ENTWICKLUNGSDEBATTE IN DEN KIRCHEN
Wir stehen vor großen weltweiten Herausforderungen, wir haben gelernt, daß Armut im wesentlichen strukturelle und nicht individuelle Ursachen hat und wir haben die Möglichkeit, neue Koalitionen und Allianzen einzugehen mit gesellschaftlichen Gruppen und Akteuren im Süden, im Osten und im Norden. Der kirchliche Entwicklungsdienst arbeitet im Forum Weltsozialgipfel, im Forum Umwelt und Entwicklung mit und befaßt sich mit dem Investitionsverhalten von Ölmultis, weil wir die Möglichkeit sehen, Politikfelder mitzugestalten, in denen es wesentlich um die Lebenschancen von Menschen in südlichen und östlichen Ländern und um Armutsbekämpfung geht.
von Heiner Knauss, Evangelische Zentrale für Entwicklungshilfe
Die Frage, die wir immer wieder neu beantworten müssen, ist die nach dem effektiven und effizienten Einsatz knapper Mittel. Das, was für Lobby- und Advocacy-Arbeit bei uns gilt, gilt wenigstens ebensosehr für unsere Partner: Das Streben nach Effektivität und Effizienz bestimmt auch Projektanträge, die immer häufiger vom klassischen Muster technischer Hilfe abweichen und uns zwingen, uns mit politischen Zusammenhängen in den Ländern und Gesellschaften zu befassen, in denen unsere Partnerorganisationen arbeiten.
Kirchliche Entwicklungsarbeit und Kirche insgesamt beziehen ihr Mandat, das sie auf die Menschen verweist, aus dem biblischen Auftrag, wie er am dichtesten in der Bergpredigt formuliert ist. Die Einheit von Zeugnis und Dienst beschäftigt viele von uns in diesen übergangszeiten. Das Besondere kirchlicher Entwicklungsarbeit liegt darin, daß sie die Möglichkeit hat, Menschen ganzheitlich, das heißt in ihren sozialen, wirtschaftlichen kulturellen und religiösen Vollzügen, zu begegnen, zu begreifen und anzusprechen. Wenn uns dann noch deutlich wird, daß weder Entwicklungs- noch Missionswerke noch Personaldienste in unserer Kirche um ihrer selbst willen bestehen, dann kann es gelingen, näher zusammenzurücken.
Ich bin für das zentrale Gemeinschaftswerk Evangelischer Entwicklungsdienst EED, weil ich Aufgaben auf uns zukommen sehe, die ein Gemeinschaftswerk besser bewältigen kann, als das die getrennten Werke in der Vergangenheit getan haben. Aber ich bin auch dafür, die gewachsenen Strukturen menschlicher Begegnungen und Engagements zwischen Menschen verschiedener Kontinente und Hautfarben auf Gemeindeebene zu erhalten. Das Dilemma, das ich allerdings nicht für unlösbar halte, besteht darin, daß wir die Professionalität unserer Stäbe verbessern und gleichzeitig das Engagement der Kirchenmitglieder stützen und erhalten müssen, von deren überzeugung es letztlich abhängt, welcher Stellenwert dem Entwicklungsdienst in der Kirche zugeteilt wird. Beides ist verlangt: Professionalität und Engagement.
Was kirchlichen Entwicklungsdienst wesentlich von der Arbeit anderer nichtstaatlicher Organisationen unterscheidet, ist seine Einbettung in die weltweite Ökumene. Wir wissen, wie stark die Fähigkeiten zu menschlicher Gemeinschaft und zum Teilen von materiellen und nicht materiellen Gütern etwa in den Gemeinden Ostafrikas oder den Basisgemeinden Südamerikas ausgebildet ist. Und wir alle spüren, daß es in diesen Kirchengemeinden für uns etwas neu zu lernen gilt, das wir für unser Leben brauchen und das uns verlorengegangen zu sein scheint.
Die Ökumene kann - etwa in der Gestalt des ÖRK - darüberhinaus zu einem wichtigen Akteur werden, wenn es darum geht, auf der internationalen Bühne in Verhandlungen mit der Weltbank dazu beizutragen, daß die beiden wichtigen Themenbereiche "Entschuldung" und "Armutsbekämpfung" so miteinander verknüpft werden, daß Ergebnisse erzielt werden, die die Lebenssituation von Menschen verbessern.
Ich habe von meinen Kolleginnen gelernt, daß es sehr sinnvoll ist, über die Unterschiede zwischen eher weiblichen und eher männlichen Verhaltensmustern nachzudenken und daß das auch für die Entwicklungszusammenarbeit und ihre Organisation unabdingbar ist. Meine Kollegin Edda Kirleis hat dazu formuliert: "Das Konzept, das dem Gender-Begriff unterliegt, geht davon aus, daß gesellschaftliche Normen und Gruppenbildungen sozial, wirtschaftlich, politisch, kulturell usw. konstruiert sind, also veränderbar... Die Konstruktion von Identitäten in aus-schließlichen Gegensätzen wird durch eine Genderperspektive in Frage gestellt... Auch in der Entwicklungszusammenarbeit stoßen wir auf ein Denken in Gegensätzen, daß sich in unseren Arbeitsabläufen und Strukturen manifestiert. Die Diskussion um den EED bietet die Möglichkeit, diese Gegensätze zu hinterfragen und zu einer ganzheitlichen Perspektive zu kommen. Dazu gehört die Infragestellung des Gegensatzes Nord/Süd oder Inland/Ausland. Hier hieße eine Genderperspektive, die Synergieeffekte von Norden und Süden zu vereinen, den Norden im Süden und den Süden im Norden wahrzunehmen. Weitere Gegensätze sind Nehmer/ Geber,Entscheidungsträger/Ausführende, Vorstand/Arbeitsebene. Ein ganzheitlicher Ansatz baut auf Elemente wie Teamgeist, partizipative Prozesse, Integration von allgemeinen Arbeitsbereichen und spezifischem Fachverstand."
Mit der Gründung des EED werden uns zusätzliche Möglichkeiten der Gestaltung unserer Arbeit in die Hand gegeben. Es bietet sich jetzt die Chance, festgefahrene Strukturen und Verfahren zu überwinden und unterschiedliche Erfahrungen und Methoden so zusammenzubinden, daß die Arbeit noch erfolgreicher wird. Welche neuen Ziele sich der Entwicklungsdienst setzen will und wie wir alte und neue Ziele erreichen wollen, darüber muß innerhalb der Kirchen und der Ökumene diskutiert werden. Ich hoffe, daß die Gemeinschaftsaufgabe "Kirchlicher Entwicklungsdienst" wieder stärker zu einem innerkirchlichen Thema und dadurch auch das Bewußtsein der Landeskirchen für ihre weltweite Verantwortung wachgehalten wird.
Auszüge aus einem Statement im Rahmen einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum zum Thema: Neuer Realismus als Utopie? - Der Entwicklungsdienst der Kirchen in der globalen Transformation vom 6.-8.12. 1999
aus: der überblick 01/2000, Seite 125