Die Abschöpfung durch den Staat hat vielfach Armut zur Folge
In vielen Ländern nutzen die herrschenden Eliten den Staatsapparat auf vielfältige Weise, um Geld in ihre Kassen zu bekommen. Bürger werden so nicht nur drangsaliert, sondern auch in ihren Entwicklungsanstrengungen behindert. Um umgekehrt Entwicklung zu fördern, müssen die Bürgerinnen und Bürger mehr Rechte bekommen und Regelungen installiert werden, die Wettbewerb und Transparenz schaffen.
von Beat Kappeler
Ein Land zu beherrschen, ist eine Technik wie jede andere auch: Führt man für alle Arbeitsplätze eine Bewilligungspflicht ein, müssen sich die Bewerber ducken. Verbietet man den Umtausch des Landesgeldes in andere Währungen, kann niemand auswandern. Unterstellt man Importe einer Lizenz, kann man die Großhändler gegeneinander ausspielen. "Man", das sind Regierungen, Staatsparteien, Eliten in Entwicklungsländern. Das Resultat dieser angestrengten Bemühungen ist Armut.
Solche Techniken der Herrschaft stoßen beim gelegentlichen Touristen aus Industrieländern auf Achselzucken, sie verursachen einen kleinen Ärger über eine verlorene Stunde vor einem Schalter. Doch für die Einwohner schaffen solche gesellschaftlichen Techniken Schicksale, Verhängnisse, sie geben oder rauben Status.
Diese Techniken der Macht sind an sich ganz normale Regeln, die auch in entwickelten Ländern angewandt werden. Doch dort bestehen Gegenkräfte, wirken Öffentlichkeit und Medien, Opposition, Gerichte und Beschwerdewege. In neuen Ländern ohne diese modernen, harten Gegenmächte stoßen die ebenso harten Techniken der Macht auf weiche, den traditionellen Anlaufstellen entwachsene und verletzliche Gesellschaften. Ihre Eliten haben diese Techniken an den Universitäten des Westens gelernt und sind entschlossen, sie anzuwenden.
Wie sehen diese Techniken der Macht aus, wie wirken sie? Das Geld und sein Kreislauf sind vorrangige Gesellschaftstechniken. Die Notenbank hat das Monopol, Geld in Umlauf zu bringen, und sie kann dazu Kredite dieser oder jener Bank belehnen, jene einer andern Bank aber nicht, und schanzt so einer bestimmten Klientel Spielräume wirtschaftlicher Betätigung zu. Oder sie kann Geld gegen Schuldscheine des Staates ausgeben und damit das Lotterleben und die fehlende Ausgabendisziplin der Politiker aus der Regierungsmehrheit finanzieren. Die Notenbank wird auch Reserven haben wollen, also verfügt die Regierung, dass alle Exporteure ihre Erlöse sofort in nationales Geld aus der Notenbankpresse umtauschen müssen. Weiter wird man auch den Bürgerinnen und Bürgern ganz allgemein verbieten, ausländisches Geld zu besitzen. Ghana hat, wie viele Länder des Südens, diesen Zwangskurs vor einiger Zeit neu eingeführt. Ausreisewillige müssen deshalb Gesuche um ausländisches Geld stellen, was den Behörden ihnen gegenüber großes Ermessen einräumt und das ganze Land zu einem virtuellen Gefängnis macht.
Für den Umtausch wird meist ein Wechselkurs festgelegt, der das nationale Geld relativ teuer hält. So bekommen jene, welche dann doch nationales Geld ins Ausland verschieben dürfen, mehr Dollars, aber die Importe sind teurer, was die nationalen Hersteller schützt, die es der Regierung zu danken wissen. Dafür werden die Exporteure bestraft, sie bekommen weniger Devisen bei der Ausfuhr, und das Land als Ganzes bleibt knapp an Dollars. Ganz Westafrika lebte vor dem Währungsschnitt 1994 in solchen überbewerteten Währungsverhältnissen, Simbabwe hat sie heute auch. Wenn dort ein weißer Farmer seine Farm noch verkaufen könnte, bevor sie besetzt wird, müsste er um das Wechseln des Geldes bei der Auswanderung zittern. Manche Länder des Südens praktizieren auch zwei-oder dreifache Wechselkurse, einen für Kapitaltransaktionen, einen für Importe, einen für Touristen. Schwarze Märkte sind die Folge aller dieser Regeln, weil die Leute auch im Süden nicht dumm sind und die Währungen unter dem Tisch wechseln.
