Rückblicke eines wissenschaftlichen Journalisten und Politikberaters
Alle bedeutenden politischen Philosophen von Aristoteles über Kant und Marx bis Habermas und Höffe haben es gesagt und getan: Sie beschrieben und interpretierten nicht nur das politische Geschehen (res gestae), sondern verstanden und betätigten sich auch als praktische Philosophen, die Ratschläge für die Gestaltung einer – aus ihrer jeweiligen Sicht – "guten Politik" (res gerendae) gaben.
von Franz Nuscheler
"Praktische Wissenschaft", die allen Regeln und Tugenden wissenschaftlichen Arbeitens verpflichtet ist, sich aber nicht im akademischen Elfenbeinturm verstecken will, versucht mittels rational und ethisch begründeter Argumente auf die politische Praxis einzuwirken. Sie tut dies auf verschiedene Weise: Sei es mit programmatischen Schriften, wie es Kants "Ewiger Frieden" war; sei es mit Essays oder Kommentaren in den Medien, die mehr Menschen erreichen, als Vorlesungen oder selbst Bestseller auf dem Buchmarkt, oder sei es beratend in einem der unzähligen wissenschaftlichen Beiräten von Regierungen, einzelnen Ministerien oder Großorganisationen.
Was so harmlos und selbstverständlich erscheinen mag, ist jedoch im akademischen Olymp höchst umstritten, besonders in deutschen Landen. Hier wurde der Werturteilsstreit, der über die Streitfrage geführt wurde, ob die Wissenschaft überhaupt wertende Urteile fällen darf, besonders heftig ausgetragen. Die wissenschaftstheoretischen Positivisten und Puristen in den Sozialwissenschaften konnten sich auf den soziologischen Klassiker Max Weber berufen, der in seiner berühmten Rede über "Politik als Beruf" den politischen Moralisten und Gesinnungsethikern nachdrücklich anempfahl, den akademischen Katheder nicht mit einer Kirchenkanzel zu verwechseln.
Immanuel Kant hatte im Anhang zum "Ewigen Frieden" vor "politischen Moralisten" gewarnt, allerdings mit dem wichtigen erklärenden Zusatz, falls sie sich ihre Moral so schmieden, wie es der "Vorteil des Staatsmannes sich zuträglich findet". Dies war keine Kritik an moralisch argumentierenden Philosophen – wie Kant selbst einer war –, sondern eine Absage an den moralisch korrumpierten politischen Opportunismus, der den "politischen Moralisten" damals nicht fremd war und heute nicht fremd ist.
Übrigens darf man nicht nur lesen, was Max Weber in der oben genannten Rede gesagt hat, sondern man muss auch seine politischen Schriften lesen, in denen er kräftig wertete und polemisierte. Die wissenschaftstheoretische Kritik am Positivismus hat die intellektuelle Lebenslüge einer wertfreien Wissenschaft überzeugend offen gelegt.
Es gehört jedoch noch immer zu den unrühmlichen Untugenden des Wissenschaftsbetriebes, dass er mit selbstgerechten Wahrheitsansprüchen Urteile fällt, was gute Wissenschaft ist, wer ein guter Wissenschaftler oder eine gute Wissenschaftlerin ist. Solcher Streit wird häufig in hinter verschlossenen Türen tagenden Kommissionen ausgetragen, die über akademische Karrieren entscheiden.
Dann kann es der Karriere höchst abträglich sein, wenn ein Bewerber oder eine Bewerberin auf eine akademische Position nicht nur in "referierten" Zeitschriften, sondern etwa auch im "überblick" oder in einem anderen Journal publiziert hat, das nicht zu den auserwählten Fachzeitschriften zählt. Allein der Publikationsort und nicht die Qualität eines Beitrages kann dazu führen, dass der Vorwurf der "Populärwissenschaft" erhoben wird, der für jüngere Wissenschaftler mit Ambitionen auf höhere akademische Weihen fatal sein kann. Die Rückwirkungen dieser externen und häufig undurchsichtigen Qualitätskontrolle auf den Lehrbetrieb und auf die wissenschaftliche Ausbildung sind erheblich und erzeugen auch bei Lehrenden und Forschenden verunsichernde Schizophrenien.
Präventiv müssen "Doktoreltern" ihren Nachwuchs davon abhalten, im Bewerbungsstadium so zu schreiben, wie sie selbst schreiben dürfen. Wer auf einem Lehrstuhl sitzt, darf – wie Iring Fetscher – auch Märchenbücher schreiben, wer aber noch etwas werden möchte, muss sich sehr davor hüten, mal einen Beitrag ohne Dutzende von Fußnoten und in einer leserfreundlichen Sprache zu Papier zu bringen. Iring Fetscher wurde Autor eines – mit einem Preis ausgezeichnetes – Jugendbuches über das weltweite Flüchtlingsproblem, das ihm möglicherweise vor der Berufung auf einen Lehrstuhl, die nur durch große DFG-Projekte zustande kam, zum Verhängnis geworden wäre.
Jetzt wurde dem bestallten Ordinarius die gnädige Anerkennung zuteil, dass er auch "für das Volk" schreiben könne.
Was kennzeichnet denn eine als minderwertig gescholtene "Populärwissenschaft"? Wer sich als Wissenschaftler zu einem flüchtigen und gedanklich seichten Schnellschuss hinreißen lässt, produziert auch keine "Populärwissenschaft", sondern eben unwissenschaftliches Zeug. Auch das abwertende Prädikat der Populärwissenschaft kann sich ein Autor nur dann verdienen, wenn er versucht, wissenschaftliche Erkenntnisse in eine Sprache und nachvollziehbare Gedankenführung zu übersetzen, die nicht nur kleine elitäre Zirkel verstehen können.
"Populär" meint nicht oberflächlich, sondern auch für Nicht-Spezialisten verständlich. Guter politischer Journalismus ist deshalb im besten Sinne "populärwissenschaftlich", weil er häufig – wie Essays von Jürgen Habermas in der "Zeit" oder von Lothar Brock im "überblick" – mehr kluge Gedanken enthält, als manche "referierten" Produkte in irgendwelchen Fachzeitschriften. Die Sprache der Wissenschaftler und ihre nicht seltene Unfähigkeit, komplizierte Sachverhalte und Zusammenhänge in eine verständliche Sprache zu übersetzen, bauen Kommunikationsbarrieren auf und versperren Zugänge zu Wissensbeständen.
Hier können Journale wie "der überblick", die sich sowohl um eine wissenschaftliche Fundierung der Beiträge als auch um eine leserfreundliche Sprache bemühen, Brücken des Verstehens bauen. Diese Leistung verdient es nicht, als "populärwissenschaftlich" abqualifiziert zu werden, wenn man unter diesem Prädikat etwas Minderwertiges versteht. Zu den Untugenden des Wissenschaftsbetriebes gehört auch ein gehöriges Maß an Arroganz. Im Übrigen pflegen mit dem Vorwurf der "Populärwissenschaft" auch nur jene um sich zu schlagen, denen das Kunststück misslingt, zugleich klug und verständlich zu schreiben.
Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, mit soliden Methoden und intersubjektiv nachprüfbaren Argumenten Sachverhalte zu analysieren und Zusammenhänge zu erklären, aber es ist nicht ihr angeborenes Privileg, sich in einem öffentlich finanzierten Elfenbeinturm zu verkriechen. Sie hat vielmehr gegenüber der Gesellschaft, die sie alimentiert, eine Bringschuld und eine Verantwortung. Auch die klügsten Philosophen verstanden sich nicht als freischwebende Intellektuelle.
Wissenschaft und guter Journalismus sind kompatibel. Es gibt besonders in den Geistes- und Sozialwissenschaften einen Streit darüber, ob sich Wissenschaftler auch als Journalisten betätigen dürfen, um ihr Wissen "unter das Volk" zu bringen. Ein Gründungsvater der deutschen Politikwissenschaft und Meister der politischen Publizistik war Dolf Sternberger. Er gab durch sein Lebenswerk eine überzeugende Antwort auf diese Streitfrage. Er residierte wie ein Patriarch auf seinem Heidelberger Lehrstuhl, an dem viele akademische Karrieren heranwuchsen, erzielte aber vor allem durch seine Kommentare im Hessischen Rundfunk und als Leitartikler in der "Frankfurter Allgemeine Zeitung" politische Wirkung.
