Notleidenden zu helfen, ist nicht in allen Glaubensgemeinschaften eine moralische Pflicht
Zwischenmenschliche Hilfeleistung ist keineswegs überall selbstverständlich und wird auch keineswegs in allen Staaten als Grundwert oder gar Grundrecht angesehen. Im hinduistischen Karma etwa, dem Gesetz von Tat und Tatfolge, kann jede menschliche Situation nur als Ergebnis eigenen Verschuldens oder Verdienstes in einer Kette von Wiedergeburten gesehen werden. Die so verstandene Eigenverantwortlichkeit scheint den Mitmenschen von aller Hilfeleistung zu entbinden. Der Gedanke, den christlichen Grundwert der Solidarität als Weltethik zu verankern, könnte von manchen Religionen als Provokation aufgefasst werden, als Versuch, christlichen Absolutheitsanspruch durchzusetzen.
von Bernhard Uhde
Wohlfahrtspflege, soziale Sicherung der Bevölkerung, Solidarität mit Schwächeren und Hilfeleistung für Bedürftige sind zweifellos Grundwerte eines modernen Staates. Aber welches Staates? Sind diese Grundwerte allen Religionen und Kulturen gemeinsame Verpflichtung oder sind sie gar nur das Ergebnis eines säkularen postchristlich-abendländischen Selbstverständnisses, das keineswegs globalen Anspruch erheben kann? Ein Streifzug durch die Weltreligionen Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus mag helfen, sich dieser komplexen Fragestellung anzunähern.
Hans Küng hat in seinem berühmt gewordenen Buch "Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft" versucht, einer multireligiös geprägten Erde ein gemeinsames Ethos vorzuschlagen. Diese Wanderung auf dem schmalen Grat zwischen jeweiligem Absolutheitsanspruch von Religionen und pluralistischer Religionstheologie bewegt sich auf einem mehrfach begangenen Pfad, den keineswegs alle Religionen gemeinsam gehen. Es ist der christliche Gedanke, den verschiedenen Religionen gemeinsame ethische Grundüberzeugungen abzugewinnen und diese für den Weltfrieden zu nutzen. Diese Vorstellung wird nicht nur in den erwähnten nichtchristlichen Religionen kaum geteilt, weil sie eben ihren christlichen Ursprung verrate. Sie stößt auch im Christentum selbst in der Debatte um die Vorrangstellung des Christentums vor allen anderen Religionen auf Kritik, etwa innerhalb einer von Karl Barth geprägten protestantischen Theologie oder auch im Umfeld des katholischen Sendschreibens Dominus Jesus des Kardinals Ratzinger.
Und doch hat Papst Johannes Paul II. selbst in seiner Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 2001 das Wissen um "gemeinsame Werte" von Kulturen und Religionen angemahnt und an erster Stelle Solidarität genannt (17. Abschnitt der Botschaft). Diese Solidarität betrifft die Spanne vom Konkreten bis hin zum Globalen, "von der Familie über weitere vermittelnde gesellschaftliche Gruppen bis zur ganzen bürgerlichen Gesellschaft und der staatlichen Gemeinschaft. Die Staaten ihrerseits können nicht umhin, untereinander in Beziehung zu treten: Die gegenwärtige Situation der weltweiten gegenseitigen Abhängigkeit erleichtert es, die Schicksalsgemeinschaft der ganzen Menschheitsfamilie besser wahrzunehmen, und fördert in allen nachdenklichen Menschen die Achtung vor der Tugend der Solidarität" (ebenda).
Damit wird die Globalisierung zum Beweggrund für nationale und internationale Solidarität, ein säkulares Phänomen zur Herausforderung der Religionen und Kulturen. Aber zugleich wird eine "Menschheitsfamilie" impliziert, die in der Orthodoxie anderer Religionen kein Grundgedanke ist, und wiederum wird sogleich die im Falle der päpstlichen Botschaft unbestreitbar christliche Herkunft solcher Postulate deutlich. Ist die dem Judentum fundamentale Unterscheidung des erwählten Volkes von den Völkern ("wohlgeschieden sei...") dabei bedacht? Oder die dem Islam durch Gotteswort aufgetragene Scheidung von Gläubigen und Ungläubigen (Koran 5,51: "Ihr Gläubigen! Nehmt euch nicht die Juden und die Christen zu Freunden!" u.a.)? Oder die vielen indischen und dem Hinduismus prinzipiellen Lehren vom Ständesystem, das auch die Menschen prinzipiell unterscheidet? Und ist vielleicht eine alle Menschen verbindende Solidarität eine Vorstellung, die von der jeweils in gesonderten religiösen Bereichen in einzelnen Staaten geübten Solidarität nur ablenkt, weil sie christliche Werte – die Grundtugenden in Matthäus 25, 35 ff, nämlich die Armenhilfe, Krankenfürsorge und Altersvorsorge – zu allgemeinen Werten erhebt?
Zunächst muss klar sein, dass die vom Christentum geprägten Staaten die christlichen Grundwerte der Solidarität weitgehend zu vom Staat geförderten und betreuten gesellschaftlichen Werten erhoben haben. Wie steht es aber mit Staaten, die durchaus nicht von diesen Werten geleitet sind? Wie also lösen andere Kulturen soziale Probleme, und welche Funktion kommt dabei den jeweiligen Religionen zu?
Ein paar Beispiele mögen das verdeutlichen: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Die bekannte Stelle in der Thora in Levitikus 19,18 ist für das Judentum von zentraler Bedeutung, weil sie Grundlage der Zuwendung zum Bedürftigen ist und damit die Tätigkeit Gottes an allen Menschen entspricht, weshalb die Stelle von den Lehrern in Zusammenhang gebracht wird mit Genesis 5,1: "Ben Azzai sagte: ‘Dies ist das Buch der Familiengeschichte Adams’; das ist ein größerer allgemeiner Grundsatz als jener" (Siphra Kedoshim 4,12). Sich allen Nachkommen Adams zuzuwenden, wenn sie in Not sind, und dadurch die Tugend der Sedaka (ähnlich der Caritas) zu üben, ist ein Grundgebot des Judentums. Eben diese Aufgabe übernimmt, sofern nötig, der moderne Staat Israel oder die jeweilige jüdische Gemeinde. Die solcherart entstehende Solidarität unter den Nachkommen Adams überschreitet die Grenze von Volk und Völkern und gibt auch der Sozialfürsorge des Staates Offenheit gegenüber jedem Hilfsbedürftigen, ohne die religiösen Unterschiede etwa zu vermischen. Was der Staat nicht leisten kann, das übernimmt seit jeher die konkrete Gemeinde, wie dies gemäß Levitikus 19,18 bis heute in der Diaspora, dem Exil, geschieht.
"Die Almosen sind nur für die Armen und Bedürftigen." Dieses Gotteswort im Koran (9,60) gilt für den gesamten Islam. Von Beginn an hat die islamische Religion größten Wert auf die Einheit der Gemeinde gelegt, was nicht zuletzt in der Solidarität der Muslime untereinander deutlichen Ausdruck findet. Die ursprünglich in der Gemeinde als religiöse Pflicht und Tugend geforderte gegenseitige Unterstützung fand früh Eingang in den als große Gemeinde verstandenen islamischen Staat, der eine Fülle sozialer Einrichtungen hervorgebracht hat, um die im koranischen Gotteswort angemahnten Pflichten (siehe Sure 107: Die Hilfeleistung) zu übernehmen. Da die Almosenabgabe oder –steuer zu den fünf Säulen des Islam gehört, die für jeden Gläubigen verpflichtend sind, wird die konkrete Hilfe nicht nur zur Pflicht jedes Gläubigen, sondern auch zur Aufgabe des Staates, der diese Abgabe verwaltet und zur Hilfeleistung nutzt.
Weil der islamische Staat aber als große Gemeinde verstanden werden kann, ist sein Verhältnis zu den "Ungläubigen" auch hinsichtlich von Hilfeleistung unterschiedlich. Allgemeine Aussagen sind nicht möglich, allgemeine Praktiken nicht erkennbar. So wird gerade hier ein grundsätzlicher Unterschied zu Weltethos-Programmen deutlich, es zeigen sich aber auch die sozialen Probleme heutiger islamischer Staaten wie im Fall Sudan. Auch die Nichtzugehörigkeit zur islamischen Gemeinde und die damit verbundene Unterscheidung bezeugt nach islamischer Lehre ja Gottes Willen: "Gott führt irre, wen er will, und er leitet recht, wen er will..." (Koran 14,4). Es wird aufschlussreich sein, inwieweit die staatliche Wohlfahrtspflege liberaler islamischer Staaten diese Schranken überwindet.
"Die nur für Gegenliebe lieben, sind nur auf eigenen Vorteil bedacht." Jener viel zitierte Satz aus einer Lehrschrift des Hinduismus, dem Bhagavatapurana, erscheint als Hinweis auf die reine Liebe zum göttlichen Herrn, aber auch als Motiv allen Handelns. Dieser Satz mag für den Hinduismus – wenn bei der Vielfalt seiner Erscheinungsformen überhaupt von einer Religion gesprochen werden kann – als ungewöhnlich erscheinen, ist doch die damit auch eingeschlossene Zuwendung zum Nächsten indischem Gedankengut eher fremd. Denn gemäß dem überall waltenden und Wiedergeburt begründenden Karma, dem Gesetz von Tat und Tatfolge, kann jede menschliche Situation nur als Ergebnis eigenen Verschuldens oder Verdienstes gesehen werden. Die so verstandene Eigenverantwortlichkeit scheint den Mitmenschen von aller Hilfeleistung zu entbinden. Tatsächlich haben indische Gesellschaftssysteme bis hin zum modernen durch die Engländer beeinflussten Staat nicht selten so gedacht und gehandelt.
Wenn der Mensch nicht als einmalige Person, sondern als Erscheinungsform in der Reihe von Wiedergeburten begriffen wird, sind Nächstenliebe und Solidarität offensichtlich nur durch den Anstoß begründet, bei solchen Akten den eigenen Willen zurückzunehmen, was dem Helfenden zum Vorteil gereicht. Diese Karikatur indischen Hilfedenkens wird durch das Wort des Purana zurechtgerückt, und zögerlich – sehr zögerlich – beginnen auch in Indien staatliche Maßnahmen zur Hilfe für die Schwachen.
Gerade Letzteres macht klar, dass zwischenmenschliche Hilfeleistung keineswegs überall selbstverständlich ist und auch keineswegs in allen Staaten als Grundwert oder gar Grundrecht angesehen wird. Gerade weil die Religion selbst diese Werte nicht an die höchste Stelle setzt, werden sie vom Staat nicht verwirklicht, und eben dies wiederum wird nicht selten religiös begründet.
"Wer mich, ihr Mönche, pflegen würde, der soll den Kranken pflegen." Dies mehrfach überlieferte Wort des Buddha ist für die Ethik des Buddhismus von großer Bedeutung, zeigt es doch nicht allein das Beispiel des Meisters, der selbst einen kranken Mönch gepflegt hatte, sondern auch den Grundzug buddhistischen Hilfeverhaltens: am Beispiel des Buddha die selbstlose Tat lernen, die über die vollkommene Rücknahme des eigenen Willens hinaus das Verwehen, das Nirvana der eigenen Person bewirkt.
So ist die eigene Organisation der Wohlfahrtspflege lange Zeit den Orden und Klöstern anheim gegeben gewesen, bevor die buddhistisch orientierten Staaten deren Funktion übernahmen. Die Klöster sind hier immer noch tätig – nicht selten von Laien unterstü
tzt – die die buddhistischen Grundtugend "Karuna (Mitleid) mit allen Lebewesen" praktizieren. Dieses Gebot überschreitet die Grenzen von Herkunft und Stand und gibt sozialer Zuwendung Raum, wie sie sich auch in staatlicher Wohlfahrtspflege ausdrückt.
In dieser Grobskizze wird bereits erkennbar, dass es nicht überall als Grundwert betrachtet wird, Wohlfahrtspflege für alle Menschen anzustreben. Darüber, was ein Mensch überhaupt ist, gibt es auch sehr unterschiedliche Auffassungen. Folglich wird eine globale Grundwertdiskussion genau hier ansetzen müssen, um von dort aus Strukturen von Hilfeleistung gemäß der jeweiligen religiös-kulturellen Begründung zu entwickeln.
Die "anthropologische Wende" aller Solidarität kann für die Praxis der Zusammenarbeit dienlich sein. Sie sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen den jeweiligen religiösen Grundlegungen und den daraus entstandenen staatlichen Organisationsformen eine Wechselbeziehung besteht. Folglich wird der solidarisch orientierte Staat immer eine religiös-kulturelle Begründung seines Handelns geben können, die in der jeweiligen Religion liegt. Folglich wird auch der nach christlichem Maß weniger auf Solidarität ausgerichtete Staat eben dies aus seinem religiösen Fundament begründen können.
Daraus entsteht nun das Dilemma, dass in religiös-kulturellem Gebiet dort, wo Solidarität und Hilfeleistung Grundwerte sind, Staat und Religion gemeinsam an deren Verwirklichung arbeiten, dort aber, wo dies aus konsequenten religiös-kulturellen Gründen nicht der Fall ist, wird auch der Staat keine solchen Ziele verfolgen. Die Frage, wie bei Versagen des Staates in den armen und ärmsten Ländern der Erde Religion und religiöse Institutionen helfen können, wird zu einer Frage nach christlichen Werten mit globalem Inhalt und damit zu einer Provokation nichtchristlicher Religiosität. Dies zu erkennen, ist der erste Schritt zur Beseitigung sozialen Unrechts auf Erden.
aus: der überblick 01/2001, Seite 32
AUTOR(EN):
Bernhard Uhde :
Der Privatdozent Dr. Dr. Bernhard Uhde lehrt an der Universität Freiburg im Arbeitsbereich Religionsgeschichte an der Theologischen Fakultät über die Prinzipien der Weltreligionen und über Hilfeverhalten und Wohlfahrtspflege in den Weltreligionen.