Damit beginnt aber ein Netz der Korruption sich auszubreiten, das zum System wird, das alle erfasst und von der Regierungspartei nach Belieben gegenüber den einen geahndet oder bei andern geduldet werden kann. Kurz, das Geldsystem erlaubt tausend Zuspitzungen der Macht, wenn es wie in vielen Ländern des Südens strikt reguliert wird. Die reichen Länder des Nordens dagegen haben dies alles längst abgestreift, praktizieren frei schwankende Wechselkurse, machten die Notenbank völlig unabhängig von Regierung und Politik. Und sie disziplinieren die Politiker durch den stets möglichen Abzug von Geld durch große, private Akteure.
Die Palette der monetären Techniken kann durch Inflationen angereichert werden. Wenn die explodierenden Staatsausgaben durch neu gedrucktes Geld finanziert werden, legt der Staat seine Hand auf die Ressourcen des Landes, ohne dass darüber abgestimmt werden muss. Milosevic hat in Serbien seine Kriege durch eine Inflation finanziert, die jener Deutschlands von 1923 nicht nachstand. Seine Militärmaschinerie kaufte Güter und Dienste zu steigenden Preisen ein, bevor die Lieferanten merkten, dass sie nachher mit dem Geld gar nichts mehr kaufen konnten. Die Inflation machte Importe unerschwinglich, sie senkte die Löhne und Renten auf null - das Volk musste sparen, ohne dass ein Dekret dies befahl. Fast jedes Land des Südens hat jährliche Inflationsraten zwischen zehn und hundert Prozent mit ähnlichen Wirkungen. Die reichen Nationen dagegen unterzogen sich seit den achtziger Jahren einer Stabilitätskur, die heute zu tiefen Zinsen, zu echter Vermögensbildung des Mittelstandes, zum Zutrauen der Anleger und zu ruhigen Lohnritualen führt.
Hat die regierende Elite das Geldwesen eines armen Landes aber mit strengen Regeln im Griff, kann sie an die Regelung des Arbeitsmarktes gehen. Die Varianten sind zahlreich, so kann jeder Arbeitgeber verpflichtet werden, sich die anzubietenden Stellen bewilligen zu lassen, und auch die Arbeitswilligen können einer Bewilligungspflicht unterstellt werden. Begründungen für solch verschraubte Arbeitsverhältnisse sind jederzeit gegeben, es gilt etwa, soziale Standards zu schützen, Schwarzarbeit zu verhindern, Statistiken zu erstellen. Die Macht des politischen und administrativen Apparats wächst so ins Alltagsleben der Bürger hinein.
Weitere Verdichtungen der Macht ergeben sich, wenn die Arbeitsstelle von der Zugehörigkeit zum Branchenverband und zur Gewerkschaft abhängig gemacht wird, oder wenn fein abgestufte Diplome zur Anwendung kommen. Allerdings sind auch Industrieländer nicht frei vom Wahn der Diplome. In Frankreich sind hohe Staatsstellen den Absolventen der drei Eliteschulen vorbehalten, in Österreichs Kulturverwaltung haben Akademiker mehr Zuständigkeiten als andere Angestellte, und in Deutschland hängt der Gewerbebetrieb oft am Meisterdiplom. In der Schweiz können nur Inländer freie Ärzte werden und nur langjährig ansässige Ausländer ein Geschäft eröffnen. Um wie viel einschneidender aber wirken solche Regeln im Süden, da in aufstrebenden Ländern ein Diplom oft eine rare Sache ist. Auch ergeben sich deshalb viel steilere Lohnabstufungen als in reichen Ländern.
Die wirtschaftliche Betätigung der Unternehmer und Gewerbetreibenden unterliegt im Süden meist einschneidenden Kontrollen und Lizenzen. Für Importe und Exporte bestehen Hürden an Bewilligungen, neben den Währungsschikanen, oder es werden gezielt Lizenzen dafür vergeben. In Indonesien war zu Suhartos Zeiten der Autoimport so geregelt, dass der Fabrikationsbetrieb seines Sohnes nicht beeinträchtigt wurde. Andere Länder erteilen eine Importlizenz für teure Maschinen oder Lastwagen nur für kurze Zeit, während welcher es den nicht vorher Eingeweihten unmöglich ist, solche Güter zu beschaffen. Meist werden die Bewilligungen nicht im Wettbewerb vergeben, anders als in den erfolgreichen Tiger-Staaten Südostasiens. Dort vergaben die Behörden Lizenzen oder Förderungen aufgrund angekündigter Ausschreibungen, wodurch der leistungsfähigste Bewerber zum Hersteller, zur Vertriebsfirma oder zum Exporteur wurde. Kein Wunder, dass sich damit eine rationelle Volkswirtschaft mit hohen Wachstumsraten einspielte.
Der Export landwirtschaftlicher Produkte wird oft besonders paternalistisch aufgezogen. In der Elfenbeinküste mussten die Kakao-Bauern ihre Früchte bis vor kurzem einer staatlichen Caisse de stabilisation verkaufen. Diese bezahlte knappe Preise und realisierte die Exportgewinne und Deviseneinkünfte selbst - man verhängte über die Bauern also eine indirekte Steuer, und zwar gerade über die tauschwirtschaftlich wichtigsten Bauern. (Über ähnliche Monopol-Aufkäufe und -Verarbeitungen der Baumwolle in Indien berichtete Madhu Kishwar in "der überblick" Heft 2/98.)
Die solcherart entzogenen Erlöse fallen kumuliert in der Staatskasse an, werden auf anderen Gebieten ausgegeben und fehlen für die Erneuerung und Erweiterung der exportwichtigen Sektoren. Es erfolgt keine Kapital- und Vermögensbildung in den Händen der oft kleinen Produzenten. Die Länder mit diesen Praktiken katapultieren sich selbst aus den Exportmärkten der Welt hinaus. Außerdem verfestigen sie ihre Monokulturen, ohne einträglichere Verarbeitungsstufen anzufügen.
Die weitere Einnahmenbeschaffung der Staaten des Südens ergänzt diese Dysfunktionen. Steuern in Geldform zu erheben, ist in wenig entwickelten Geldwirtschaften an sich schon ein Problem. Bares Geld aber muss her, um die in den Hauptstädten nach westlichem Muster aufgebauten Administrationen, die Heere und die großen Infrastrukturwerke zu bezahlen. Die westlich gebildeten Eliten haben die alten, kooperativen Formen der "öffentlichen Werke" wie der Bewässerung oder des Wegbaus entwertet, sie ziehen die lokalen Bürger dafür seltener als in traditionellen Gesellschaften heran. Ausgerechnet die westlichen Hilfswerke und die Weltbank mussten vor Jahren die Idee food for work neu einführen. Da die Geldbeschaffung mit den abstrakten direkten oder indirekten Steuern selten ausreichend durchgesetzt werden kann, muss sich der Staat aus seinen konkreten Verwaltungsakten finanzieren. Er erhebt Gebühren für alles Mögliche, er schafft dafür den Anlass in Form von Bescheinigungen, Bewilligungen, Konzessionen, Lizenzen. Die Beschaffung von Steuergeldern vermehrt die Regelungen und bremst die private Tätigkeit zweifach aus - das wenige Bargeld fließt ab und die Verwaltungsakte werden dazu gezielt vermehrt. Vor einigen Jahren rechneten Gewerbekreise in Peru vor, dass zur Gründung eines Unternehmens fast ein Jahr Schlangestehen vor Schaltern nötig war und die ganze Prozedur viel Geld kostete.
Hier wiederum haben die reichen Nationen mit der Mehrwertsteuer eine reibungslos arbeitende Geldmaschine angelassen und andererseits die Gewerberegeln stark ausgedünnt.
Weitere großflächige Organisationstechniken werden in Ländern des Südens ausgeübt, wenn ganze Regionen aufgeforstet oder entwaldet werden, wenn Dämme bevölkerte Talschaften aufstauen oder wenn zu Gunsten autoritärer Wohnbauprogramme ärmliche Wellblech-Siedlungen geschleift werden. In letzteren Fällen könnte stattdessen ein neues Grundbuch die Eigentumsrechte aller sichern und damit helfen, dass ein Quartier sich selbst organisiert und breit gestreutes Eigentum entsteht. Ein paar Blatt Papier mit Garantien wären oft besser als kahle Bautechnik.