Er, der auch Präsident des Pen-Clubs war, wurde vor allem durch den meisterhaften Umgang mit der Sprache berühmt, die sich geradezu besessen der scientistischen Rabulistik verweigerte (die wir Nachwuchswissenschaftler jedoch aufgreifen und uns aneignen mussten, um anderswo bewerbungsfähig zu sein). Er lieferte den Beleg, dass auch tiefschürfende Gedanken, zum Beispiel zum Problem der Legitimität oder zum Begriff des Friedens, so formuliert werden können, dass sie auch der bekanntlich kluge FAZ-Leser verstehen konnte; dass sich Klugheit auch in der Sprache manifestieren konnte.
Dolf Sternberger war für den Autor dieses Beitrages nicht nur der akademische Lehrer und Doktorvater, sondern auch der Kronzeuge für die Überzeugung, dass Wissenschaft mit einem seriösen Journalismus kompatibel ist, noch mehr, dass sie den Journalismus braucht, um ihre Erkenntnisse nicht im Elfenbeinturm verstauben zu lassen. Guter Journalismus, um den sich der "überblick" bemühte, braucht die Fundierung im wissenschaftlichen Erkenntnisstand und zugleich die Fähigkeit, das Wissen sprachlich so zu verarbeiten, dass es nicht nur elitären Zirkeln zugänglich ist.
Noch einmal und mit allem Nachdruck: Das Bemühen, sich verständlich zu machen, hat nichts mit einer minderwertigen "Populärwissenschaft" zu tun. Sie disqualifiziert sich als solche durch dünne Inhalte, unlogische Argumente und schlampige Sprache.
Für den Ruf eines Wissenschaftlers kann auch gefährlich werden, wenn er sich auf die Politikberatung einlässt, also auf den Versuch, mit seinem Wissen auf die Gestaltung der Politik in einem der vielen Politikbereiche einzuwirken. Natürlich sind alle WissenschaftlerInnen, die sich in Beiräte berufen lassen, davon überzeugt, etwas Sinnvolles zu wollen und zu tun, das sich auch mit ihrem Berufsethos vereinbaren lässt. Bei der Einschätzung und Selbsteinschätzung ihres Einflusses auf die politische Praxis gehen aber die Erfahrungen und Meinungen weit auseinander.
Der Autor sammelte Erfahrungen in verschiedenen Beratungsgremien, unter anderem in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur "Globalisierung der Weltwirtschaft", im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung zu globalen Umweltveränderungen (WBGU) und im Zukunftsrat von Nordrhein-Westfalen. Er fand besonders in der Enquete-Kommission eine Bestätigung eines Kommentars in der "Süddeutschen Zeitung" (vom 19./20. Januar 2002) zur Rolle der wissenschaftlichen "Besserwisser": "Was der Wissenschaftler indessen besser weiß, oder besser zu wissen glaubt als die Politiker, bleibt weitgehend ungehört."
Dies gilt zum Beispiel auch für den Wissenschaftlichen Beirat bei dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), dessen Stellungnahmen nicht einmal in allen Abteilungen des Ministeriums gelesen, geschweige denn umgesetzt werden. Manche Wissenschaftler, die sich mit dem Politikbereich des BMZ beschäftigen, wählen deshalb, um in der entwicklungspolitischen Öffentlichkeit gehört zu werden, den Umweg über die "NGO-Szene" und über die entwicklungspolitische Publizistik.
Wenn dem Autor ein Thema wichtig ist, wie zum Beispiel die institutionelle Ausgestaltung der "globalen Strukturpolitik" oder die Reform der Welthandelsorganisation (WTO), beteiligt er sich an Initiativen und Aktionen von VENRO, Germanwatch oder Misereor und schreibt im "überblick" oder in "eins", weil er gelernt hat, auf diesem Weg eher die ihm wichtige Gemeinde zu erreichen oder das Gehör von Entscheidungsträgern zu finden, als durch noch so inhaltsschwere wissenschaftliche Expertisen.
Viele sehr gute entwicklungswissenschaftliche Dissertationen und Habilitationsschriften verstauben in Fachbibliotheken, weil sich die AutorInnen nicht darum bemüht haben, sich auch in die entwicklungspolitische Publizistik einzubringen. Die entwicklungspolitischen Entscheidungsträger lesen nicht, was die Entwicklungswissenschaften in häufig langjährigen Forschungen an Theorie und Empirie hervorbringen, sondern allenfalls Konzentrate in den entwicklungspolitischen Periodika. Diese fungieren auch hier als vermittelnde Brücke zwischen der Wissenschaftsproduktion, den Praktikern der Entwicklungszusammenarbeit und der entwicklungspolitisch interessierten Öffentlichkeit. Keine "referierte" Fachzeitschrift leistet diese wichtigen Vermittlungsdienste, zumal im deutschen Sprachraum nur noch wenige entwicklungswissenschaftliche Fachzeitschriften überlebten.
Die persönliche Bilanz nach fast dreißigjähriger politiknaher Entwicklungsforschung und Politikberatung ist die folgende: Wissenschaftler, die sich auch als Politikberater betätigen, geben sich allzu bereitwillig der Illusion hin, mit ihrem Rat auch die praktische Politik beeinflussen oder gar verbessern zu können. Die Politik pickt sich aus all den wissenschaftlich aufbereiteten Expertisen und Ratschlägen nur das heraus, was sie zur Rechtfertigung ihres Handelns brauchen kann.
Wir wissen aus US-amerikanischen Untersuchungen, dass etwa 80 Prozent der teilweise teuren Gutachten politische Entscheidungen nicht vorbereiten helfen, sondern bereits getroffene Entscheidungen nachträglich legitimieren sollen. Diese Erkenntnis kann man mit großer Wahrscheinlichkeit auch auf das Consulting-Wesen in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit übertragen werden. Häufig erreicht der auf einem persönlichen Vertrauensverhältnis beruhende Rat mehr als der institutionalisierte Rat von Beiräten, auch wenn ihm wissenschaftliche Koryphäen angehören.
Die wissenschaftliche Politikberatung muss eine ständige Gratwanderung bestehen, den Kampf zwischen Unabhängigkeit und politischer Vereinnahmung durchstehen und sich im akademischen Umfeld auch noch gegen den Verdacht wehren, sich der Politik anzudienen. So geschah es, als das Duisburger Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) das Konzept von Global Governance erarbeitete und dann die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages dieses Konzept – unter kräftigem Zutun des Autors – zum Königsweg bei der politischen Gestaltung der Globalisierung erklärte. Es ist schon grotesk, dass die Wissenschaft in Misskredit gerät, wenn die Politik ausnahmsweise ihre Vorschläge aufgreift. Hier gibt es ziemlich typisch deutsche Verkrampfungen, die dem unverkrampften Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik in den angelsächsischen Ländern völlig fremd ist – zum Vorteil der Wissenschaft und der politischen Praxis.
Der Politologe Werner Weidenfeld, ein "Zirkuspferd auf dem Beraterparcours", entdeckte diese Verkrampfungen in unterschiedlichen Rationalitäten: Die Wissenschaft verfolge eine Systemrationalität, die sich mit den situativen Problemlösungen der Politik nur schwer vereinbaren lasse. Die politischen Entscheidungsträger wollen nicht hören, was sich hinter einem Problem in theoretischen Tiefenschichten verbirgt, sondern wie Problemlösungen aussehen. Dann ist die "praktische Wissenschaft" gefordert, die sich nicht auf ihre ganz andere Rationalität berufen kann, um sich nicht mit dem Vorwurf der "brotlosen Kunst" konfrontiert zu sehen.
Die wissenschaftlichen Ratgeber erkennen in der Regel schnell, dass sie nur eine Alibifunktion ausüben. Warum machen sie dennoch mit? Das Bedürfnis des Ego, als Ratgeber gefragt zu werden, überwindet alle Skrupel, zumal sich die Universitäten und Institute mit der öffentlichen Präsenz ihrer Angehörigen zu schmücken pflegen. Es ist auch viel Eitelkeit im Spiel. Die Gutachtertätigkeit im stillen Kämmerlein ist finanziell häufig lohnender, aber die Mitgliedschaft in einem wichtigen Beirat dient dem Bedürfnis eines homo politicus, irgendwie mitmischen zu können, doch weit mehr.
Der Politikberater kann am Ende selbst nur schwer beurteilen, was seine Beratertätigkeit wirklich bewirkt hat. Auf jeden Fall profitieren die Studierenden davon, dass das akademische Trockenschwimmen durch mehr Realitätsnähe angereichert wird. Es bleibt dennoch fraglich, ob sich der zeitliche Aufwand gelohnt hat. Ein Artikel im "überblick" hätte zumindest einige Frustrationen vermeiden können.
aus: der überblick 04/2007, Seite 70
AUTOR(EN):
Franz Nuscheler
Franz Nuscheler ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft. Von 1990 bis Mai 2006 war er Direktor des Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF).