Die eritreische Diaspora geht online
Eritreas Unabhängigkeit im Jahr 1993 fiel mit der Entwicklung des Internets und der raschen Expansion der Globalisierung zusammen. Das hat die Teilnahme der Diaspora an der Bildung der nationalen Institutionen und der politischen Kultur Eritreas begünstigt. Die schon zuvor vorhandenen sozialen Netzwerke haben sich so miteinander verbinden können und sind aufgewertet worden. Der Cyberspace hat so zu einer Bildung neuer Gemeinschaften geführt.
von Victoria Bernal
Die eritreische Diaspora ist ein Beispiel für das, was man heute transnationale Migration nennt. Aus ihren politischen Aktivitäten im Web wird ersichtlich, dass Staatsbürgerschaft und Souveränität neu definiert werden und die Nation nicht auf das Territorium beschränkt ist. Die eritreische Diaspora könnte man als "Off-Shore-Bürgerschaft" bezeichnen. Ihre freiwillige Beteiligung an der Politik ihres Heimatlandes zeigt, dass sie durch eine Art "emotionale Staatsbürgerschaft" mit Eritrea verbunden ist, auch wenn die in Nordamerika und Europa lebenden Eritreer oft die Staatsbürgerschaft des Gastlandes angenommen haben und dort ihren Lebensunterhalt verdienen. Auch wenn sie nicht die Absicht haben, in Eritrea zu leben, fühlen sie sich der alten Heimat verbunden.
Als das Land unabhängig wurde, lebte etwa jeder dritte Eritreer außerhalb des Landes. Die meisten sind auch dort geblieben. Der eritreische Staat versuchte von Anfang an seinerseits, sich die Diaspora als einen Teil Eritreas im Ausland zu erhalten. Er stellt Personalausweise aus, erhebt Steuern zwei Prozent auf alle Einkommen der eritreischen Diaspora und wirbt auf verschiedene Art und Weise um ihre finanzielle und politische Unterstützung. Er hat den Auslandseritreern Wahlrecht eingeräumt entsprechend der Vorstellung, dass sie und ihre Nachkommen Teil der eritreischen Nation sind. Auch wenn sie in Übersee blieben, zeigten sich viele von ihnen als glühende Nationalisten und versuchten von ihren diversen Wohnsitzen aus aktiv in das politische Geschehen Eritreas einzugreifen. überall auf der Welt, besonders aber in Nordamerika und Europa, haben sich die Eritreer am nationalen Referendum zur Unabhängigkeit beteiligt, Öffentlichkeitsarbeit gemacht und im Namen ihrer Nation demonstriert. Die unklaren Grenzen im Cyberspace entsprechen damit der transnationalen Reichweite des eritreischen Nationalismus. Dabei verläuft dieser nicht nur von der Diaspora nach Eritrea, sondern umgekehrt auch von der eritreischen Elite hinaus zur Diaspora. Dass der eritreische Transnationalismus von beiden Seiten, den Nationalisten und dem Staat, gefördert und gelenkt wird, ist ungewöhnlich.
In den USA lebende Eritreer hatten bereits 1992 ein Internet-Diskussionsforum eingerichtet, das sie Dehai nannten (ein Tigrinya-Wort, das sowohl "Stimme" als auch "Neuigkeiten" bedeutet). "Eritrea online", der Untertitel von Dehai, zeigt, dass die Website "www.dehai.org" als eine Art virtuelles Eritrea gedacht ist und als nationaler Raum im Cyberspace dient. In der Charta von Dehai (1999) heißt es: "Ziel dieser Charta ist es, die Meinungsfreiheit zu fördern und ein offenes Umfeld anzubieten, in dem die Mitglieder ihre unterschiedlichen Meinungen äußern können, die begrüßt und respektiert werden. Alle Unterzeichner verpflichten sich, den Geist der Charta zu befolgen und zu wahren."
Die Begründer von Dehai wollten mit diesem Forum für einen schnellen Informationsaustausch dazu beitragen, die Probleme des jungen Landes zu lösen, die externen Bedrohungen (aus dem Sudan, aus Jemen und danach Äthiopien) und die internen Konflikte (zwischen Christen und Moslems). Um das Versprechen des eritreischen Nationalismus während des Befreiungskampfes einzulösen, hätten Entwicklung und Demokratie mit der gleichen Begeisterung verfolgt werden müssen wie die Unabhängigkeit. Vor dem Hintergrund des enger werdenden Spielraumes sollte der Cyberspace der Raum sein, an dem die Eritreer der Diaspora ihre Sehnsüchte und Visionen über ein best mögliches Eritrea ausbreiten. Ganz normale Menschen konnten sich an diesen Debatten beteiligen: Taxifahrer und Parkwächter wurden so zu Poeten und politischen Kommentatoren.
Dass man kritische Kommentare abgeben kann, hat auch mit der Diaspora-Erfahrung zu tun. Weit ab von Eritrea kommen die Mitglieder der Diaspora mit alternativen politischen Vorstellungen in Berührung. Sie bewegen sich in einem Presse- und Bildungsumfeld, in dem die Ideale der Meinungsfreiheit hochgehalten werden. Die Bedeutung solcher Websites wie Dehai, in denen weitgehend Meinungsfreiheit und Toleranz gegenüber konträren Ansichten herrscht, wird sogar noch größer, wenn das weitere politische Umfeld wie in Eritrea keine solchen Möglichkeiten bietet. Es ist sogar möglich einen Dialog über soziale Brüche hinweg zu führen, etwa zwischen muslimischen und christlichen Eritreern.
Dehai hat eine neue Gemeinschaft von eritreischen Schriftstellern, Experten und Dissidenten geschaffen. Die Webseite meldet mit Eritrea verbundene Aktivitäten und erinnert an nationale Feiertage, historische Jahrestage und Meilensteine. Pressekritik ist eine weitere Sparte auf der Seite. Solche Beiträge zielen meist darauf, die Berichte über Eritrea in den westlichen Massenmedien ins rechte Licht zu rücken. Eine ständige Quelle der Irritation nach der Unabhängigkeit war der Gebrauch von veralteten Landkarten durch die Presse, die Eritrea nicht als getrennt von Äthiopien zeigten.
Ein Großteil der Kommunikation besteht aus leidenschaftlichen Debatten über die eritreische Geschichte, Kultur und Politik. über Dehai wurden die gesellschaftlichen Traumata von Krieg, Vertreibung und Diaspora in soziale Dramen umgewandelt, denn die Dehai-Gemeinde diskutiert die Geschichte und Zukunft Eritreas vor ihrer gemeinsamen Erfahrung von Verlust. Die eritreische Diaspora verbindet eine gemeinsame Geschichte entweder über direkte persönliche Erfahrungen oder über das ausgiebige Wissen vom Leben unter äthiopischer Herrschaft, vom Guerillakrieg für die Unabhängigkeit, über Flüchtlingslager im Sudan, die Trennung oder den frühzeitigen Tod von Familienmitgliedern und so weiter. Diese Erfahrungen von politischem Aufruhr und Gewalt brauchen auf der Website weder artikuliert noch erklärt zu werden, sie bilden den von allen verstandenen historischen Kontext für die gegenwärtigen Sorgen der Eritreer.
Welche Rolle die Internetdiskussionen des Auslands in Eritrea spielen, ist schwer abzuschätzen. Um zu verstehen, wie die Öffentlichkeit im Land selbst funktioniert, muss man die jüngste Geschichte heranziehen. Der Kampf für Unabhängigkeit war eine Massenbewegung, doch es war auch ein Krieg, der von einer Guerillaarmee geführt wurde, deren Führer die Führer der Nation wurden. Die EPLF (Eritrean People's Liberation Front) war im Inneren wenig zimperlich im Verlangen nach Loyalität und Opferbereitschaft für die Sache. Politische Konformität und Selbstzensur waren innerhalb der nationalistischen Bewegung stark ausgeprägt, und diese politische Kultur ist mit dem Erreichen der Unabhängigkeit und dem Aufstieg von Isayas Afewerki vom Guerillaführer zum Staatspräsidenten nicht verschwunden.
Dehai-Leser und Zulieferer, mit denen ich gesprochen habe, glauben, dass die Website politische Entscheidungen in Eritrea beeinflusst hat. Einer der eifrigsten und produktivsten Autoren meint etwa, dass die Regierung zwar nicht offiziell auf die Stellungnahmen von Dehai reagiert, doch manchmal wird nach der veröffentlichten Kritik die Politik geändert. Regierungsmitglieder sollen sich unter Decknamen an den Internet-Debatten beteiligen. Da die Leser nicht immer wissen, ob die Zusender ihren richtigen Namen oder ein Pseudonym benutzen, gehen manche Leser davon aus, dass Regierungsmitglieder sich als normale Zulieferer darstellen, um die Online-Debatten in eine regierungsfreundliche Richtung zu lenken. Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, dass die Online-Diskussionen von der eritreischen Regierung überwacht werden, denn sie tut alles dafür, sich die Unterstützung der Diaspora zu erhalten.
Im Jahre 2000 eröffnete sich auch für normale Bürger in Eritrea die Möglichkeit, in Internet-Cafés, Büros und an anderen Orten online zu gehen. Seit es in Eritrea Zugang zu Dehai und anderen Websites gab, sahen sich Regierung wie lokale Medien neuem Druck ausgesetzt, wollten sie ihre Glaubwürdigkeit bewahren, da nun auch alternative Informationsquellen und Analysen zugänglich wurden. Im Jahre 2001 konnte ich beobachten, wie der Druck durch den eritreischen Cyberspace dazu führte, dass die Regierung die Kontrolle über die Medien des Landes verlor. Unabhängige Zeitungen wurden zugelassen, von denen einige offen kritisch waren. Doch diese Freiheit war nur von kurzer Dauer. Im Herbst 2001 ging die Regierung gegen die unabhängige Presse vor und verhaftete etliche Journalisten. Die politischen Risse innerhalb der herrschenden Kreise des Landes wurden größer und unter den Eritreern in der Diaspora wuchs der Dissens.
Zur gleichen Zeit entstanden in der Diaspora alternative Websites, die um die gleichen Leser und Autoren wie Dehai stritten. Nach dem Ende des Grenzkrieges mit Äthiopien gab es Risse in der zuvor gezeigten Solidarität in der Stunde der Bedrohung, über eine Reihe neuer Websites wurde offen Kritik formuliert. Seither hat die Anzahl und Diversität der Websites weiter zugenommen, es werden unterschiedliche ethnische und religiöse Ansichten zur eritreischen Politik publiziert.
Die Internet-Medien und die von den transnationalen Migranten besetzten Räume sind in gewisser Hinsicht außer Reichweite der Regierung. Deshalb eröffnen sie die Möglichkeit politischen Experimentierens. über den Cyberspace leistet die eritreische Diaspora einen wichtigen Beitrag, indem sie den Eritreern in ihrer Heimat Informationen und alternative Analysen liefert und der Regierung ein Fenster für Dissens anbietet.
aus: der überblick 03/2006, Seite 44
AUTOR(EN):
Victoria Bernal
Victoria Bernal ist Associate Professor im Fachbereich Ethnologie der Universität von Kalifornien in Irvine.