Ein Vierteljahrhundert war die Nothilfe der Diakonie in Deutschland untrennbar mit Hannelore Hensles Namen verbunden. Nun ist die energische Frau in den Ruhestand gegangen.
von Rainer Lang
Im Büro geht es hektisch zu. Hannelore Hensle hat schließlich noch viel zu erledigen. Die Leiterin der Diakonie Katastrophenhilfe (DKH) geht Ende des Jahres in den Ruhestand. 25 Jahre Hilfe für Menschen in Not und Elend liegen hinter ihr immer wieder Dürren, Erdbeben, Überschwemmungen und Kriege. Hannelore Hensle sitzt am Schreibtisch, und ständig klingelt das Telefon. Sie gibt Anweisungen, bespricht Einsatzpläne und nimmt von vielen Freunden in aller Welt gute Wünsche für die Zukunft entgegen. Dazwischen versucht sie immer wieder, der Flut von E-Mails Herr zu werden. Sie wirkt gehetzt. Wenn es zwischendurch kurz einmal ruhiger wird, scheint auch ein wenig Erleichterung auf, dass sie diesen Stress bald hinter sich hat.
Über etwas freut sie sich inmitten all der Hektik ganz besonders: über eine Einladung nach Somalia. Dort hat sie Anfang der 1980er Jahre, bevor sie die Leitung der DKH übernahm, zwei Jahre lang das Hilfsprogramm aufgebaut. Dabei ist sie des öfteren zwischen die Fronten der Kriegsparteien geraten. Die Gefahr hat Hensle nie geschreckt. Ohne Zögern ist sie immer in Kriegsgebiete gereist, ob nach Äthiopien oder in den Sudan. Mit ihrer energischen Art hat sie damals offenbar die Somalier für sich gewonnen. Hensle erzählt, dass sie sich nie darauf eingelassen habe, Bestechungsgeld zu zahlen, um Hilfsgüter durch den Zoll zu bekommen. Sie sei einfach hartnäckig gewesen. Denn die Spenden sollten möglichst alle den Bedürftigen zugute kommen. Der kompromisslose Einsatz für die Hilfsbedürftigen ist einer der herausragenden Charakterzüge Hensles. Und sie hat nie ein Blatt vor den Mund genommen, wenn sie den Eindruck hatte, dass die Anliegen der Betroffenen nicht genügend berücksichtigt wurden. Ihre manchmal etwas ruppige und direkte Art war bei internationalen Konferenzen durchaus gefürchtet. Mancher ist damit nicht zurechtgekommen, und Hensle hatte auch den Ruf, schwierig zu sein.
Dass sie einen Dickschädel habe, räumt sie schmunzelnd ein. Aber sie hat am Ende immer den Kompromiss gesucht, um optimale Hilfe zu ermöglichen. Besonders die Partner vor Ort haben das geschätzt. Sie haben gemerkt, dass Helfen für Hensle Herzenssache ist. Hilfe müsse von Mensch zu Mensch und unbürokratisch geschehen, sagt sie. Die Basis dafür war Vertrauen. Wenn das ab und zu enttäuscht wurde, hat das Hensle schwer getroffen.
Für sie war es auch immer wichtig, eine Brücke des Vertrauens zu den Spendern zu bauen. Im Anschluss an ihre Reisen in Notgebiete schickte sie treuen Spendern immer Rundbriefe mit ihren persönlichen Eindrücken. Und die waren oft erschütternd zum Beispiel wenn sie aus Nordkorea berichtete, dass hungernde Menschen sich in ihrer Verzweiflung von Blättern und Gras ernährten.
Hensle hat darauf geachtet, dass humanitäre Standards an die Arbeit der Diakonie angelegt werden. Doch sie war auch realistisch genug, um zu sehen, dass im Chaos von Krisengebieten nicht überall diese Standards in gleicher Weise eingehalten werden konnten. Die Praktikerin beobachtet mit Sorge, dass sich die Rahmenbedingungen der Nothilfe stark verändert haben. Heute, so sagt sie, wird sie von Experten mit Fachwissen koordiniert. Man kann aber nicht alles nach theoretischen Kriterien ausrichten, wendet Hensle ein. Sie bezweifelt, dass das immer bedarfsgerecht sei.
Eine neue Zeit sei angebrochen, sagt Hensle. Als eine der zentralen Aufgaben betrachtet sie die Konkurrenz unter einer inzwischen unübersehbaren Zahl von Hilfsorganisationen: Die Verteilkämpfe um Spenden und öffentliche Mittel werden immer härter. Der Druck auf die Hilfsorganisationen, sich öffentlichkeitswirksam darzustellen, nehme ständig zu. Der Schein wird da oft wichtiger als das Sein, kritisiert Hensle. Die Berichterstattung rücke spektakuläre Katastrophen ins Rampenlicht. Sie bedauert, dass die Not in anderen Teilen der Welt darüber allzu oft vergessen wird. Hilfe müsse unabhängig von medialer Aufmerksamkeit bleiben. Vor allem müsse sie unparteiisch sein, weshalb Hensle die zunehmende Vermischung von Hilfe und Militäreinsätzen wie in Afghanistan kategorisch ablehnt. Was wir tun, muss im Einklang damit stehen, was wir nach außen verkaufen, fordert Hensle. Man müsse Stehvermögen zeigen und an den ethisch-moralischen Grundwerten festhalten, auch auf die Gefahr hin, dass das unpopulär sei.
Auch die Arbeit in ihrer engsten Umgebung hat sich verändert. Aus der Ein-Frau-Abteilung ist ein Stab mit mehr als einem Dutzend Mitarbeitern geworden. Verwaltung und Organisation verschlingen heute wesentlich mehr Zeit als früher. Alles im Blick zu haben, wird immer schwieriger. Denn für Hensle war es wichtig, die Projekte und die Partner vor Ort persönlich zu betreuen.
Die Arbeit sei kräftezehrend, räumt sie ein. Da könne man schon mit 62 Jahren aufhören. Die letzten Reserven habe die Tsunami-Katastrophe in Südasien aufgezehrt. Diese habe bis Ende April fast 80 Tage zusätzliche Arbeit gebracht, sagt die erschöpft wirkende Hensle. Einen richtigen Urlaub hat sie schon seit Jahren nicht mehr gemacht. Immer hat es an irgendeiner Ecke der Welt gebrannt, und sie musste ihre Pläne über den Haufen werfen: Sie hat sich ins nächste Flugzeug gesetzt und auf den Weg ins Krisengebiet gemacht. Es kam ihr darauf an, die Situation vor Ort zu kennen. Noch heute ist sie erschüttert davon, was sie 1985, während des Bürgerkrieges in Äthiopien, in den Hungerlagern dort gesehen hat.
Immer wieder haben sie Begegnungen mit Menschen auf ihren Reisen bewegt. In Indien, so erzählt sie, ist sie einem Mann und seinem etwa zehn Jahre alten Sohn begegnet. Als der Junge sich eine Zigarette anzündete, war sie entsetzt und empört und gab dies auch dem Vater zu verstehen. Der antwortete ganz ruhig, dass sein Sohn selbst entscheiden könne, ob er rauche, wenn er in diesem Alter schon arbeiten könne. Die Antwort hat sie nachdenklich gemacht, sagt Hensle. Von der Seite habe sie das noch gar nicht betrachtet, sondern wie selbstverständlich ihre westlichen Maßstäbe angelegt.
Helfen wollte Hannelore Hensle schon immer. Ursprünglich wollte sie Krankenschwester werden. Aber für ihre Ausbildung hatten die Eltern kein Geld. Wir waren arm wie Kirchenmäuse, sagt die gebürtige Freiburgerin. Der Bub sollte studieren, die drei Mädchen aber mussten so schnell wie möglich Geld verdienen. Seit ihrem zwölften Lebensjahr arbeitet sie, betont Hensle: Sie musste nach acht Klassen Volkschule eine ungeliebte Lehre als Kaufmannsgehilfin machen.
Kein Wunder, dass sie mit 15 Jahren ins Ausland gegangen ist. Anderthalb Jahre hat sie als Haushaltsgehilfin in England gearbeitet. Nach ihrer Rückkehr hat sie ihr ursprüngliches Berufsziel weiter verfolgt: Während der Woche hat sie in der Verwaltung der Freiburger Uniklinik gearbeitet, und an den Wochenenden hat sie auf den Stationen ausgeholfen mit Nachtdienst oder Hilfstätigkeiten wie Töpfe leeren und Gaze schneiden. Eines Tages werde sie es schon zur Krankenschwester schaffen, habe sie damals gemeint. Doch als sie miterleben musste, wie ein 16-Jähriger an einem Gehirntumor starb, hat sie gedacht: Das kann ich nicht. Es sei einfach entsetzlich gewesen. Er hat sofort nach meiner Hand gegriffen, wenn ich an sein Bett kam.
Da hat sie sich entschieden, ein Jahr zu ihrer Schwester in die USA zu gehen. Das Geld für die Überfahrt hat sie sich dazuverdienen müssen. Denn ihr Gehalt sei ins Familienbudget eingeflossen. Deshalb hat sie neun Monate lang vor der Bürozeit Zeitung ausgetragen, als Zimmermädchen und Bedienung gearbeitet. In den USA hat sie Mitte der 1960er Jahre die Diskriminierung der Schwarzen miterlebt. Gearbeitet hat sie bei einer jüdischen Familie, deren Angehörige in Auschwitz umgekommen sind und die sich schwer tat mit einer deutschen Haushaltshilfe. Deshalb sei ihr das gute Zeugnis, das sie dort bekommen habe, das wichtigste in ihrem Leben, sagt Hensle heute.
Zum ersten Hilfseinsatz ging es 1969, während des Biafra-Kriegs in Nigeria, nach Sao Tomé. Von dort gab es eine Luftbrücke nach Biafra. Hensle reiste im Dezember aus, im Januar war der Krieg zu Ende. Es folgten Stationen in Angola und Gabun. Von führenden Männern der Diakonie wurde sie damals gefördert. Nach acht Jahren im Südasien-Referat von Brot für die Welt war Hensle drauf und dran zu kündigen, um wieder ins Ausland zu gehen. Da hat Hans-Otto Hahn, der Direktor der Ökumenischen Diakonie, sie 1980 nach Somalia geschickt. Sich in der dortigen Männerwelt durchzusetzen, war eine enorme Leistung.
Eine Erfahrung, die ihr geholfen hat, als sie zwei Jahre später Leiterin der Katastrophenhilfe der Diakonie wurde. Sie hat daraus ein anerkanntes kirchliches Hilfswerk geformt und hat der Nothilfe der Diakonie mit ihrer Geradlinigkeit und Ehrlichkeit ihren Stempel aufgedrückt. Das wurde am Ende auch offiziell gewürdigt: In diesem Jahr erhielt Hensle das Bundesverdienstkreuz.
Jetzt will sie erst einmal durchatmen und Urlaub machen. Aber dass sie gar nichts mehr tut, das kann sich Hensle, die übersprudelt, wenn sie von ihren vielen Erlebnissen erzählt, doch nicht vorstellen.
aus: der überblick 04/2005, Seite 93
AUTOR(EN):
Rainer Lang
Rainer Lang ist Chefredakteur des Nachrichtendienstes epd-Südwest in Stuttgart. Von 1999 bis 2002 war er Öffentlichkeitsreferent von Action by Churches Together (ACT) in Genf, einer weltweiten Allianz von Kirchen und kirchlichen Werken für Katastrophenhilfe.