Dass HIV in Afrika von Affen auf Menschen übergegangen sind, halten viele Afrikaner für eine rassistische Theorie.
Franceville, Gabun. Die Affenforscherin Caroline Tutin war im Begriff ein Flugzeug zu besteigen, mit der sie ihren afrikanischen Wohnort verlassen wollte, als ihr Blick auf ein Baby in Strampelanzug und Schirmmützchen fiel. Nach einem Moment der Verzögerung durchfuhr sie "ein Riesenschreck". Das Baby war ein Schimpanse.
von Mark Schoofs
Die französischen Eigentümer des Tieres, die in Gabun lebten, einem kleinen Land am Äquator, waren ohne Nachwuchs geblieben und behandelten das Tier wie ihr eigenes Kind; es besaß sogar ein eigenes Zimmer, das sie ihm wie für ein kleines Mädchen eingerichtet hatten. Vor ungefähr zehn Jahren wurde Amandine, wie der Menschenaffe hieß, krank. Die Eigentümer – die darauf bestanden, als Eltern angesprochen zu werden – brachten das Tier zum Centre International de Recherches Medicales im gabunischen Franceville (CIRMF), einer weltbekannten Einrichtung zur Erforschung von Primaten. Die dortigen Wissenschaftler konnten nicht herausfinden, woran der Schimpanse litt. Was sie aber entdeckten, war eine weitere Verbindung zum Menschen, abgesehen von Amandines Kleidung und den mehr als 98 Prozent der Gene des Erbguts (DNA), die Schimpansen mit uns gemein haben. Amandine war das erste Exemplar dieser Affenart, bei dem eine Infektion mit dem SI-Virus, dem Äquivalent des HIV bei Affen, festgestellt wurde.
Aufgrund seiner genetischen Ähnlichkeit mit dem Schimpansen-Virus lag die Schlussfolgerung nahe, das menschliche Virus stamme ursprünglich von Schimpansen – eine Theorie, die im Februar 1998 durch Beatrice Hahn, einer Forscherin an der Universität von Alabama, so gut wie bestätigt wurde. Hahn scheint die genaue Unterart der Schimpansen, die das Urvirus des HIV in sich tragen – Pan troglodytes troglodytes -, identifiziert zu haben.
Diese Entdeckung ist nicht einfach eine historische Anomalie. Es gibt deutliche Belege dafür, dass das Virus in mindestens sieben Fällen von Tieren auf Menschen übergewechselt ist. Unglücklicherweise hat die Art, in der über diese höchst bedeutsamen Forschungsergebnisse berichtet wird, deren Glaubwürdigkeit in Afrika untergraben, gerade dort, wo sich die meisten neuen Varianten des HI-Virus bilden.
Als Hahn ihre Ergebnisse vor 5000 Aids-Forschern in Chicago präsentierte, vertrat sie nachdrücklich die These, das Virus könnte durch das Jagen und Schlachten von Schimpansen von Menschenaffen auf Menschen übergesprungen sein. Affenfleisch ist für Afrikaner, die in Regenwaldgebieten leben, seit vielen Jahrhunderten eine Quelle eiweißhaltiger Nahrung. Das Jagen von bush meat, von Wild, hat jedoch kommerzielle Ausmaße erreicht, die die Menschenaffen auszurotten drohen. Um ihre Argumentation zu untermauern, zeigte Hahn Diabilder von geschlachteten Schimpansen. Die zuhörenden Wissenschaftler, die sich mit emotionalen Äußerungen normalerweise sehr zurückhalten, stöhnten voller Abscheu und Ekel auf, und es dauerte nicht lange, bis das Essen von Schimpansen im New York Times Magazine mit Kannibalismus verglichen wurde.
Für viele Afrikaner war dies ein weiterer Beleg dafür, dass man dem westlichen Denken, die Naturwissenschaften eingeschlossen, nicht trauen könne. Angesichts dessen, was über die Medien zu ihnen drang, taten viele Afrikaner die neuen Forschungsergebnisse als einen weiteren Versuch ab, ihre Kultur abzuwerten. "In Frankreich isst man Frösche und Austern, was für uns sehr befremdlich ist", sagt Léopold Zekeng, Direktor des nationalen HIV-Forschungsprogramms von Kamerun. Das Essen von Affen, Menschenaffen eingeschlossen, "ist Teil unserer Kultur", betont er. Solche Traditionen als barbarisch darzustellen, könnte sich für westliche Forscher nachteilig auswirken, warnt Zekeng: "Was ist, wenn Politiker die Grenzen zumachen und sagen, ›Wir wollen nicht, dass Sie hier forschen, weil Sie uns wahrscheinlich doch nur mit Ergebnissen ankommen, die zu noch mehr Diskriminierung führen<?"
Das Forschen nach dem Ursprung von Aids könnte jedoch dazu beitragen, die Menschen in Afrika und allen anderen Teilen der Welt vor der Bedrohung durch die Krankheit zu retten, denn das Virus ist immer noch in der Entwicklung begriffen: Es mutiert weiterhin und tritt von Menschenaffen sowie anderen Affen auf Menschen über.
Zekeng erinnert sich noch lebhaft an die 26-jährige Patientin, die er Miss A. nennt. Sie kam 1991 in sein Labor in Yaoundé, der Hauptstadt Kameruns, und wies "alle klassischen Aids-Symptome auf: Durchfall, Fieber, Gewichtsverlust, geschwollene Lymphknoten. Ich war mir zweihundertprozentig sicher, dass ihr HIV-Test positiv sein würde." Der Test war jedoch negativ. Zekeng brachte daraufhin ihre Blutprobe zu einem deutschen Speziallabor und fand heraus, dass die Frau mit einer neuen, bisher noch nicht dokumentierten Variante des HIV infiziert war, die später O-Gruppe genannt wurde. Genetisch unterscheidet sich diese Gruppe von anderen so stark, dass Wissenschaftler glauben, sie könne sich nicht aus den Hauptstämmen des HIV entwickelt haben, sondern müsse auf eine separate Übertragung von Schimpansen auf Menschen zurückgehen. Achtzehn Monate, nachdem Miss A. in Zekengs Büro aufgetaucht war, erlag sie dem Virus.
Erst 1998 entdeckte ein anderes Forscherteam eine HIV-Variante, die N- Gruppe, die mit dem Schimpansen-Virus enger verwandt ist als irgendeine andere Variante, die beim Menschen gefunden worden ist. Wie im Fall der O-Gruppe sind die meisten Wissenschaftler der Meinung, dass die N-Gruppe durch ein separates Überspringen der Artengrenze in den Menschen eingedrungen ist. Auch die N- Gruppe ließ sich nicht mit konventionellen Bluttests festellen. "Ich bekomme immer wieder Patienten zu sehen, die alle klinischen Aids-Symptome haben, aber trotzdem HIV-negativ sind, egal welchen Test wir benutzen", sagt Zekeng.
"Die Aids-Viren sind noch nicht am Ende ihrer Entwicklung angekommen", bestätigt auch Preston A. Marx, ebenfalls ein Experte für die Evolution des HIV, der am Aaron Diamond AIDS Research Center arbeitet. "Es gibt ein Potential für weitere Varianten. Es könnte passieren, dass wir es schaffen, einen Impfstoff gegen Aids zu entwickeln, dann aber Viren haben, gegen die dieser Impfstoff machtlos ist. Das ist nicht Science Fiction. Es entstehen weiterhin neue Viren, und zwar Viren, die Aids verursachen."
An einem milden Abend im Regenwald fließt am Rande einer roten Forststraße im Süden von Kamerun großzügig Palmwein, während eine Gruppe von Dorfbewohnern, um ein Feuer sitzend, sich unterhält. Von den Männern geht jeder auf Jagd. Sie erlegen, was immer der Wald hergibt, von kleinen Antilopen, sogenannten Duckern, bis zu großen Menschenaffen. "Unsere Eltern waren Jäger, und deren Eltern ebenso", sagt Gerard Ampoh Mentsilé.
Die Art und Weise, wie gejagt wird, hat sich allerdings verändert. Außer Speeren und Schlingen werden heutzutage auch Gewehre benutzt, einige davon sind aus Wagenachsen handgebastelt. Gewehrkugeln sind teuer, daher holen die Jäger sich Munition von Wilderern, die das Fleisch aus dem Urwald in den Städten verkaufen. Manchmal sind Kugeln die einzige Bezahlung, die die Jäger von Wilderern bekommen. Erhalten sie Bargeld für ihre Beute, kaufen sie davon Seife oder Gas für ihre Laternen. Elektrizität hat hier niemand.
Auch Utensilien für einfachste Hygiene wie Handschuhe gibt es hier nicht. Beim Schlachten und Häuten der erbeuteten Tiere bekommen die Jäger unweigerlich Blutspritzer auf die eigene Haut. Wissenschaftler spekulieren deshalb darüber, ob das Virus auf diese Weise über Schnitte oder Wunden in den Körper des Menschen eindringen kann. Die Jäger genießen ihren Palmwein, während sie diese Spekulationen anhören. Überzeugen lassen sie sich davon nicht: "Wir essen seit vielen Jahren Schimpansen und Affen, und es gab noch keinen, der Aids bekommen hat", sagt Lazare Ampomadjimi. "Das kann also nicht stimmen."
Überall haben die Leute ihre Theorien, wie Aids entstanden ist. "Der durchschnittliche Kameruner wird Ihnen erzählen, dass Aids zuerst unter den Schwulen in Los Angeles aufgetaucht ist", sagt Zekeng, "oder er behauptet, dass Aids ein Virus ist, das die Amerikaner als biologisches Kampfmittel entwickelt haben." Sara Sagne, Führer einer Kooperative für traditionelle Heilmethoden im Senegal, hat wahrscheinlich die originellste aller Theorien zu bieten. Er glaubt, dass, wenn kranke Hunde urinieren, sich eine Flamme entzündet, die die Erde verkohlt und einen üblen Geruch hinterlässt. Ein Mensch, der diesen Gestank riecht, kann Aids bekommen. Nicht weniger fantasiereich als diese Erklärung ist die These von Peter Duesberg, einem Professor an der Universität von Kalifornien, der behauptet, dass Aids nicht durch das HIV verursacht werde, sondern durch Drogenkonsum und sogar durch das Aids-Medikament AZT.
Die gleiche Methodologie, die der Wissenschaft geholfen hat, herauszufinden, dass der Grippevirus von Schweinen und Enten stammt, überzeugt ihre Vertreter jetzt davon, dass das HIV auf Schimpansen zurückgeht. Zekeng formuliert das so: "Wenn ich mir die phylogenetische Analyse anschaue" – ein Vergleich des genetischen Erbguts, der aufzeigt, wie eng verschiedene Organismen miteinander verwandt sind -, "dann gibt es keine Zweifel." Das Aids- Virus der Menschen und das der Schimpansen, betont er, "bilden deutlich eine Gruppe."
Ein weiterer Grund für die Annahme, dass das Virus seinen Ursprung in Afrika hat, ist die enorme Vielfalt an HIV-Stämmen auf diesem Erdteil. Nirgendwo sonst hat man soviele Typen gefunden. Die größte genetische Varianz tritt in der Regel in der Entstehungsregion auf, da die Virusstämme, die das Ursprungsgebiet verlassen, nur einen Bruchteil der Gesamtheit darstellen, meist nur ein oder zwei Linien. Hinzu kommt, dass in der zentralafrikanischen Region, in der die ersten Aids-Fälle gefunden wurden, auch Schimpansen leben. Schließlich ist auch die Tatsache ein Indiz, dass Schimpansen offenbar von ihrem SIV-Stamm nicht krank werden, was darauf hindeutet, dass sie den Evolutionsprozess gemeinsam mit ihrem Virus durchlaufen haben. Hahn versucht das Geheimnis zu lüften, weshalb Schimpansen nicht krank werden, ein Ansatz, der zu neuen Behandlungswegen für Menschen führen könnte.
Viele Afrikaner betrachten jedoch die Theorie, dass das HIV von Menschenaffen stammt, als weiteren Beitrag, Afrika als dunklen Kontinent zu verleumden, und bringen sie mit den jahrhundertealten Klischees in Verbindung, die ihnen von Weißen entgegengebracht wurden und werden. Der kenianische Präsident Daniel arap Moi prangerte die Theorie, dass Aids aus Afrika stammt, als "eine neue Form der Hasskampagne" an, wie Laurie Garret in ihrem Buch "Die kommenden Plagen" schreibt. Zekeng ließ sich kürzlich von einer New Yorker Tageszeitung nicht fotografieren, weil "ich schon das Titelbild mit lauter Affen drauf sehen konnte". Und er befürchtet noch etwas Anderes: "Journalisten, die ihre Kameras auf Afrikaner richten und sagen, ›Diese Schwarzen haben uns das Aids-Virus gebracht<. Nun stellen Sie sich mal vor, Sie und ich sind Nachbarn – wie würden Sie auf eine solche Nachricht reagieren? Wenn mein Kind rüberkommt, um mit ihrem zu spielen? Wie würden Sie es behandeln? Die Sache fördert nur den Rassismus."
Viele Afrikaner weisen darauf hin, dass die Krankheit zuallererst bei schwulen weißen Männern diagnostiziert wurde, die eine halbe Weltreise entfernt sind. Weshalb sollte Afrika dann der Ursprungsherd des Virus sein? Wenn man jedoch die lange Zeitspanne zwischen der Infektion mit dem Virus und dem Ausbruch der Krankheit berücksichtigt, wenn man an die Leichtigkeit des interkontinentalen Reisens denkt und sich die medizinische Überwachung der Bevölkerung in den industrialisierten Ländern vor Augen hält, dann ist es absolut glaubhaft, dass das HIV zum ersten Mal weit weg von seinem Entstehungsort bemerkt wurde. Edward Mbidde, ein führender ugandischer Aids-Forscher, sagt: "Es hat nichts mit Rassismus zu tun, wenn man behauptet, das Virus stamme aus Afrika."
Allerdings kommt es immer wieder vor, dass diese Theorie auf schockierend rassistische Weise vermittelt wird. Peter Piot, mittlerweile Direktor des United Nations AIDS Program (UNAIDS), erinnert sich an die erste Welt- Aids-Konferenz im Jahr 1985. Unter den Teilnehmern waren lediglich drei afrikanische Wissenschaftler – alle aus dem französisch-sprachigen Zaire - , als deren Dolmetscher Piot fungierte. Die Theorie, dass das HIV von Menschenaffen ausgegangen ist, wurde auf dieser Konferenz vorgestellt. Ein amerikanischer Reporter stürzte sich daraufhin auf die drei afrikanischen Wissenschaftler und fragte sie: "Stimmt es, dass Afrikaner Sex mit Affen haben?" Piot übersetzte die Antwort nicht ohne Häme: "Nein, aber ich habe gehört, dass Amerikaner Sex mit Hunden haben."
Heute kompromittiert vor allem die Unterstellung von Kannibalismus die wissenschaftliche Forschung. Einer, der beim jüngsten Medienrummel über die Herkunft des HIV besonders mitgemischt hat, ist der Schweizer Fotograf und Ökoaktivist Karl Ammann. Ammann kaufte vor elf Jahren ein Schimpansenbaby von einem Jäger, der das Muttertier getötet hatte. Der Schimpanse rüttelte seine Vaterinstinkte wach, sagt Ammann, der kinderlos ist. Heute schläft das Tier bei ihm und seiner Frau. In den vergangenen Jahren hat Ammann, der ehemals als Marketing-Direktor eines Hotels arbeitete, sich darum bemüht, das Licht der Öffentlichkeit auf das bush meat-Geschäft zu lenken, das die Menschenaffen in ihrer Existenz bedroht. Als er von Hahns Forschung hörte, sah er eine ideale Gelegenheit für seine Kampagne gekommen und versorgte die Wissenschaftlerin mit jenen bewusst schockierenden Aufnahmen, die bei ihrer Zuhörerschaft so viel Entsetzen auslösten.
Von seinem kenianischen Wohnort aus – einem rund sechs Hektar großen Anwesen mit schwarzen Bediensteten – wirft Ammann den Afrikanern beinahe vor, Aids in die Welt gesetzt zu haben. Seine Medienstrategie erläuternd, sagt er: "In den westlichen Ländern erfährt der Mann auf der Straße so viel über die Probleme in Afrika, dass er es nicht mehr hören kann: ›Ja und? Dann essen eben ein paar Afrikaner irgendwelche Affen, was geht mich das an?< Wenn dieser Brauch jedoch das ist, was ihm Aids beschert hat, dann muss der Mensch im Westen jetzt seinen Lebensstil ändern. Weil es in Afrika zum Lebensstil gehört, Affen zu essen, muss er jetzt Kondome benutzen."
Die kamerunische Wissenschaftlerin Judith Torimiro studierte gerade an der London School of Hygiene and Tropical Medicine, als Hahns Forschungsergebnisse Schlagzeilen machten. Sie erinnert sich an eine Diskussion unter Mitstudenten: "Es wurde über Übertragungsmöglichkeiten geredet, wenn die Jäger die Tiere schlachten. Dann fragte jemand ›Wie sieht es mit dem Verzehr aus?< Und die nächste Frage war ›Wird das Fleisch gekocht?< ›Ja, natürlich<, sagte ich. ›Und ich esse es auch. Meine Mutter hat so etwas früher zubereitet.<" Sie hält für einen Moment inne und fügt mit verletzter Stimme hinzu: "Wie konnten sie nur fragen, ob wir das Fleisch kochen?"
Italiener essen Carpaccio und die Japaner Sushi; die Frage war also nicht unbedingt rassistisch. Aber vor dem Hintergrund der Geschichte ihres Kontinents erregen solche Fragen bei Afrikanern eben doch Verdacht. Und es sträuben sich bei ihnen erst recht die Nackenhaare, wenn Amman Äußerungen von sich gibt wie: "Die Kolonialherren und Missionare haben den Kannibalismus erfolgreich ausgerottet. Wann fangen wir mit dem 98,4-prozentigen Kannibalismus an?" Solche Hetzsprüche diskreditieren in den Augen vieler Afrikaner die westliche Aids-Forschung. Wenn die Weißen glauben, das Essen von Tieren sei Kannibalismus und Afrikaner hätten Sex mit Affen, wie kann irgendetwas von dem, was sie sagen, dann stimmen?
Roy Mugerwa leitet die wissenschaftlichen Untersuchungen im Zusammenhang mit Afrikas erstem Test für einen Aids-Impfstoff. Obwohl der Impfstoff bereits in Europa und Amerika ausprobiert worden war, musste Mugerwa drei Jahre lang dafür kämpfen, den Test durchführen zu dürfen, und sah sich sogar gezwungen, vor dem ugandischen Parlament zu erscheinen. Er erinnert sich an ein häufig vorgebrachtes Argument: "Die Weißen sagen, Aids sei hier entstanden, und jetzt kommen sie mit diesem Impfstoff, der möglicherweise alles noch schlimmer macht." Zu der Zeit, als die Debatte über den Aids-Impfstoff losbrach, kündigte die Regierung ein Programm zur Ausrottung von Kinderlähmung in Uganda an. In dem entstandenen Gebräu aus Argwohn und Angst verkündete ein Radiosprecher, dass die Polio-Impfungen mit lebenden HI-Viren verseucht sein könnten. In der Folge wurden Tausende von Kindern nicht geimpft und damit dem Risiko ausgesetzt, als Krüppel zu enden. "Warum", fragt Mugerwa, "wird das Falsche schneller geglaubt als das Richtige?"
Niemand weiß, wie oft Aids-Viren die Artengrenze überspringen, aber wenn sie das tun, wird am Ende oft das festgestellt, was bei der Patientin 11008, wie sie in der Fachliteratur heißt, passierte. Bekannt als eine 52-jährige Frau aus Sierra Leone, die so gerade eben von ihrem Ackerbau lebte, war die Patientin 11008 eine von 9300 Kandidaten, die Marx auf ein HIV-2 genanntes Virus hin testete.
Es gehört zu den wenig bekannten Tatsachen, dass es zwei unterschiedliche Aids-Epidemien gibt. Die weitaus größere hat laut neuer, im November 1999 veröffentlichter Zahlen mehr als 16 Millionen Menschen das Leben gekostet und wird vom HIV-1 verursacht. Aber es gibt noch eine andere Aids-Epidemie, die viel kleiner ist und sich auf Westafrika konzentriert. Auslöser dieser Epidemie ist das HIV-2, ein nicht ganz so gefährliches und schwerer übertragbares Virus, das aber trotzdem tödliche Folgen haben kann. Während das HIV-1 höchstwahrscheinlich von Schimpansen auf Menschen übertragen wurde, stammt das HIV-2 von den schwarzbraunen Mangabey-Affen.
Bei der Patientin 11008 fiel das Ergebnis des Tests auf HIV-2- Antikörper positiv aus. Als Marx das Virus untersuchte, stellte er jedoch fest, dass es sich deutlich von allen bis dahin bekannten HIV-2-Typen unterschied, wenngleich das Virus offensichtlich zur Familie gehörte. Es handelte sich um das, was Virologen als einen anderen "Subtyp" oder mit dem englischen Begriff clade – nach dem griechischen Wort für Zweig – bezeichnen. Von einem Virusstamm ist im Allgemeinen die Rede, wenn eine geringe Variation des genetischen Codes der Viren vorliegt. Eine HIV-positive Person hat normalerweise mehrere solcher Stämme in ihrem Körper. Bei einem Subtyp oder clade ist der genetische Unterschied jedoch sehr viel größer. Bisher haben Wissenschaftler elf Subtypen in der Hauptgruppe des HIV-1 und sechs Subtypen des HIV-2 identifiziert. Das Virus der Patientin 11008 wurde Subtyp F genannt. Bis zum heutigen Tag ist es bei keinem anderen Menschen gefunden worden.
Darüber hinaus ist Subtyp F genetisch so verschieden von anderen, dass er wahrscheinlich nicht auf einen der üblichen Subtypen zurückgeht, sondern ein von Tieren auf den Menschen übergewechseltes Virus darstellt. Es ist gut möglich, dass dies bei Patientin 11008 der Fall war, denn sie gab an, dass sie schwarzbraune Mangabeys esse. "Es handelt sich um den Fall eines Virus, welches durch Überspringen der Artengrenze in den Menschen gelangt ist. Allerdings erhielt es dort nicht die nötige Unterstützung, die es für eine Epidemie gebraucht hätte", sagt Marx.
Die Entstehung eines Virus ist nicht gleichbedeutend mit der einer Epidemie. Erstere ist ausschließlich biologisch, letztere sowohl biologisch als auch sozial. Viren sind Parasiten. Sie vermehren sich, indem sie die Maschinerie der Zellen lahm legen. Ein Virus, das die Artengrenze überspringt, muss daher in der Lage sein, in Zellen zu funktionieren, die sich biologisch von denen des ursprünglichen Wirtes unterscheiden. Wenn es sich im neuen Wirt nicht stark genug vermehren kann, kann es nicht von einer Person auf die nächste übergehen. Viele Viren sind dazu nicht in der Lage. Hahn und der renommierte Aids-Forscher David Ho haben eine weitere Person untersucht, die mit einem einzigartigen Subtyp des HIV-2 infiziert war. Dieser Patient entwickelte zu keinem Zeitpunkt Aids-Symptome. Überhaupt konnten die Forscher nur Teile des Virus identifizieren, sozusagen die Spuren seines fehlgeschlagenen Versuches, im Menschen zu überleben.
Doch selbst wenn ein Virus es schafft, sich erfolgreich zu replizieren, muss das nicht die Auslösung einer Epidemie bedeuten. 1976 starb ein norwegischer Matrose, der in Westafrika gewesen war, an einer seltsamen Krankheit. Auch seine Frau und eins seiner drei Kinder fielen der Krankheit zum Opfer; bei beiden war das Immunsystem zerstört. "Die Norweger sind sehr gut organisiert", sagt François Simon, ein französischer Wissenschaftler, der sich mit den vielfältigen Varianten des HI-Virus beschäftigt, "deshalb haben sie Gewebeproben aufgehoben." Diese Proben erwiesen sich später als HIV-1-positiv. Der norwegische Matrose ist seitdem der erste bekannte Aids-Fall in Europa.
Obwohl jenes Virus offenbar zur Vermehrung in der Lage war, starb es trotzdem mit der Frau und dem Kind. Die viralen Subtypen, die gegenwärtig die Welt terrorisieren, unterscheiden sich genetisch sehr deutlich von dem Virus des Matrosen. Und doch handelte es sich bei seinem HI-Virus um die gleiche, äußerst seltene Variante, die ein Vierteljahrhundert später bei Zekengs 26-jähriger Kamerunerin auftauchte: die O-Gruppe. Mit anderen Worten, hier lag eine eigenständige Epidemie vor, auch wenn sie winzig war und nicht wirklich zum Zuge kam. In Teilen Kameruns macht die O- Gruppe mittlerweile 5 Prozent aller HIV-1-Infektionen aus.
Wahrscheinlich existieren Aids-Viren seit Tausenden von Jahren in den verschiedensten Tieren, möglicherweise gibt es sie sogar schon länger. Bei Kühen hat man das BIV (bovine immunodeficiency virus) gefunden. Katzen, Löwen, Geparden und nordamerikanische Pumas können vom FIV (feline immunodeficiency virus) angesteckt werden. Bei vielen Affenarten hat man mittlerweile das SIV (simian immunodeficiency virus) nachgewiesen. Die Verbreitung des Virus in so vielen Affenarten legt nahe, dass das Virus schon sehr lange unter ihnen zirkuliert, während das HIV erst in den siebziger Jahren eine große Zahl von Menschen infizierte. "Das Reservoir" an Aids-Viren in Tieren, sagt Simon, "ist unerschöpflich."
Wenn es seit langem eine solch riesige Menge an Immunschwäche-Viren gibt, warum ist dann erst jetzt eine Epidemie entstanden? Warum nicht während des Sklavenhandels, als Millionen von Afrikanern aus den Gegenden verschleppt wurden, aus denen sowohl das HIV-1 als auch das HIV-2 stammen? Zu der Zeit vermischten sich viele Menschen unterschiedlichster Herkunft. Außerdem wurden Sklavinnen häufig vergewaltigt, was dem Virus jede Menge Gelegenheiten gegeben hätte, sich auszubreiten. Und trotzdem brach keine Epidemie aus – oder höchstens eine ganz kleine, die genauso schnell wieder verschwand wie das Virus in der Familie des norwegischen Matrosen. Im Gegensatz dazu hat es in den vergangenen 70 Jahren zwei größere Aids-Epidemien gegeben, den winzigen Ausbruch der O-Gruppe nicht mitgerechnet. Die Frage beschäftigt Marx pausenlos: "Es muss irgendetwas mit dem zwanzigsten Jahrhundert zu tun haben, das die Ökologie zwischen SIV und HIV verändert und damit diese Epidemien möglich gemacht hat. Aber wir verstehen nicht, was es ist."
Ein neues Buch von Edward Hopper mit dem Titel The River (Der Fluss) vertritt die These, dass das SIV durch orale Polioimpfungen auf Menschen übertragen wurde, weil vermutlich ein paar Chargen des Serums in den Nieren von SIV-infizierten Schimpansen herangezüchtet worden waren. "Möglich, aber unwahrscheinlich", sagt Ho. Bei den Schimpansen aus der betroffenen Gegend handelt es sich um die falsche Unterart. Außerdem ist Bette Korber, eine Forscherin am Los Alamos National Laboratory, zu dem Ergebnis gekommen, dass sich das HIV in seiner heutigen Form höchstwahrscheinlich Jahrzehnte vor der Entwicklung der Polioimpfung herausgebildet hat. Dennoch werden die noch existierenden Chargen des Impfstoffes, die Hopper für die Entstehung des HIV verantwortlich macht, demnächst getestet.
Plausibler ist allerdings die Vermutung, dass Bluttransfusionen und Injektionsspritzen – letztere wurden in Afrika oft ohne Sterilisation mehrfach benutzt – die Evolution und Ausbreitung von noch in der Entstehung begriffenen HI-Viren begünstigt haben, indem sie diesen vermehrte Gelegenheiten zur Anpassung an die menschliche Biologie boten. Hatten sich die Viren erst einmal erfolgreich angepasst, konnten sie sich mit Hilfe der nicht sterilisierten Nadeln ausbreiten, wie unter Drogenabhängigen überall in den USA zu beobachten ist. Wahrscheinlich sind Bluttransfusionen und Injektionsnadeln jedoch nur ein Teil der Geschichte. Bekanntlich verwenden traditionelle afrikanische Naturheiler die Klingen, mit denen sie bei ihren Patienten medizinische Einritzungen oder Schnitte vornehmen, nicht nur einmal, und Stammesälteste machen von den Messern, die sie für Opferrituale benutzen, mehrfach Gebrauch.
Der entscheidende Umstand, der einem durch Überspringen der Artengrenze entstandenen Virus die Möglichkeit gab, eine Epidemie auszulösen, liegt aller Wahrscheinlichkeit nach in den kulturellen Umwälzungen, die Afrika erschüttert haben. In Kamerun, einem Land kleiner als Spanien, gibt es mehr als 200 einheimische Sprachen. Nach dem Ersten Weltkrieg führten die Kolonialherren einfach zwei Nationalsprachen ein – Englisch und Französisch – mit der Folge, dass Menschen, die vorher niemals untereinander geheiratet oder auch nur Umgang miteinander gehabt hätten, dies nun tun konnten. Straßen, Eisenbahnen und Flugverbindungen erlaubten den Menschen, sich leichter als jemals zuvor zu bewegen und zu vermischen. Die Verstädterung zog riesige Menschenmengen an einzelne Orte, wo dann die Armut und der Zusammenbruch der traditionellen Kultur zu massenhafter Prostitution führten. Als die Epidemie sich noch im frühen Stadium befand, konnte man feststellen, dass HIV-Fälle sich auf die Städte entlang der Lastwagenrouten des Kontinents konzentrierten, weil LKW-Fahrer dort häufig Prostituierte aufsuchen.
Marx möchte so viel wie möglich über die biologische ebenso wie über die soziale Entstehung des HIV herausfinden, weil er hofft, so die Ausbreitung neuer Viren zu verhindern. In der Tat haben sich bereits neue Erreger gebildet. "Hepatitis C, es gibt bisher keine gute Erklärung, wie sich dieses Virus gebildet hat", sagt Marx. "Woher ist es gekommen?"
Woher sind Viren überhaupt gekommen? Das HIV ist ein Retrovirus, das seinen genetischen Code in die DNA seines Wirts kopiert. Vielleicht, sagt Robert Gallo, einer der Entdecker des HIV, begann die Karriere des Virus als eine Art genetischer Bote, der Schlüsselsegmente der DNA zwischen den frühen Organismen des Lebens hin- und hertransportierte. "Haben Viren bei der Evolution eine Rolle gespielt, zum Beispiel bei der Artenteilung oder in den Anfangsstadien des Lebens? Oder handelte es sich zunächst nur um DNA- Müll ohne jeden Zweck? Welche Funktion hatten sie, verdammt noch mal? Wir wissen es nicht."
Auch wenn die Geschichte des HIV ein faszinierendes Thema ist, drehen sich die drängenderen Fragen um seine Zukunft. Glaubt man den Szenarien von Hollywood-Filmen, so droht der Menschheit möglicherweise ein weit tödlicherer und leichter übertragbarer Aids-"Supervirus". "Unwahrscheinlich", sagt Simon dazu. Viele Wissenschaftler sind der Meinung, dass es nicht im Interesse eines Virus liegt, seinen Wirt zu töten. Es wäre daher denkbar, dass das Virus sich zu einem harmloseren Stamm entwickelt. Es liegt andererseits ebenso im Interesse eines Virus, seine Übertragbarkeit zu verbessern. In diesem Fall spielt es keine Rolle, ob das Virus seinen Wirt umbringt, denn es wird weiterleben, indem es sich in neuen Patienten vermehrt. Dennoch musste Simon Tausende von Blutproben durchgehen, bis er gerade einmal fünf Fälle der neuesten HIV-1- Variante, der N-Gruppe, fand. Offenbar sind Viren, die die Artengrenze überspringen, selten.
Aber sie kommen vor, und selbst wenn sie nicht besonders ansteckend sind, stellen sie dennoch ein Problem dar. Zum einen besteht die Möglichkeit, dass sie von gängigen Tests nicht entdeckt werden und so in die Blutversorgung sickern. Außerdem könnte es sein, dass Medikamente und Impfstoffe gegen sie wirkungslos sind. Simon und seine Kollegen haben bereits herausgefunden, dass eine HIV-Variante, Subtyp G, gegen mindestens zwei der besonders wirksamen Protease-Hemmer, die Aids-Patienten im Westen neuerdings das Leben retten, resistent ist. Tatsächlich besteht ein Kennzeichen dieses Subtyps in einer Mutation, welche die Wirksamkeit der betreffenden Medikamente herabsetzt.
Das HIV ist erstaunlich wandelbar. Im Durchschnitt vollzieht es jedes Mal, wenn es eine neue Zelle infiziert, eine Veränderung seines genetischen Codes. Ein solcher Vorgang findet in jedem Patienten täglich Millionen Male statt. Die Zahlen sind schwindelerregend. Bei mehreren zehn Millionen Infizierten auf der Welt verändert das HIV wahrscheinlich jeden Buchstaben seines genetischen Codes viele Male pro Tag. Darüber hinaus kann das HIV seine ohnehin schon hohe Mutationsgeschwindigkeit durch "Rekombination" noch einmal steigern: Wenn sich eine Person mit zwei unterschiedlichen Stämmen ansteckt, vermischen sie ihr genetisches Material durch eine Art viralen Sex zu einem hybriden Stamm. Durch Rekombination kann ein Virus sich also auf der Stelle radikal transformieren. Mehrere Subtypen des HIV sind auf diese Weise entstanden.
All das ist Anlass genug, den Ursprung des HIV zu ergründen. Einigen Forschern schwebt bereits eine Wissenschaft vor, die sich ausschließlich mit den Entstehungsprozessen von Krankheitserregern beschäftigt. Sie hoffen, so herauszufinden, wie sich die Evolution von Viren ausschalten und der Mensch schützen lässt. Gegenwärtig jedoch liefern Rekombinationen Anlass zu der Besorgnis, dass sich neue HIV-Typen im Menschen breit machen: Je größer die Vielfalt der Virusstämme, desto größer auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Segmente zu einem neuen, gefährlicheren Subtyp umgruppieren. "Gentechnik gibt es auch in der Natur", sagt Piot von UNAIDS. "Das Virus experimentiert mit sich selbst."
"Der ungewöhnlichste Fall, den ich in den letzten sechs Monaten gesehen habe", sagt Zekeng, "war ein 45 Jahre alter Mann, der mir von der Tuberkulose- Station geschickt wurde. Er hatte Beschwerden in der Brust, aber keine TB. Er hatte Gewicht verloren. Er hatte am Fußgelenk Kaposi" – eine mit dem HIV in Zusammenhang stehende Krebsart. "Und er litt an ständigem Fieber." Mit anderen Worten ein klassischer Aids-Fall. "Trotzdem fielen die Tests wiederholt negativ aus, und das bei mindestens sechs verschiedenen Testmethoden." Zweimal schickte Zekeng das Blut des Mannes an ein erstklassiges Labor in Deutschland, doch man konnte kein Virus finden. "Wird dies das HIV-3 sein?" fragt Zekeng. "Ich weiß es nicht."
aus: der überblick 03/2000, Seite 25
AUTOR(EN):
Mark Schoofs:
Der amerikanische Journalist Mark Schoofs hat für seine achtteilige Serie über Aids in Afrika im Jahr 2000 den Pulitzer-Preis erhalten, einen der bedeutendsten Journalistenpreise. Die Reportagen sind das Ergebnis Hunderter von Interviews, die über einen Zeitraum von sechs Monaten in neun Ländern geführt wurden. Die Reportagen wurden von Michael Wachholz für den überblick übersetzt. Sie sind erstmals auf Englisch in der in der New Yorker Zeitung Village Voice erschienen.