Schließlich hat die materielle Hilfe der reichen Nationen oder Weltorganisationen die nationalen Eliten und ihre Verwaltungstechniken oft gestützt. Man scheute sich, sie zu umgehen. Wenn sie selbst aber die Hilfe verteilen durften, legitimierten und stärkten sie ihre gesellschaftlichen Machttechniken dadurch noch weiter. Das Schlangestehen wurde zur Lebens- und Wirtschaftsform für ihre Mitbürger. Eine von französischen Hilfswerken veranlasste Studie zur "Ökonomie der Bürgerkriege" (F. Jean, J-C. Rufin, Hamburger Edition, 1999, vgl. auch "der überblick" 2/95) zeigte, wie in Extremsituationen die Techniken der Geldausgabe, der Import- und Durchfahrtsregelung, der militärischen Aushebung vollends zu räuberischen Strukturen werden, weil sie die einzigen verbleibenden Strukturen überhaupt sind.
Dies ist glücklicherweise auch in den meisten Ländern des Südens eine Ausnahme. Die Regel aber sind doch die beschriebenen Machttechniken, welche in solchen Ländern die Gesellschaft außerordentlich zentralisieren. Als Kontrastprogramme haben ausgerechnet die wirtschaftlich entwickelten und mit intakten gesellschaftlichen Strukturen versehenen alten Nationen den anderen Weg eingeschlagen. Sie haben gesellschaftliche Techniken der Selbststeuerung, der Dezentralisierung, der Ermächtigung von Bürgergruppen eingeführt, sie haben Stabilität hergebracht und den Staat vom allgegenwärtigen Mitspieler zum zurückhaltenden Schiedsrichter in den neuen Netzen der Kommunikation, des Stroms, der Bahn und Post gemacht.
Es wäre eine schäbige Ironie der Geschichte, wollten die Freunde des Südens ihm die alten, im Norden weggeworfenen staatlichen Interventions- und Regelformen andienen. In den Forderungen nach good governance, also nach guter Staats- und Verwaltungstechnik, liegt nicht einfach eine böse neoliberale Zersetzungsabsicht. Vielmehr müssen wir dem Süden diese neuen gesellschaftlichen Techniken vermitteln, die unsere Staaten und Volkswirtschaften so vital gemacht haben. Wir sollten dazu drei Stoßrichtungen auswählen. Zum einen sind dem Süden durchaus Regelungen anzuempfehlen, aber solche, die den Bürgerinnen und Bürgern direkte Rechte, Eigentums-und Handlungsrechte, eintragen. Ein Grundbuch gehört dazu, ein Aktien- und Genossenschaftsrecht für kooperatives Arbeiten, ein Bankensystem, das kleine Summen mobilisieren und Vermögen bilden hilft, ein Konkursrecht, das Mächtige diszipliniert. Zum anderen sind allfällige Förderungen, Lizenzen, Bewilligungen, Marktordnungen bestreitbar zu halten, also unter Wettbewerb zu vergeben, transparent zu halten und auch zu befristen. Das sind einfache Zusatztechniken der Macht, nämlich wirksame Macht-Zerstäuber. Die Regeln müssen auch vor Gerichten bestreitbar, die Regelsetzung muss voraussehbar sein.
Schließlich legt die europäische Wirtschaftsgeschichte nahe, den Aufbaubeitrag nicht in viel barem Geld, nicht in regelmäßigen Schuldenerlassen oder anderen Zuteilungen an Ministerialbürokratien in armen Ländern zu sehen, sondern in der richtigen gesellschaftlichen Technik. Denn Europa hat sich nach dem Kriege dank dieser, teils von den USA auferlegten Technik wieder aufgerappelt, wegen Wettbewerbsordnung statt korporativer Wirtschaft, wegen parlamentarischer Demokratie mit transparenter Wirtschaftsgesetzgebung und stabiler Geldordnung, kurz, wegen Machtteilung in Markt und Staat. Deshalb bildete sich volkswirtschaftliches Kapital auf Millionen von Sparheften und Aktienkonten, fanden sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer, gründeten Millionen einfacher Leute ihre Gewerbebetriebe. Die Menschen machen sich gerne selber reich, man muss sie nur lassen.
aus: der überblick 04/2000, Seite 77
AUTOR(EN):
Beat Kappeler :
Beat Kappeler ist Autor der "Weltwoche" in Zürich und war zuvor Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes.