Die Murgas in Buenos Aires – ein bunter, tanzender Protest
In der Murga, einer Art Karneval, entlädt sich der Frust des Alltags. Tänzer, Sänger und Trommler protestieren dabei mit grotesken Choreographien und provozierenden Liedtexten gegen gesellschaftliche und politische Missstände.
von Antje Krüger
Die Straße dröhnt. Bumm tam tam, bumm, tam. Bumm. Mit aller Kraft schlägt Joaquin die Trommel. Bumm. Die Luft vibriert. Schweiß rinnt. Bumm tam tam, bumm tam. Arme und Beine fliegen. Wilde Sprünge, Verrenkungen. Hundert rot-weiße Seidenfracks wirbeln herum. Der Rhythmus zieht. Der Rhythmus lässt keine Ruhe. Ein Pfiff. Ende.
»Bravo«, schreit es aus der Masse. Die Zuschauer johlen. Klatschen, pfeifen. Wollen mehr. Doch die Tänzer ziehen erschöpft von dannen. Machen Platz für die nächste Gruppe. Joaquin setzt an der nächsten Straßenecke die Trommel ab. Die Schminke auf seinem Gesicht ist zerronnen.
Szenen aus Argentiniens heißem Sommer, wenn die Murgas die Straßen von Buenos Aires erobern. Murga, so heißt der Karneval an der Mündung des Rio de la Plata. Murga, so heißen auch die einzelnen Gruppen aus Tänzern, Sängern und Trommlern. Mehr als 100 Murgas gibt es inzwischen in Buenos Aires. Doch schon längst sind sie kein pures Karnevalsspektakel mehr. Sie marschieren auf Demonstrationen mit und treten vor Kindern in den Armutsvierteln auf. Auch wenn die Zeit der Narren noch immer ihre Zeit ist.
Nachdem er tief durchgeatmet hat, fängt Joaquin an zu erzählen. »Wir sind die Mocosos de Liniers, die Popelkinder von Liniers«, einem Stadtteil von Buenos Aires, erklärt er. »Seit fünf Jahren bin ich mit dabei. Ich spiele das Bombo, die große Trommel. Jedes Jahr treten wir gegen die anderen Murgas an. Dieses Mal haben wir die Leute richtig mitgerissen«, freut sich der 23-Jährige. Um ihn herum sitzen und liegen die Tänzer auf dem heißen Asphalt. Trommeln stehen verstreut auf der Straße. Der Rey Momo, das riesige Königsmaskottchen der Mocosos de Liniers, lehnt an einer Hauswand. Einige Murgueros sind schon in einen der klapprigen Busse gestiegen, die etwas weiter parken. Auch wenn inzwischen Mitternacht vorbei ist, für die Mocosos de Liniers geht es heute noch weiter. Sie werden noch an einer anderen Straßenecke tanzen, trommeln und singen.
In ganz Buenos Aires sind die Autofahrer es im Sommer gewohnt, weite Umwege in Kauf zu nehmen. An den Wochenenden werden verschiedene Straßenzüge gesperrt, kleine Bühnen aufgebaut: So wird Platz für die Murgas geschaffen. Schon am späten Nachmittag stapeln die Sprayverkäufer ihre Flaschen fein säuberlich zu Pyramiden. »Schneeschlachten« inmitten des Sommerdunstes liefern sich die Gecken ein Überbleibsel der Karnevalstradition von der Nordhalbkugel. Sie sorgen für Gekreisch und Getümmel bis spät in die Nacht. Das kalte, weiße Nass, unfreiwilliger Begleiter Kölner Gecken auf der anderen Seite des Ozeans, kommt hier aus bunten Spraydosen. Doch noch ist es nicht so weit. Noch verkabelt ein Techniker die Lautsprecherboxen und ein anderer rollt Absperrband aus. Den Strom stellt die Stadt.
So gut organisiert ging das vor über 150 Jahren nicht zu. Geboren in den Elendsvierteln und zusammengewürfelt aus der Musik ehemaliger Sklaven und der Ironie armer europäischer Einwanderer, waren Murga und andere Karnevalsfeste Fluchtmöglichkeiten. Wann immer der Alltag unerträglich wurde, bedienten sich die Menschen im Raum des La Plata-Flusses der Ironie und des grotesken Tanzes. Die Murga entstand aus dem Bedürfnis der Armen, sich zu verkleiden, zu singen, zu tanzen und sich wenigstens während der Karnevalstage als Könige zu fühlen. In pittoresken Umzügen tanzten sie zu rhythmischen Schlägen auf Dosen und Kübeln durch die Armenviertel von Buenos Aires. Es war Tradition, mit Eiern, Mehl und Farben bewaffnet durch die Straßen zu streunen. Um 1840, zu Zeiten der Diktatur von Juan Manuel de Rosas, war der Aufruhr so groß, dass die Murga verboten wurde. Es war das erste Verbot, viele andere sollten folgen. Doch Jahrzehnte überdauerten die Murgas solche Restriktionen. Es sind die Krisen, die den Murgas den Stoff liefern. »Je mehr es zu parodieren gibt, je mehr Normen gebrochen werden können, um so kraftvoller ist die Murga. Da werden sie zum Selbstläufer. Fette Zeiten dagegen lassen die Murgas verstummen. Sie brauchen die Reibung. Und die gibt es genug in Argentinien«, sagt Coco Romero, einer der bekanntesten Murgueros aus Buenos Aires.
Heute erinnert noch die Kleidung an die Ursprünge der Murga. Seidenfrack, Handschuhe und Hüte sind das Erkennungsmerkmal eines jeden Murguero. Sie stammen von schwarzen Haussklaven ab, die sich mit grotesken Bewegungen und bissigen Gesängen über ihre Herren lustig machten. Doch mit dem Stigma der Armut behaftet, war die Murga lange suspekt und verpönt. »Ich kenne noch einen Freund«, lacht Tintin mit über 70 Jahren einer der ältesten Murgueros der Stadt , »der damals ganz verliebt war in ein Mädchen. Aber nachdem die ihn im Seidenfrack der Murgueros gesehen hat, sprach sie nie wieder mit ihm.«
Inzwischen kann sich jedoch auch die Mittelschicht nicht mehr dem Funkenflug der Murga entziehen. Jeder Stadtteil von Buenos Aires, egal, ob aus dem reichen Norden oder dem armen Süden, hat mindestens eine Murga. Die Farben der Kleidung verraten die Zugehörigkeit. »Wir tragen rot-weiß«, erklärt Trommler Joaquin von den Mocosos de Liniers. Jeder Frack ist dabei ein kleines, individuelles Kunstwerk. Zwischen 20 und 50 Pesos (5 und 13 Euro) kostet eine Tracht bei Murgas mit über einhundert Mitgliedern eine Menge Geld. Nicht immer können alle eingekleidet werden, auch wenn vieles in Handarbeit gefertigt wird. Aufnäher, Zeichnungen oder Stickereien erzählen von den Vorlieben der Frackträger. Einer hat das Bild vom Che auf dem Rücken, ein anderer die Namen seiner Lieblingsbands oder die Fahne des Fußballklubs. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, die Arbeit am Frack ist mindestens genauso wichtig wie der Tanz und die Musik.
Ein neues Wochenende, die gleiche Szenerie. Die Pyramiden der Sprayverkäufer haben schon merklich abgenommen. Die Nacht hat sich über die Straßen von Buenos Aires gelegt. Doch der Hitze des Tages kann auch die Dunkelheit nichts anhaben. Kratzig dröhnt ein Radiohit aus den Lautsprechern der aufgebauten Bühne. Die Luft auf der gesperrten Straße brennt. Kreischend liefern sich Kinder wilde »Schneeschlachten«. So manch ein Vater mischt mit, froh, das Alter für kurze Zeit abstreifen zu können. Ausgelassenheit. Erwartung. Und noch immer strömen die Neugierigen aus den umliegenden Häusern.
Derweil biegt mit lautem Getöse der erste Bus der Mocosos de Liniers um die Ecke. Der Polizist, der die Straße sperrt, winkt ihn vorbei und zeigt auf den Parkplatz. Im Businneren ziehen sich schon einige Murgueros den Frack an. Nur noch wenige Minuten bis zum Auftritt. Hastig werden die Trommeln ausgeladen. Joaquin trägt sein Bombo schon vor dem Bauch. Einzelne unrhythmische Schläge verraten seine Spannung. Seine Freundin überprüft mit zusammengekniffenen Augen im Spiegel eines Fensters ihr phantasievolles Make-up. Fünf verschiedene Murgas treten heute singend und tanzend gegeneinander. Über 400 Murgueros versuchen, die Ihrigen nicht aus den Augen zu verlieren.
Plötzlich zerreißt ein Pfiff mit der Trillerpfeife den Lärm. Bumm tam tam, bumm tam, setzen die Trommeln und Bombos ein, vibrieren im Körper und dröhnen im Ohr. Die Schneeschlachten enden abrupt. Ein gewaltiger Schub drängt Richtung Bühne. Noch ein Pfiff und alle springen los. Hundert rot-weiße Seidenfracks wirbeln herum, Arme und Beine fliegen durch die Luft. Für die Mocosos de Liniers hat der Auftritt begonnen.
Eine feste Choreographie bestimmt den Ablauf einer jeden Murga. Zur Entrada, dem Eingangslied, bahnt sich die Murga den Weg zur Bühne. Leicht vorgebeugt, die Arme ruckartig von sich werfend, animieren die Tänzer das Publikum. Mit Wechselgesängen über sich selbst heizen sie die Stimmung an. Erst, wenn keiner mehr still steht, beginnt der Hauptteil, ein langes Lied. Ein Lied, das Alltag und Politik parodiert und oft an Galgenhumor grenzt. Der Sänger gibt vor, die Tänzer antworten im Refrain. Korrupte Politiker, an Brust und Nase operierte Damen, die Ticks der Neureichen, die Bitternis der Verarmten nichts entkommt den bissigen Texten. Johlend reagiert das Publikum. Und dann, nachdem Trommler und Tänzer in Solos gezeigt haben, was sie können, wird Abschied genommen, ein wehmütiges »Bis zum nächsten Mal« in Melodieform.
Dabei ist die Murga keine Schau von perfekten Leibern und reizenden Bewegungen, wie der Karneval in Brasilien. In wilden Sprüngen verrenken sich die Tänzer in der Luft. Die Arme zum Himmel geworfen, die Beine mit Kraft in die Erde gestoßen, zucken die Körper ekstatisch, als wollten die Murgueros alles aus sich herausschütteln. »Der Tanz will gegen alles Institutionalisierte verstoßen«, sagt Lidia Barone, die für eine Studie die Murgas beobachtete.
Gerade diese Absage ans Äußere macht den Reiz der Murga aus. Sie tanzt und singt gegen die Einsamkeit, Isolation, Ohnmacht an. Sie ist Volksfest und bunter, rhythmischer Protest, Satire, Karneval und Groteske. Mit ihren beißenden Texten wurde sie zur politischen Stimme, zum Gegengewicht der »kleinen Leute«. Die Murgas verwandeln den täglichen Schmerz in Kunst. Sie verbinden dich, so heißt es unter Murgueros, mit dem Glück.
»In der Murga sind wir wie eine große Familie«, sagt Joaquin. Dienstag und Freitag sind seine Lieblingstage. Dann wird geprobt. Immer um 20 Uhr, wenn es ein wenig kühler geworden ist. Die Probe findet auf der Plaza Martinez de Hoz statt. Für oft mehr als 100 Murgueros sind kaum Säle zu finden, Miete kann ohnehin keiner zahlen. Und die Probe ist immer gut für einen Plausch unter Nachbarn. Die Zeiten sind mit dem Stadtrat abgesprochen, damit sich niemand gestört fühlt.
Langsam sammelt sich die Truppe. In kurzen Hosen, die T-Shirts wegen der Hitze hochgezogen, werden die ersten Sprünge geprobt. Zaungäste bleiben stehen und gucken, die Einkaufsbeutel in der Hand. Mütter schuckeln ihre Kinderwagen auf die Plaza und freuen sich über die Abwechslung. Die Köpfe zusammengesteckt, betuscheln Nachbarn, was es Neues gibt. Und wer will, tanzt einfach mit.
Die Murgas holen die Kinder von der Straße. Die Regeln sind strikt: kein Alkohol und keine Drogen. Dafür Zusammenhalt in einer Zeit, in der sich jeder alleine durchzuschlagen versucht. Die Murgas leben von der Solidarität. Jeder macht, was er am besten kann, trommeln, tanzen, Kostüme nähen, singen, dichten. Nur Geld lässt sich mit den Murgas nicht verdienen. Vielleicht haben sie gerade deshalb so einen Zulauf. »In einer Gesellschaft, die dich täglich aufs Härteste angreift, ist die Murga ein Ort, an dem du dich zugehörig fühlst und akzeptiert wirst, wie du bist«, sagt Coco Romero.
Genau deshalb erfahren die Murgas ohne jegliche Werbung beständig einen enormen Zulauf. Selbst die letzte Diktatur in Argentinien von 1976 bis 1983, die den Karneval als Feiertag strich und der Murga den Mund verbot, konnte der Bewegung nichts anhaben. Noch bevor die Zeit der Diktatur endgültig zu Ende ging, trafen sich in Nachbarschaftszentren schon heimlich die Murgueros. Sie lernten wieder, was bei den alten Murgueros in Vergessenheit geraten war. Und sie experimentierten. Heute gibt es neben den typisch traditionellen Murgas der Stadtbezirke auch neue Formen, die zusätzliche Instrumente mit einbringen und Theaterelemente einfließen lassen.
Auf der gesperrten Straße ist inzwischen der letzte Bomboklang verhallt, der Boden übersät mit Bechern, Flaschen und Spraydosen. Weiße Schaumspuren auf schwarzem Asphalt erzählen Geschichten von Schlachten und wilden Verfolgungen. Nur langsam verstreuen sich die Leute, stehen plaudernd noch ein wenig in Grüppchen zusammen. Auf die Knie gestützt atmet Joaquin schwer. Seine Freunde sind erschöpft, aber glücklich. Umarmungen, Küsschen, Schulterklopfen. Auch nach mehr als einer Stunde Tanz lachen sie noch immer. Joaquin richtet sich auf, nimmt das Bombo hoch und wendet sich zum Gehen. »Jetzt weißt du, was die Murga ist«, sagt er. »Spaß, Kritik und eine schöne Nacht. Und«, fragt er noch und wirft sich den durchgeschwitzten Frack über die Schulter, »haben deine Beine gezuckt? Hat dein Herz im Rhythmus des Bombo geschlagen? Dann sehen wir uns wieder«, lacht er, winkt ein Bis-zum-nächsten-Mal und verschwindet augenzwinkernd.
aus: der überblick 02/2005, Seite 52
AUTOR(EN):
Antje Krüger
Antje Krüger arbeitet als freie Journalistin in Berlin mit Schwerpunkt Südamerika und bereist häufig diesen Kontinent.