Warum das Internationale Komitee vom Roten Kreuz so wichtig für die Trauerarbeit ist
Für Menschen gibt es kaum etwas Schlimmeres als einen Angehörigen zu vermissen und nicht zu wissen, ob die geliebte Person noch lebt oder bereits umgekommen ist. Deshalb unterstützt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) Menschen in Nachkriegsgesellschaften bei der Suche nach vermissten Familienmitgliedern. Das IKRK assistiert auch bei der Öffnung von Massengräbern und der Identifizierung von Leichen.
von Marion Lorenz
Dass Krieg nichts mit der virtuellen Vergnügungswelt einschlägiger Videospiele und die Tätigkeit als humanitärer Helfer in Konfliktregionen nichts mit einem nervenkitzelnden Abenteuerurlaub zu tun haben, erfahren die Delegierten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz lange vor ihrem ersten Feldeinsatz. Seit 1992 unterhält das IKRK in seinem Genfer Hauptquartier ein eigenes Team aus Ärzten, Psychologen, Psychiatrieexperten und Krankenschwestern, die sich nur um die Problematik der traumatischen Stress- und Trauerbewältigung in Krisensituationen kümmern. Jeder IKRK-Delegierte durchläuft während seiner Ausbildung eine gezielte Vorbereitung auf die unmittelbare Konfrontation mit Zerstörung, Gewalt, Tod und den daraus resultierenden emotionalen Erschütterungen. Und was anfänglich nur den eigenen Mitarbeitern dienen sollte, hilft inzwischen auch vielen Kriegsopfern: Die sehr spezifischen Erfahrungen des Genfer Stressmanagement-Teams werden an lokale Psychologen weitergegeben, die von Kriegsereignissen traumatisierte Einheimische betreuen.
"Es ist unglaublich wichtig, dass sich ein Mensch, der ein schlimmes, furchtbares Erlebnis im Zusammenhang mit dem Tod hatte, spätestens zwei, drei Tage nach diesem traumatischen Vorfall ganz intensiv mit einer Vertrauensperson ausspricht", erklärt IKRK-Sprecherin Antonella Notari. Die junge Schweizerin berichtet aus eigener, dramatischer Erfahrung: 1992 war sie im Somalia-Konflikt als IKRK-Delegierte unter Rebellenbeschuss geraten. Ihr Verlobter, Rotkreuz-Entsandter in der gleichen Delegation, wurde vor ihren Augen regelrecht hingerichtet. Sie selbst geriet in Gefangenschaft und wurde mehrere Tage unter Todesandrohung in Geiselhaft gehalten.
Ihr half - wie vielen anderen schwer traumatisierten Menschen auch - das so genannte Debriefing: In einem vertraulichen, nach präzisen fachlichen Kriterien geführten Gespräch wird die erschütternde Situation noch einmal nachvollzogen: Was ist passiert? Wie habe ich die Situation erlebt? Wie hat sie eventuell ein anderes Mitglied meiner Gruppe erlebt? Was habe ich in jenem Moment gedacht? Was gespürt? Gerochen, gehört? Und was empfinde ich heute im Rückblick auf dieses Ereignis?
"Ein solches Debriefing", so der Genfer Stress-Experte Niklaus Michel, "ist wie die Desinfektion einer Wunde. Ohne Debriefing kann sich sozusagen ein seelischer Abszess bilden. Trauma- und Trauerbewältigung ist wie das Umschlagen der Seite eines Buches: Liest man ein Buch nicht genau Seite für Seite, sondern will alle Seiten auf einmal umschlagen, dann versteht man am Ende überhaupt nichts mehr."
Nach zwei bis drei Monaten haben die meisten Delegierten ihre schweren Erlebnisse - selbst die eigene Bedrohung mit dem Tod oder sekundäre Traumata wie die miterlebte Ermordung einer anvertrauten Person - verdaut und gehen erneut ins Feld. Relativ selten kommt es zum "Abszess", zum posttraumatischen Stress-Syndrom: Viele Wochen, ja Monate nach dem traumatisierenden Schock brechen die furchtbaren, meist verdrängten Bilder mit Macht wieder auf und überwältigen das Gefühlsleben der betroffenen Person. Depression, Verzweiflung, tiefe Schuldgefühle, Zusammenbruch des Selbstwertgefühls und totale Apathie können die Folge sein. Wenn hier 10 bis 15 Fachgespräche über mehrere Wochen nicht weiterhelfen, empfiehlt das Genfer Stress-Team dem humanitären Helfer intensive Hilfe durch eine Psycho-Therapie. "Das posttraumatische Stress-Syndrom gilt bei uns als Berufskrankheit", so Stress-Manager Michel. "Und dagegen sind unsere Delegierten eigens bei Lloyds versichert."
Dramatisch, ja tragisch wird es, wenn traumatischer Stress mit Todeserlebnissen aufgrund äußerer Umstände nicht verarbeitet und abgeschlossen werden kann. "Es gibt kaum etwas Grausameres für Kriegsbeteiligte als einen Angehörigen zu vermissen und nicht zu wissen, ob die geliebte Person noch lebt oder längst umgekommen ist", berichtet Antonella Notari, die in den neunziger Jahren im Bosnien-Konflikt Kriegsopfer bei der Suche nach vermissten Angehörigen unterstützt und bei der Öffnung von Massengräbern assistiert hat. "Wir haben immer wieder - in allen Konfliktsituationen, in allen Kulturen - erlebt, dass es für einen Menschen leichter ist, die Nachricht vom Tod eines Angehörigen zu akzeptieren als jahrelang über dessen Schicksal im Ungewissen zu bleiben."
Noch heute werden mehrere zehntausend Menschen als Folge des Jugoslawien-Krieges von ihren Familien vermisst. Viele Massaker-Opfern wurden einfach anonym in Massengräbern verscharrt. Die spätere Exhumierung von Leichnamen brachte nicht immer Klarheit. Oft waren die menschlichen Überreste nicht mehr identifizierbar. Das IKRK fotografierte jedoch minutiös alle noch auffindbaren Kleider und persönlichen Gegenstände exhumierter Opfer und veröffentlichte diese Bilder im Book of Belongings. Familien, die diesen Bildband auf der Suche nach vermissten Angehörigen konsultieren wollten, wurde bereits psychologische Hilfe angeboten, bevor sie den ersten Blick auf die Fotos warfen. "Wir haben", so erinnert sich Antonella Notari, "einheimische Psychologen angeheuert und speziell geschult, um den leidenden Familien bei der Bewältigung ihrer Trauer zur Seite zu stehen."
Doch solch fachlicher Beistand ist in den Turbulenzen akuter Konfliktsituationen und in der Not der Nachkriegsphase - wie heute im Irak - meist kaum organisierbar. "Wir müssen auch zugeben", so gesteht der Genfer Stress-Experte Michel ein, "dass unsere Kenntnisse über den Prozess der Trauerbewältigung in anderen Kulturen noch sehr in den Kinderschuhen stecken." Immerhin versucht das IKRK generell bei der Öffnung von Gräbern, der Rückgabe menschlicher Überreste und bei Bestattungen einheimische Verantwortliche und - wo immer möglich - die betroffenen Familien einzubeziehen sowie lokale Traditionen und Rituale zu respektieren.
Denn feste Rituale geben Menschen Halt, wenn ihnen durch Trauma und Trauer der Boden unter den Füßen weggerissen zu werden droht. Ein Rotkreuzdelegierter hatte Anfang der neunziger Jahre im Ruanda-Konflikt mit seinen fast unvorstellbaren Grausamkeiten ein eigenes Ritual entwickelt: "Wenn der Tod mit all seinen Gerüchen um einen herumschleicht, ist es ungeheuer wichtig, sich zu reinigen. Wenn ich morgens eine Dusche nehme, fange ich ein bisschen Duschwasser in einem Plastikbehälter auf. Manchmal weine ich, gebeugt über die Badewanne. Und dann fließen meine Tränen in den Plastikbehälter und vermischen sich mit dem schmutzigen Duschwasser. Und dann gieße ich diesen ganzen Dreck in die Toilette und spüle mein ganzes Leid einfach weg. Danach löst sich die Bitterkeit der Nacht auf und ich kann wieder aufrecht gehen."
Dem heute 60-jährigen Serben Cedomar Maric blieb das so wichtige Trauer-Ritual der Bestattung seines im Jugoslawien-Krieg getöteten Sohnes Zeljko bis heute verwehrt. Zeljko galt seit dem 4. August 1995 als vermisst. Seine Familie weigerte sich, die Möglichkeit seines Todes auch nur in Erwägung zu ziehen. Als das IKRK den ersten Transport freigelassener Kriegsgefangener nach Belgrad eskotierte, stand Vater Cedomar am Straßenrand: "Ich dachte, gleich schließe ich meinen Sohn in die Arme." Aber Zeljko war nicht im ersten Bus. Und auch nicht im zweiten, der einige Wochen später eintraf. Beim dritten Transport hatte der Vater nicht mehr die Kraft hinzugehen. Er schickte seinen Bruder. Doch Zeljko kam nie mehr zurück. Kurze Zeit später veröffentlichte das Kroatische Helsinki Komitee aufgrund von Zeugenaussagen eine Liste getöteter serbischer Soldaten. Und darauf stand auch Zelkjos Name. "Wir sprechen zuhause oft über die Öffnung von Massengräbern und die Exhumierung von Leichen", so Cedomar Maric. "Und darüber, was wir tun werden, wenn wir Zeljkos Körper zurückerhalten, wie wir ihn bestatten werden. Und - glauben Sie es oder nicht - darüber zu sprechen, macht uns glücklich."
Es ist unvorstellbar wichtig, dass alles dafür getan wird, Vermisstenfälle aufzuklären, so Antonella Notari, die ihre Erfahrungen in die internationale Konferenz über Kriegsvermisste im letzten Februar in Genf vortrug. Auch heute im Irak versucht das IKRK, bei Leichenfunden und Graböffnungen möglichst in Zusammenarbeit mit einheimischen Verantwortlichen die menschlichen Überreste und gefundene Gegenstände sicherzustellen, zu fotografieren, Zeugen zu finden, Protokolle aufzunehmen. Nur ganz selten werden zur Identifizierung der Leichname gerichtsmedizinische Methoden wie Zahnabdruck- oder DNA-Analysen angewendet. Sie sind in der Regel einfach zu teuer. Oft - wie im Ruanda-Konflikt mit mehreren hunderttausend Todesopfern - müssen die Leichen schon aus gesundheitlichen Gründen schnellstens begraben werden. Damals verscharrten französische Soldaten mit Bulldozern 20.000 bei den Massakern hingemetzelte und grauenhaft zugerichtete Opfer einfach wie Vieh in der Erde. Diese Soldaten konnten sich später in Frankreich psychotherapeutisch behandeln lassen. Doch die nach ihren vermissten Angehörigen suchenden Familien kommen nicht mehr zur Ruhe. Emilienne Mukarusagara hat im Ruanda-Konflikt sieben Familienmitglieder verloren. Das ist schon über zehn Jahre her. Doch noch heute erklärt sie: "Wenn man den toten Körper nicht sieht und ihn nicht beerdigen kann, bedeutet das ständige Folter. Man kann selbst nicht mehr zwischen Leben und Tod unterscheiden. Und der heilende Prozess der Trauer bleibt einem versperrt."
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ruft in einer gerade veröffentlichten Forderungsliste alle Beteiligten von Kampfhandlungen eindringlich dazu auf, alles zu tun, um das Verschwinden von Kriegsopfern zu verhindern und Vermisstenfälle aufzuklären. Nicht nur im Irak-Krieg sind erneut unzählige Soldaten ohne Erkennungsmarke in den Kampf gezogen. Gerade in den immer häufiger werdenden Bürger- und Untergrundkriegen verzichten Widerstandskämpfer und Rebellen ganz gezielt auf alle Gegenstände, die zu ihrer Identifikation beitragen könnten. Werden sie getötet, beginnen für ihre Angehörigen oft das furchtbare Martyrium des Nicht-Wissens und verzweifelte Jahre des Suchens, in denen sie innerlich nicht mehr zur Ruhe kommen.
Wie ein Mensch auf die traumatisierende Begegnung mit dem Tod reagiert, lässt sich nicht vorhersagen. Barthold Bierens de Haan hat als Begründer des Genfer Stress-Teams das IKRK jahrelang bei der Rekrutierung seiner Kriegs-Delegierten beraten: "Sensibilität, Altruismus und die Fähigkeit, über sich selbst hinaus zu wachsen, können durchaus mit emotionaler Labilität und psychischer Fragilität gekoppelt sein. Persönlichkeiten, die fragil wirken, können unter der enormen Stressbelastung in einer Konfliktzone außergewöhnliche psychische Widerstandskraft entwickeln." Einfühlsame Debriefings, feste Rituale, der enge Beistand nahestehender Menschen sind bei Trauma- und Trauerbewältigung geradezu überlebenswichtig. Talk, Tears and Time - Sprechen, Weinen und Zeit - sind die drei Eckpfeiler, an denen sich laut Genfer Stress-Experten von Trauer gebeugte Menschen langsam wieder aufrichten können. Die erdrückenden, alles beherrschenden Gefühle der Trauerphase umschrieb ein junger Rotkreuzdelegierter in seinem Einsatztagebuch: "Ich sehe eine traurige, graue Landschaft. Die Bäume sind wie Hände ohne Fleisch, die sich in den Wolken festklammern wollen. Keine Blätter mehr, keine Blüten. Alles ist farblos, alles ist leer."
aus: der überblick 02/2003, Seite 83
AUTOR(EN):
Marion Lorenz:
Die frühere NDR-Hörfunk-Redakteurin Marion Lorenz lebt seit zwanzig Jahren als freie Korrespondentin am Sitz der Vereinten Nationen in Genf und berichtet für deutsche Medien schwerpunktmässig über humanitäre Themen und Menschenrechtsfragen.