Evangelikale Kirchen im Süden stellen neuen Fragen an die Entwicklungswerke
In vielen Ländern des Südens finden charismatische und evangelikale Kirchen gerade unter den Armen wachsenden Anhang. Kirchliche Hilfswerke müssen sich der Frage stellen, was das für ihre Arbeit und für die eigene Religiosität bedeutet.
von Wilfried Steen
In der gesamten theologischen Debatte in Deutschland spielt die Auseinandersetzung mit dem weltweiten Wachstum evangelikal-charismatischer Kirchen eine geringe Rolle (vergl. "der überblick" Nr. 1/2005). Dies ist wohl darin begründet, dass diese christlichen Gemeinschaften in Deutschland bisher sehr klein sind. Doch je mehr überseeische Partnerkirchen sich solchen Strömungen anschließen, desto mehr werden auch unsere Kirchen und kirchlichen Missions- und Entwicklungswerke sich diesem Phänomen stellen müssen.
Deutlich wurde das auf einer Exposure- Reise des EED Ende 2004. Solche Reisen konfrontieren Menschen aus der deutschen Gesellschaft und Kirche mit der Arbeit des EED und regen ein Gespräch an zwischen Profis aus dem Entwicklungsdienst und denen, die sich ganz neu auf eine Begegnung mit Menschen in abgelegenen Dörfern des Südens einlassen. Im vergangenen Oktober ging eine solche Reise nach Peru und Bolivien. Sie brachte den Teilnehmenden ein Thema nah, das in der Vorbereitung wenig Beachtung fand: die Ausbreitung der evangelikalen und fundamentalistischen Kirchen in Lateinamerika.
In Peru und Bolivien war die Begegnung mit dem evangelikalen Christentum denkbar einfach: Sie geschah in den Dörfern in den Anden, in denen Menschen unter schwierigsten Bedingungen leben und arbeiten. Die katholische Kirche hatte sich immer auf die Städte und Talregionen beschränkt. In die Dörfer der Quetschua kam nur selten ein Priester. Für evangelikale Gruppierungen ist das ein willkommenes Missionsfeld.
Zu zweit besuchen wir eine Bauernfamilie mit zwei fast schon erwachsenen Töchtern, die im Wesentlichen von Meerschweinchenzucht und Gemüseanbau lebt. Das Gemüse verkauft die Frau auf dem Markt in Cusco vor allem an Restaurants. Die Familie wird wie das ganze Dorf vom Projektpartner des EED, einer peruanischen Beratungsorganisation mit dem Namen Cedep Ayllu, in ihrer landwirtschaftlichen Arbeit unterstützt und qualifiziert.
Der Empfang in der Familie ist herzlich trotz des kalten, regnerischen Wetters. Beim Unkrautjäten im Zwiebelfeld wird uns deutlich, wie hart die Arbeit in dieser Höhe rund 2.400 Meter ist. In unseren Gesprächen schält sich heraus, dass die Familie zu einer evangelikalen Gemeinschaft gehört. Unsere Dolmetscherin, eine Fachkraft des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED), übersetzt evangelische Kirche mit Iglesia Evangélica. Das führt zum Missverständnis bei unseren Gastgebern, als gehörten auch wir zu einer evangelikalen Kirche. Sie öffnen sich, fragten intensiver nach unserem Christsein und erbitten am Schluss der Begegnung unseren Segen.
Noch in den siebziger Jahren schien es, als bewirke die Befreiungstheologie mit ihrer Option für die Armen eine Kehrtwendung der Kirche und eine Hinwendung zu den sozialen Problemen der Menschen, insbesondere der Armen. Leider hat sich diese Hoffnung nur sporadisch erfüllt. Sie hängt allein an engagierten Priestern und Laien, vor allem aus dem katholischen Umfeld. Der bittere Spruch: Die Befreiungstheologie hat sich für die Armen entschieden, aber die Armen entschieden sich für die evangelikalen Kirchen entspricht leider der Wirklichkeit. Nur eine Minderheit der Bischöfe der katholischen Kirche in Lateinamerika sympathisiert noch mit der Befreiungstheologie. Die Konservativen sind auf dem Vormarsch. Die Versuche, die Armen zu gewinnen, sind stecken geblieben.
Wie mag es den evangelikalen Gruppierungen gelungen sein, die Herzen der armen Menschen in den Andendörfern Perus und Boliviens zu erreichen? Als moderner Antimodernismus entstanden evangelikale, fundamentalistische Gruppierungen aus einer Gegenbewegung zu modernitätsbestimmten theologischen Richtungen. Die verstanden es oftmals nicht mehr, sich mit ihrer akademischen, an der europäischen Aufklärung orientierten Theologie verständlich zu machen. Die schlichte Bibelgläubigkeit, der Wunderglaube, die Bezogenheit des Gottesdienstes auf die individuellen Nöte der Menschen sind einige der Erfolgsrezepte der evangelikalen Kirchen.
Hinzu kommt, dass sie es verstanden haben, auf einen eigenen Theologenstand zu verzichten und die Gemeindemitglieder ehrenamtlich und verantwortlich in die Leitung der Gemeinde einzubeziehen. Im Ort Huancalle war unser Gastgeber gleichzeitig auch Gemeindevorstand und hat Gottesdienste verantwortlich durchgeführt. In seinem bescheidenen Bauernhof hatte er neben dem Vorratslager einen Raum für Gäste, Prediger und Missionare reserviert, die wohl öfters in der Gemeinde zu Gast sind und wegen der schlechten Verkehrsverbindungen mehrere Tage bleiben müssen.
Unsere Gastfamilie gibt eine einfache, aber überzeugende Begründung für ihre bewusste Zugehörigkeit zur evangelikalen Bewegung: Vorher haben die Männer viel Alkohol getrunken. Damit ist jetzt Schluss. Außerdem hat das gemeinsame Leben und Arbeiten in der Comunidad neue Impulse bekommen. Außerdem heißt es: Wir sind mit eigener Kraft in unserem Dorf vorangekommen. Dank der Unterstützung der Entwicklungsorganisation Cedep Ayllu und unserer eigenen Initiativen geht es uns besser als vorher.
Auf mich wirkt die Haltung unserer Gastfamilie überzeugend und schlüssig. Ihre Religiosität ist nicht aufgesetzt, wie man es oft bei europäischen oder USamerikanischen evangelikalen Gruppen erleben kann. Die Menschen in Huancalle sind dem Himmel nah. Das ist man schon körperlich in diesen Höhen.
In unserer Reisegruppe tauchen Fragen auf, auf die man keine einfache Antwort findet: Können wir als Mitglieder von traditionellen evangelischen Kirchen die Augen verschließen vor dem Wachstum der evangelikalen und fundamentalistischen Gruppierungen? Dürfen wir auch weiterhin die Meinung pflegen, dass diese christlichen Gruppen lediglich auf ein unpolitisches, wenig sozial bewusstes Christentum setzen, das nur die individuelle Frömmigkeit und das persönliche Heil des Glaubenden betont?
Wir können als Europäer nicht zurück hinter die theologischen Erkenntnisse der Reformation und der Aufklärung. Stärker als je wird von den Religionsgemeinschaften weltweit eine Reflexion ihrer Religiosität und der Verzicht auf einen alleinigen Wahrheitsanspruch gefordert. Aber ist religiöser Relativismus der Weg? Je stärker die Säkularisierung um sich greift, desto drängender werden die Fragen.
Die Konsequenzen für Kirchen und ihre Entwicklungs- und Missionswerke sind noch nicht überschaubar. Aber die Verunsicherung unter den sogenannten Mainline Churches steigt. Müssen wir uns nicht schonungsloser als bisher fragen, warum die Anziehungskraft unserer kirchlichen Arbeit nachlässt und unsere Gottesdienste so wenig attraktiv sind? Der EED wird sich wie schon Brot für die Welt der theologischen Auseinandersetzung mit einer weltweit wachsenden evangelikalen Bewegung stellen.
aus: der überblick 02/2005, Seite 93
AUTOR(EN):
Wilfried Steen
Wilfried Steen ist Mitglied des EED-Vorstands
und leitet im EED die Ressorts Entwicklungspolitik/
Programme im Inland sowie
Fachkräfte und Stipendien.