisch ein, meist unter dem Mantel einer UN-Mission. Oft hat das (wie in Somalia 1993) das erklärte Ziel, den Zugang der Hilfswerke zu den Opfern militärisch zu sichern. In anderen Fällen (Ruanda 1994 war ein besonders krasser) setzen Staaten, deren Zuschüsse den größten Teil der humanitären Hilfe finanzieren, diese als Ersatz für politische Schritte ein, zu denen sie nicht bereit oder nicht in der Lage sind. Zudem hat die Aufgabe von UN-Missionen beim Wiederaufbau kriegszerstörter Länder sich ausgeweitet auf den Aufbau staatlicher Institutionen. Das aber ist oft mit Konflikten unter den Bevölkerungsgruppen verbunden wie in Bosnien und dem Kosovo.
Wenn Hilfswerke unter militärischem Schutz arbeiten oder im Rahmen von UN-Missionen mit dem Ziel des Staatsaufbaus, dann kann das ihre Unabhängigkeit von den Konfliktparteien gefährden. Diese Gefahr ist noch größer, wenn eine Interventionsmacht Hilfslieferungen in ihre Strategie einbezieht. So haben die USA in Afghanistan und dem Irak Hilfsgüter abgeworfen, um die Akzeptanz ihrer Besatzungstruppen zu fördern.
Wie kann man unter solchen Bedingungen die ethische Qualität der humanitären Hilfe wahren? Diese Frage stand im Zentrum einer Fachtagung, welche die DKH anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens im September 2004 in Stuttgart veranstaltet hat. Hilfswerke müssen, betonte die Leiterin der DKH, Hannelore Hensle, an dem Prinzip festhalten, dass in einer Notlage allen Bedürftigen Hilfe gewährt wird - unabhängig von ihrer politischen Orientierung, ihrer Religion oder Nationalität. Hensle erinnerte daran, dass dies noch nie ein bequemes Prinzip war. So fand die Unterstützung der DKH für vor dem Kommunismus Geflohene während des Kalten Krieges großen Beifall. Die Hilfe für Opfer auf kommunistischer Seite, etwa während des Vietnam-Krieges, rief dagegen Proteste hervor.
Die Frage der Neutralität und, verbunden damit, das Verhältnis der Hilfswerke zum Militär zeigte sich auf der Tagung als ein Kernproblem. Dass humanitäre Hilfskräfte in Konflikten neutral sein sollen, ist angesichts schwerer Kriegsverbrechen nicht leicht zu akzeptieren. Einwände dagegen erhebt in Stuttgart nicht zufällig ein Vertreter aus Burundi: Bischof Bernard Ntahoturi von der Episkopalkirche des zentralafrikanischen Landes, der auch Präsident des burundischen Christenrates ist. Er betont, dass Hilfswerke für Werte der Menschlichkeit stehen und Christen zu Solidarität mit den Leidenden aufgerufen sind. Deshalb müssten sie Partei ergreifen, Unrecht anprangern und für die Menschenrechte eintreten.
Doch damit können sie laut Paul Grossrieder, einem früheren Generaldirektor des IKRK, ihren Zugang zu den Opfern gefährden. Der Menschenrechtsschutz und die humanitäre Hilfe ergänzen sich laut Grossrieder, können aber in der Praxis nicht von denselben Organisationen geleistet werden. Er betont, Neutralität bedeute keine persönliche Haltung, sondern sei eine Arbeitsmethode: Die eigene Bewertung eines Konflikts wird hintangestellt, um die Hilfe nicht zu gefährden. Thomas Gebauer, der Geschäftsführer von medico international, schränkt aber ein: Hilfswerke können zwar nicht die Machthaber anprangern, in deren Gebiet sie tätig sind. Aber sie können den Umgang der eigenen Regierung mit Krisenherden kritisieren und sollten das öfter tun. Auch Hensle sowie Duncan McLaren, der Generalsekretär des katholischen Hilfswerks Caritas Internationalis, erklären diese Art Advocacy für eine zunehmend wichtige Aufgabe der kirchlichen Werke - bei Wahrung der Unparteilichkeit von Hilfe.
Die Arbeitsmethode Neutralität hat lange funktioniert: Humanitäre Hilfe wurde von praktisch allen Kriegsparteien zugelassen. Der US-amerikanische Journalist David Rieff bezweifelt jedoch auf der Fachtagung, dass dieses Prinzip bewahrt werden kann. Es steht längst unter wachsendem politischem Druck, erklärt er und verweist darauf, dass schon im Kosovo nach der Intervention der Nato 1998 nur den Flüchtlingen auf einer Seite, der albanischen, humanitäre Hilfe zugute kam.
Dass Neutralität mancherorts die Helfenden nicht mehr schützt, liegt laut der Direktorin der Ökumenischen Diakonie, Cornelia Füllkrug-Weitzel, auch an der Politik der USA. Sie stellten das humanitäre Völkerrecht (das unter anderem Hilfsorganisationen, Kriegsgefangene und Zivilisten schützt) offen in Frage. Das ermutige andere, es ebenfalls zu missachten. Zudem nutzten die USA inzwischen die humanitäre Hilfe als Instrument für politisch-militärische Ziele. Deshalb, so Füllkrug-Weitzel, werden im Irak nichtstaatliche Organisationen (NGOs) in Mithaftung für die US-Politik genommen. David Rieff bestätigt das: “NGOs sind heute aus der Sicht vieler Iraker mit den USA verbunden.”
Füllkrug-Weitzel ist entschieden dagegen, “humanitäre” Argumente wie den Schutz der Hilfskräfte als Rechtfertigung für Militärinterventionen zu benutzen. Nothilfe militärisch abzusichern, habe in aller Regel nicht funktioniert. “Man kann Sicherheit nur bekommen, wenn man von der Bevölkerung akzeptiert wird”, betont sie. Sie äußert sich auch skeptisch zu Forderungen nach einer Intervention in Darfur. Dort haben man lange Jahre die Not ignoriert; nun debattierten plötzlich die USA und Europa, die an dem Konflikt beteiligt seien, über eine Intervention. Hier widerspricht Rieff: Die Gründe der Eskalation in Darfur lägen innerhalb des Sudan, und es sei verfehlt, in einer akuten Notlage nicht einzugreifen, weil man erst die Ursachen analysieren will.
Doch Hilfswerke können nicht über militärische Interventionen entscheiden und ihre Hilfe auch im Fall einer Intervention nicht einfach verweigern. Sie können deshalb der Frage nicht ausweichen, welche Arbeitsteilung mit dem Militär in der Praxis während und nach einer Militärintervention oder UN-Mission vertretbar ist. Dazu hat der “Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen” (VENRO), in dem auch “Brot für die Welt” und die DKH mitarbeiten, Mitte 2003 Position bezogen. VENRO schließt die Zusammenarbeit mit Streitkräften nicht grundsätzlich aus - zum Beispiel können diese logistische Unterstützung leisten. Die entscheidende Bedingung ist aber, dass Unabhängigkeit und Neutralität der Hilfswerke gewahrt werden. Die Rollen von Helfern und Militär müssen daher klar getrennt bleiben. Wo Hilfe mit militärischen Zielen verbunden wird, ist für die deutschen Hilfswerke die rote Linie überschritten. Ein Beispiel ist die Praxis der USA in Afghanistan: Sie betrauen (anders als die Bundesregierung) gemischte zivil-militärische Teams mit ihrer Hilfe zum Wiederaufbau und verquicken die so mit dem Kampf gegen die Taliban und al-Qaida.
Im Übrigen sollten sich die Hilfswerke bewusst sein, dass humanitäre Hilfe zwar der Neutralität verpflichtet, dennoch aber nicht unpolitisch ist. Darauf weist Hannelore Hensle hin. Denn schon die Entscheidung, in welchem Konflikt man angesichts knapper Mittel hilft und wo nicht, ist politisch.
Diese Entscheidung wird heute stärker als früher von den Medien beeinflusst. Die Hilfswerke sind umgekehrt mehr als früher auf Erwähnung in den Medien angewiesen. Davon hängt nicht nur ihr Spendenaufkommen ab, sondern auch die Höhe der staatlichen Zuschüsse, die sie für Nothilfe bekommen. Mehrfach wurde auf der Fachtagung beklagt, dass die Medien sich auf spektakuläre Krisen stürzen und andere vergessen. David Rieff rät jedoch, sich damit abzufinden, dass die Öffentlichkeit nun einmal nur eine große Katastrophe zugleich verarbeiten kann. Deshalb sei es wichtig, dass ein großer Teil der Nothilfe aus öffentlichen Mitteln bezahlt wird: Sie sind weniger von kurzfristigen Medien-Konjunkturen beeinflusst als das Spendenaufkommen.
Die DKH erhält einen viel geringeren Teil ihrer Mittel - weniger als ein Fünftel - vom Staat als die meisten anderen großen deutschen Nothilfe-Organisationen. Einen Schwerpunkt ihrer Arbeit setzt sie gerade bei vergessenen Katastrophen, insbesondere in Afrika, erklärt Cornelia Füllkrug-Weitzel. Auch die Stärkung der lokalen Partnerorganisationen hat großes Gewicht. Zum einen ist das mit Blick auf Naturkatastrophen wichtig, denn hier hängt die Zahl der Opfer davon ab, ob am Ort vorbeugender Katastrophenschutz geleistet wird und einheimische Organisationen auf Hilfe vorbereitet sind. Zum anderen erleichtern lokale Partner es in Konfliktgebieten, von der Bevölkerung akzeptiert zu werden.
Diese Arbeitsweise kann allerdings in Konflikten manchmal auch Probleme mit sich bringen, erläutert Ulrike Felsenstein von der DKH. Nämlich dann, wenn einheimische Partner - die sich zu den Grundsätzen unparteiischer Hilfe bekennen müssen - in einem Konflikt nicht als neutral erscheinen. In Indonesien helfen zum Beispiel christliche Partner der DKH im Falle von Gewalt zwischen christlichen und muslimischen Gemeinschaften überwiegend den Opfern auf der Seite der Christen; zu den Muslimen erhalten sie, auch wenn sie es wollen, kaum Zugang. Um denen zu helfen, muss die DKH auch von ihren Partnern unabhängige Wege suchen.
Dass sich in den vergangenen Jahren zunehmend Gewalttäter auf die Religion berufen, ist eine zusätzliche Herausforderung gerade für christliche Hilfswerke. Zumal sie manchmal noch zu hören bekommen, ihre Hilfe solle vorwiegend Christen zugute kommen. Dass Nothilfe von Missionsanliegen frei gehalten werden muss, ist in den Hilfswerken Konsens, aber nicht unbedingt unter allen Spendengebern oder Amtsträgern der Kirchen. Duncan McLaren von Caritas Internationalis berichtete zum Beispiel in Stuttgart, dass in der katholischen Kirche manchmal Druck in diese Richtung ausgeübt wird. Den, so sagt er, muss man abwehren.
Kathryn Wolford, die Präsidentin des lutherischen Hilfswerks Lutheran World Relief in den USA, geht einen Schritt weiter: Es komme jetzt, in der Zeit des “Krieges gegen den Terror”, auch darauf an, die Dämonisierung des “Feindes” und des Islam abzuwehren. Unparteiische und solidarische Hilfe könnte das Gespräch der Religionen fördern. Hier haben christliche Werke einen Vorteil, sagt Grossrieder: Sie können leichter mit islamischen Organisationen zusammenarbeiten als religiös ungebundene oder gar atheistische NGOs, die im Islam nur schwer akzeptiert werden.
Der Missbrauch von Religion für einen “Kulturkampf” oder gar Krieg macht die Verteidigung der humanitären Werte komplizierter, aber auch dringlicher. In allen Religionen regt sich jedoch auch Widerspruch gegen diese Art Missbrauch. Darin liegt eine Chance, Mitstreiter für die Sache der Menschlichkeit zu finden.
Literatur:
Diakonisches Werk der EKD (Hrsg.), Humanitäre Hilfe weltweit. 50 Jahre Diakonie Katastrophenhilfe; Stuttgart 2004.
VENRO-Positionspapier: Streitkräfte als humanitäre Helfer? Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit von Hilfsorganisationen und Streitkräften in der humanitären Hilfe; Bonn, Mai 2003.
Stephan Klingebiel und Katja Roehder, Entwicklungspolitisch-militärische Schnittstellen. Neue Herausforderungen in Krisen und Post-Konflikt-Situationen; Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, Berichte und Gutachten 3/2004, Bonn 2004.
50 Jahre Diakonie-KatastrophenhilfeVom Empfänger zum GeberDie Nothilfe der deutschen evangelischen Kirchen geht auf Flüchtlings-, Vertriebenen- und Wiederaufbauhilfe im Inland nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Sie wurde aus Schweden, Holland, den USA und sogar Lateinamerika unterstützt, obwohl Deutschland den Krieg zu verantworten hatte. Bald danach erfuhren deutsche Protestanten über ökumenische Kontakte vom Elend etwa in Korea oder Jordanien und wollten ihrerseits helfen. 1951 gaben sie die erste Spende an den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und leisteten 1953 nach einer Flut in Holland erstmals umfangreiche Hilfe im Ausland. Diese wurde 1954 in den Vorgängern der Diakonie-Katastrophenhilfe (DKH) institutionalisiert. Den Durchbruch brachte der Hilfsaufruf für ungarische Flüchtlinge in Österreich nach der Niederwerfung des Ungarn-Aufstands 1956: Spenden in Millionenhöhe kamen zusammen. Weitere wichtige Stationen waren der Biafra-Krieg 1968 und der Krieg in Vietnam in der zweiten Hälfte der 1960er. Für Biafra initiierte die DKH eine Luftbrücke, in der kirchliche Werke aus aller Welt zusammenarbeiteten. In Vietnam half die DKH auf beiden Seiten, auch der kommunistischen, und musste deshalb Kritik abwehren. Heute ist die DKH eins der großen deutschen Nothilfe-Werke. Sie ist Mitglied von Action by Churches Together (ACT), einer Allianz der im ÖRK und im Lutherischen Weltbund vertretenen Kirchen und kirchlichen Hilfswerke. Die DKH hilft über einheimische Partnerorganisationen und entsendet nur wenig deutsches Personal, meist Berater und Koordinatoren für längere Zeit. Hierbei arbeitet sie mit dem EED zusammen, der die Auswahl, Vermittlung und Begleitung der Fachkräfte übernimmt; zur Zeit sind acht im Einsatz. bl |
aus: der überblick 04/2004, Seite 118
AUTOR(EN):
Bernd Ludermann :
Bernd Ludermann war viele Jahre Redakteur beim "überblick". Er arbeitet jetzt als freier Journalist in Hamburg und betreut unter anderem als Redakteur die Forum-Seiten im "überblick".